Arbeitnehmer, Frist für Antragsveranlagung, Wiedereinsetzung: Hat ein Steuerpflichtiger die Frist für den Antrag auf Veranlagung gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ohne Verschulden nicht gekannt, kann ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sein. - Urt.; BFH 22.5.2006, VI R 51/04; SIS 06 37 20
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) ist ein auf dem Gebiet des gewerblichen
Rechtsschutzes tätiger Rechtsanwalt. Er war im Streitjahr 1997
bei einer Sozietät angestellt.
Der Beklagte und Revisionskläger (das
Finanzamt - FA - ) veranlagte den Kläger für die Jahre
1994 bis 1996 zur Einkommensteuer. Dabei berücksichtigte es
neben den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit auch
negative Einkünfte aus Kapitalvermögen und in den Jahren
1994 und 1995 Verluste aus selbständiger Arbeit. Im Rahmen der
Einkommensteuerveranlagung für 1996 kam es zu einem
Schriftwechsel zwischen den Beteiligten. Auf Anfrage des FA
erklärte der Kläger mit Schreiben vom 23.2.1999, er habe
weder im Streitjahr 1997 noch im Jahr 1998 Einkünfte aus
selbständiger Arbeit bezogen.
Dem Kläger wurden im Rahmen der
allgemeinen Versendung von Erklärungsvordrucken für das
Streitjahr die Vordrucke für die Einkommensteuererklärung
übersandt. Das FA forderte den Kläger zur Abgabe der
Einkommensteuererklärung für das Streitjahr auf. Mit
Schreiben vom 23.3.1999 drohte das FA die Festsetzung eines
Zwangsgelds an, sollte der Kläger die Steuererklärung
nicht bis zum 22.4.1999 einreichen. Der Kläger gab die
Steuererklärung am 6.3.2000 ab. Das FA lehnte den Antrag auf
Veranlagung zur Einkommensteuer ab, da er nicht innerhalb der
Antragsfrist gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) eingegangen sei. Der Kläger
legte hiergegen Einspruch ein und beantragte gleichzeitig
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung trug er
im Wesentlichen vor, er habe die Ausschlussfrist für den
Antrag auf Veranlagung nicht gekannt. Er habe aufgrund des
vorangegangenen Verhaltens des FA auch keinen Anlass gehabt, sich
über den Lauf irgendwelcher von der Finanzbehörde nicht
erwähnter Fristen zu informieren. Nach den Hinweisen in der
Zwangsgeldandrohung habe der Kläger nur davon ausgehen
können, dass ihm die Verhängung eines Zwangsgeldes und im
schlimmsten Fall die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen
drohe.
Das Finanzgericht (FG) gab der nach
erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage statt (vgl. SIS 04 15 62).
Der Kläger habe die am 31.12.1999 abgelaufene Ausschlussfrist
des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG schuldlos versäumt, so dass
ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei. Der
Kläger habe glaubhaft versichert, die Ausschlussfrist nicht
gekannt zu haben. Es gereiche dem Kläger nicht zum Nachteil,
dass er Volljurist sei. Denn er gehöre nicht zu den auf dem
Gebiet des Steuerrechts tätigen berufsmäßigen
Vertretern. Für die Frage des Verschuldens komme dem Verhalten
des FA bis zum Ablauf der Ausschlussfrist entscheidende Bedeutung
zu. Nach dem Schreiben des Klägers vom 23.2.1999 habe
festgestanden, dass kein Grund mehr für eine Amtsveranlagung
gegeben sei. Dennoch habe das FA später ein Zwangsgeld zur
Abgabe der Einkommensteuererklärung angedroht. In dieser
Verfügung sei die Verpflichtung zur Abgabe der
Steuererklärung ausdrücklich hervorgehoben worden. Als
Sanktion sei nur die Festsetzung eines Zwangsgeldes und die
Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, nicht aber ein
Ausschluss vom Veranlagungsverfahren angedroht worden. Selbst wenn
der Kläger die Anleitung zur Steuererklärung zur Kenntnis
genommen hätte, so wären die dortigen, allgemein
gehaltenen Ausführungen aus der Sicht des Klägers
überlagert worden durch das Verhalten des FA im
Einzelfall.
Mit der Revision trägt das FA vor, im
Zeitpunkt der mit der Zwangsgeldandrohung verbundenen Aufforderung
zur Abgabe der Steuererklärung sei für das FA nicht
erkennbar gewesen, dass die Veranlagung nur auf Antrag
durchzuführen sei. Dies habe erst nach Eingang und
Prüfung der Einkommensteuererklärung sicher
festgestanden. Der Aufforderung zur Abgabe der
Einkommensteuererklärung und der Zwangsgeldandrohung sei nur
zu entnehmen, dass das FA prüfen wolle, ob eine Pflicht zur
Durchführung einer Veranlagung bestehe. Dem FA könne auch
der unterbliebene Hinweis auf den drohenden Ablauf der Antragsfrist
nicht zum Nachteil gereichen. Es liege in der Sphäre des
Steuerpflichtigen, wenn ihm durch Unterlassen eines fristgerechten
Antrags Vorteile in Form einer Steuererstattung entgehen
würden. Den Kläger treffe hinsichtlich der
Fristversäumnis ein Verschulden, da er den in der
„Anleitung zur Einkommensteuererklärung“
enthaltenen Hinweis auf die Fristgebundenheit der
Antragsveranlagung nicht hinreichend zur Kenntnis genommen habe.
Die Antragsfrist existiere seit mehr als 30 Jahren. Auch vor diesem
Hintergrund sei ein Irrtum darüber, dass Antragsveranlagungen
fristgebunden seien, nicht entschuldbar.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision des FA ist unbegründet
und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO)
zurückzuweisen. Das FG hat das FA zu Recht verpflichtet, den
Kläger für das Streitjahr zur Einkommensteuer zu
veranlagen.
1. Besteht das Einkommen ganz oder teilweise
aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen
ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, wird eine Veranlagung nur
unter den in § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 8 EStG genannten
Voraussetzungen durchgeführt. Nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG
wird die Veranlagung durchgeführt, wenn sie beantragt wird.
Der Antrag ist gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG
bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten
Kalenderjahrs durch Abgabe einer Einkommensteuererklärung zu
stellen.
Im Streitfall hat der Kläger innerhalb
der Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG, die mit
Ablauf des Jahres 1999 endete, keinen Antrag auf Veranlagung
gestellt. Die Einkommensteuererklärung für das Streitjahr
ging dem FA erst am 6.3.2000 zu.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs
(BFH) führt auch weder die Übersendung von
Erklärungsvordrucken noch die Aufforderung zur Abgabe von
Steuererklärungen oder die Festsetzung eines Zwangsgelds zur
Erzwingung der Einkommensteuererklärung zu einer
Verlängerung der Ausschlussfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8
Satz 2 EStG (vgl. BFH-Urteile vom 8.5.1979 VIII R 78/77, BFHE 128,
210, BStBl II 1979, 676 = SIS 79 03 43, und vom 14.3.1989 I R
77/85, BFH/NV 1991, 311).
2. Dem Kläger ist wegen Versäumung
der Antragsfrist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu
gewähren, wie das FG zutreffend erkannt hat.
a) Die Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8
Satz 2 EStG ist eine Ausschlussfrist, bei deren Versäumung
nach § 110 der Abgabenordnung (AO 1977) Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand gewährt werden kann (vgl. zu § 46 Abs.
2 Satz 2 EStG 1977 und 1979 bereits BFH-Urteile vom 29.9.1988 IV R
217/85, BFHE 155, 94, BStBl II 1989, 196 = SIS 89 04 56, und in
BFH/NV 1991, 311, sowie zu § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG:
BFH-Beschluss vom 4.11.2004 VI B 104/04, BFH/NV 2005, 326 = SIS 05 12 19).
Gemäß § 110 Abs. 1 AO 1977 ist
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand
ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist
einzuhalten. „Ohne Verschulden“ verhindert, eine
gesetzliche Frist einzuhalten, ist jemand dann, wenn er die
für einen gewissenhaft und sachgemäß handelnden
Verfahrensbeteiligten gebotene und ihm nach den Umständen
zumutbare Sorgfalt beachtet hat (vgl. BFH-Urteile vom 9.8.2000 I R
33/99, BFH/NV 2001, 410 = SIS 01 58 02; vom 4.3.1998 XI R 44/97,
BFH/NV 1998, 1056, und vom 11.8.1993 II R 6/91, BFH/NV 1994, 440).
Wegen unverschuldeten Rechtsirrtums kann nach ständiger
Rechtsprechung des BFH Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
gewährt werden, wenn sich der Irrtum auf die Frist selbst oder
die Form der Fristwahrung bezieht (BFH-Urteile vom 29.7.1954 V
50/54 U, BFHE 59, 212, BStBl III 1954, 290 = SIS 54 01 70; vom
8.3.1957 VI 117/55 U, BFHE 64, 509, BStBl III 1957, 190 = SIS 57 01 25; vom 9.3.1961, V 76/59, HFR 1961, 160; vom 28. April/1.9.1961
III 77/59 U, BFHE 74, 120, BStBl III 1962, 45 = SIS 62 00 27; vom
3.7.1986 IV R 133/84, BFH/NV 1986, 717, und vom 14.9.1999 III R
78/97, BFHE 189, 273, BStBl II 2000, 37 = SIS 99 24 48).
Irrtümer über das Wesen einer Ausschlussfrist oder
über materielles Recht begründen dagegen eine
Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht; denn in diesen
Fällen kann dem Steuerpflichtigen oder seinem Berater
zugemutet werden, von den Verfahrensrechten in der gebotenen Weise
Gebrauch zu machen bzw. sich hierüber zu informieren
(BFH-Urteile in BFH/NV 1986, 717, und in BFHE 189, 273, BStBl II
2000, 37 = SIS 99 24 48). Zur Gewährleistung eines effektiven
Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes dürfen
die Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für die
Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den
hierfür maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt
werden. Im Zweifel verdient diejenige Interpretation eines Gesetzes
den Vorzug, die eine Entscheidung über die materielle
Rechtslage ermöglicht und nicht erschwert (vgl. Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 2.9.2002 1 BvR 476/01, BStBl II 2002,
835 = SIS 02 98 77, m.w.N.).
b) Nach diesen Grundsätzen ist die
Entscheidung der Vorinstanz, der Kläger sei ohne Verschulden
an der Einhaltung der Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz
2 EStG gehindert gewesen, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Der Kläger hat zur Überzeugung des FG glaubhaft
versichert, die Frist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG nicht
gekannt zu haben. Damit befand sich der Kläger in einem Irrtum
über die Frist selbst, wie das FG zutreffend entschieden
hat.
Ob der Steuerpflichtige unter den gegebenen
Umständen ohne Verschulden gehandelt hat, ist im Wesentlichen
Tatfrage. Die Würdigung des FG, den Kläger treffe
hinsichtlich des Irrtums über die Antragsfrist kein
Verschulden, ist möglich. Sie verstößt weder gegen
Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze, so dass der Senat
hieran mangels zulässiger und begründeter
Revisionsrügen gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden
ist. Entgegen der Auffassung des FA hat die Vorinstanz die Frage,
ob der Kläger die Antragsfrist ohne Verschulden versäumt
hat, nicht offen gelassen. Vielmehr hat das FG die
Fristversäumnis ausdrücklich als unverschuldet bewertet.
Zur Begründung hat das FG im Wesentlichen darauf abgestellt,
dass der Kläger auf Grund der Androhung des Zwangsgelds zur
Erzwingung der Einkommensteuererklärung schuldlos angenommen
habe, er sei zur Abgabe der Steuererklärung verpflichtet. Ein
Verschulden des Klägers hat das FG insbesondere deshalb
verneint, weil in der Zwangsgeldandrohung als Sanktion im Falle der
Nichtabgabe der Steuererklärung neben der Festsetzung des
Zwangsgelds nur auf die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen
hingewiesen worden war, nicht aber auf den Ausschluss vom
Veranlagungsverfahren. Diese Würdigung des FG ist von Rechts
wegen nicht zu beanstanden. Sie kann revisionsrechtlich nicht
dadurch in Frage gestellt werden, dass das FA seine eigene,
abweichende Würdigung an die Stelle der Würdigung des FG
setzt. Mit dem Einwand des FA, der Kläger habe die
Antragsfrist aus der Anleitung zur Einkommensteuererklärung
kennen müssen, hat sich das FG auseinander gesetzt. Es hat
insoweit darauf abgestellt, dass die allgemein gehaltenen
Ausführungen in der Anleitung aus der Sicht des Klägers
durch das Verhalten des FA im Einzelfall überlagert worden
seien. Auch diese tatrichterliche Würdigung begegnet
revisionsrechtlich keinen durchgreifenden Bedenken.
Auf die Frage, ob das FA im Zeitpunkt der
Zwangsgeldandrohung wusste, dass kein Fall der Amtsveranlagung
vorlag, kommt es nicht an. Ebenso ist es unerheblich, ob die
Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung und die
Zwangsgeldandrohung ermessensfehlerfrei waren. Bei dieser Sachlage
kann im Streitfall auch dahin stehen, ob die Antragsfrist des
§ 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG mit dem Grundgesetz
überhaupt vereinbar ist.