Kindergeld-Ablehnung, keine Änderung wegen BVerfG-Entscheidung: 1. Hat die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für das abgelaufene Kalenderjahr wegen Überschreitens des Grenzbetrages nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG bestandskräftig abgelehnt, bleibt die Bestandskraft dieses Bescheids durch eine spätere Entscheidung des BVerfG unberührt, nach der im Wege verfassungskonformer Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG die Einkünfte des Kindes um die von ihm gezahlten Arbeitnehmerbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung zu mindern sind. - 2. Nach § 70 Abs. 4 EStG kann ein die Festsetzung von Kindergeld ablehnender Bescheid nur geändert oder aufgehoben werden, wenn er vor Beginn oder während des Kalenderjahres als Prognoseentscheidung über die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr ergangen ist, nicht aber, wenn die Festsetzung von Kindergeld für ein abgelaufenes Kalenderjahr abgelehnt worden ist. - Urt.; BFH 28.6.2006, III R 13/06; SIS 06 38 92
I. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) hat einen im Jahr 1978 geborenen Sohn, der am
1.9.2000 eine Ausbildung zum Informationselektroniker begann. Im
Jahr 2002 erzielte der Sohn einen Bruttoarbeitslohn in Höhe
von 4.605 EUR. Sein Arbeitnehmeranteil am
Gesamtsozialversicherungsbeitrag betrug 962,60 EUR. Die
Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und
Arbeitsstätte erklärte der Kläger mit 2.298,40 EUR.
Ferner bezog der Sohn in diesem Jahr eine Halbwaisenrente in
Höhe von 1.764,72 EUR sowie eine Berufsausbildungsbeihilfe in
Höhe von 3.613,81 EUR.
Im Juni 2003 beantragte der Kläger
für seinen Sohn Kindergeld u.a. für das Jahr 2002. Mit
Bescheid vom 5.8.2003 lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte
(Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes für die Zeit
vom 1. Januar bis zum 31.12.2002 ab, weil die Einkünfte und
Bezüge des Sohnes mehr als 7.188 EUR betragen hätten
(§ 32 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 2 des
Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2002 geltenden
Fassung - EStG - ). Die Familienkasse ging dabei von
Einkünften und Bezügen des Sohnes in Höhe von
7.505,12 EUR aus. Der Bescheid wurde nicht angefochten.
Am 29.7.2005 beantragte der Kläger
für seinen Sohn erneut Kindergeld für das Jahr 2002. Nach
dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11.1.2005
2 BvR 167/02 (BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28) seien die
Sozialversicherungsbeiträge nicht auf die
Ausbildungsvergütung des Sohnes anzurechnen, so dass für
das Jahr 2002 ein Kindergeldanspruch bestehe. Mit Bescheid vom
8.8.2005 lehnte die Familienkasse den Antrag des Klägers ab.
Einer erneuten Entscheidung unter Berücksichtigung des
Beschlusses des BVerfG in BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28 stehe die Bestandskraft des Bescheides vom 5.8.2003 entgegen.
Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab
(vgl. SIS 06 19 47). Es führte im Wesentlichen aus, einer
Änderung der Kindergeldfestsetzung für das Jahr 2002
stehe die Bindungswirkung des Bescheids vom 5.8.2003 entgegen. Auch
die Korrekturvorschriften des § 70 Abs. 2 bis 4 EStG und der
§§ 172 ff. der Abgabenordung (AO 1977) seien nicht
einschlägig.
Der Kläger rügt mit seiner
Revision sinngemäß die Verletzung des § 70 Abs. 2
und Abs. 4 EStG.
Er ist der Auffassung, der Bescheid sei
nach § 70 Abs. 2 EStG zu ändern, da die Vorschrift
diejenigen Sachverhalte betreffe, in denen nachträglich
festgestellt werde, dass der Bescheid von Anfang an rechtswidrig
gewesen sei. Der Bescheid sei auch nach § 70 Abs. 4 EStG zu
ändern, da die Norm nach ihrem eindeutigen Wortlaut keine
Prognoseentscheidung voraussetze.
Der Kläger beantragt
sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung und des
Bescheides der Familienkasse vom 8.8.2005 in der Fassung der
Einspruchsentscheidung die Familienkasse zu verpflichten, ihm
Kindergeld für seinen Sohn für das Jahr 2002 zu
zahlen.
Die Familienkasse beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und nach
§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO)
zurückzuweisen.
Das FG hat zu Recht entschieden, dass der vom
Kläger begehrten Festsetzung von Kindergeld für das Jahr
2002 die Bestandskraft des Bescheids vom 5.8.2003 über die
Ablehnung der Festsetzung von Kindergeld für diesen Zeitraum
entgegensteht und dieser Bescheid insoweit nicht nach § 70
Abs. 2 bis 4 EStG oder nach §§ 172 ff. AO 1977 zu
ändern ist.
1. Der Anspruch des Klägers auf
Kindergeld für seinen Sohn wurde für das Jahr 2002 mit
Bescheid vom 5.8.2003 bestandskräftig abgelehnt.
a) Der Bescheid ist nicht gemäß
§ 125 AO 1977 nichtig. Zwar ist der Bescheid rechtswidrig. Der
Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG war im Jahr 2002
nicht überschritten, da die gesetzlichen
Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung von den
Einkünften des Sohnes abzuziehen waren. § 32 Abs. 4 Satz
2 EStG ist nach dem Beschluss des BVerfG in BFH/NV 2005, Beilage 3,
260 = SIS 05 30 28 verfassungskonform so auszulegen, dass nicht nur
Bezüge, sondern auch Einkünfte des Kindes nur dann in den
Jahresgrenzbetrag der Vorschrift einfließen, wenn sie zur
Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder
geeignet sind. Die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge
sind nicht zur Bestreitung des Unterhalts bestimmt, da sie von
Gesetzes wegen dem Einkünfte erzielenden Kind oder dessen
Eltern nicht zur Verfügung stehen und deshalb keine Entlastung
bei den Eltern bewirken.
Der Bescheid stand indes zum Zeitpunkt seines
Ergehens im Einklang mit der Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG durch den Bundesfinanzhof (BFH), wonach der Arbeitslohn nicht
um die gesetzlichen Arbeitnehmerbeiträge zur
Sozialversicherung zu kürzen ist (vgl. BFH-Urteil vom
4.11.2003 VIII R 59/03, BFHE 204, 126, BStBl II 2004, 584 = SIS 04 05 45, m.w.N.). Ein Bescheid, dessen Rechtswidrigkeit allein auf
der unterschiedlichen Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist aber
nicht nichtig (BFH-Urteil vom 21.3.1996 XI R 36/95, BFHE 179, 563,
BStBl II 1996, 399 = SIS 96 13 26). Dies gilt auch, wenn der
Bescheid aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung einer
Rechtsnorm rechtswidrig geworden ist.
b) Der Bescheid ist bestandskräftig, da
der Kläger dagegen nicht innerhalb der Monatsfrist des §
355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 Einspruch eingelegt hat. Dem Bescheid
kommt für das Jahr 2002 Bindungswirkung zu, da die Festsetzung
von Kindergeld darin nach sachlicher Prüfung des
Kindergeldanspruchs ausdrücklich für den Zeitraum
1.1.2002 bis 31.12.2002 abgelehnt wurde; der Umfang der
Bindungswirkung eines Bescheides ergibt sich aus seinem
Regelungsgehalt (vgl. BFH-Urteil vom 25.7.2001 VI R 78/98, BFHE
196, 253, BStBl II 2002, 88 = SIS 01 13 65). Der Beschluss des
BVerfG in BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28 lässt die
Bestandskraft dieses Bescheids analog § 79 Abs. 2 Satz 1 des
Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG)
unberührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bleiben
vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2 BVerfGG oder
einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr anfechtbaren
Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG
für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt. Die
Vorschrift gilt analog, wenn das BVerfG - wie im Streitfall -
lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem
Grundgesetz erklärt hat (vgl. Beschluss des BVerfG vom
6.12.2005 1 BvR 1905/02, DStR 2006, 108).
2. Der Bescheid vom 5.8.2003 ist nicht
aufzuheben bzw. zu ändern. Ein Kindergeldbescheid kann nur
aufgehoben bzw. geändert werden, soweit eine
Korrekturvorschrift die Aufhebung bzw. Änderung zulässt.
Nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d AO 1977 darf ein
Steuerbescheid, soweit er nicht vorläufig oder unter dem
Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist, - abgesehen von den in
§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a bis c AO 1977
bestimmten und im Streitfall nicht einschlägigen Fällen -
nur aufgehoben oder geändert werden, soweit dies sonst
gesetzlich zugelassen ist; die §§ 130 und 131 AO 1977
gelten nicht. Steuerbescheid ist der nach § 122 Abs. 1 AO 1977
bekannt gegebene Verwaltungsakt. Dazu zählt auch die volle
oder teilweise Freistellung von einer Steuer und die Ablehnung
eines Antrags auf Steuerfestsetzung (§ 155 Abs. 1 Sätze 1
bis 3 AO 1977). Die für die Steuerfestsetzung geltenden
Vorschriften sind auf die Festsetzung einer Steuervergütung
sinngemäß anzuwenden (§ 155 Abs. 4 AO 1977). Das
Kindergeld wird gemäß § 31 Satz 3 EStG als
Steuervergütung monatlich gezahlt (vgl. BFH-Urteil vom
23.11.2001 VI R 125/00, BFHE 197, 387, BStBl II 2002, 296 = SIS 02 04 78).
a) Die Korrekturvorschriften des § 70
Abs. 2 und Abs. 3 EStG sind im Streitfall nicht anwendbar, weil sie
nicht für Bescheide gelten, mit denen - wie im Streitfall -
eine Kindergeldfestsetzung abgelehnt oder aufgehoben wird
(BFH-Urteil vom 21.1.2004 VIII R 15/02, BFH/NV 2004, 910 = SIS 04 22 49, unter 6.a, m.w.N.). Doch selbst wenn man zu Gunsten des
Klägers davon ausginge, dass § 70 Abs. 2 und 3 EStG im
Streitfall grundsätzlich anwendbar wären, wäre der
Bescheid vom 5.8.2003 nicht nach diesen Vorschriften zu
ändern.
Nach § 70 Abs. 2 EStG ist die Festsetzung
des Kindergeldes aufzuheben oder zu ändern, soweit sich die
für den Anspruch auf Kindergeld erheblichen Verhältnisse
ändern. Die Aufhebung oder Änderung erfolgt mit Wirkung
vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse.
Eine Änderung der Verhältnisse i.S.
des § 70 Abs. 2 EStG ist die Änderung der
tatsächlichen oder auch rechtlichen Verhältnisse des
Anspruchsberechtigten oder des Kindes (BFH-Urteil vom 25.7.2001 VI
R 18/99, BFHE 196, 260, BStBl II 2002, 81 = SIS 01 14 41). §
70 Abs. 2 EStG ist daher nicht anwendbar, wenn die Familienkasse
das Recht von Anfang an fehlerhaft angewandt hat (vgl. Bergkemper
in Herrmann/Heuer/Raupach, § 70 EStG Anm. 13; Felix, in:
Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 70 Rdnr. C 7).
Der Beschluss des BVerfG in BFH/NV 2005,
Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28 hat indes nicht die rechtlichen
Verhältnisse des Klägers oder seines Sohnes
geändert, sondern nur die zum Zeitpunkt der Ablehnung der
Kindergeldfestsetzung bereits bestehende Rechtslage festgestellt.
Die Familienkasse hat im Streitfall mithin das Recht von Anfang an
fehlerhaft angewandt (so auch Helmke in Helmke/ Bauer,
Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung,
§ 70 EStG Rz. 12).
Nach § 70 Abs. 3 EStG käme im
Streitfall eine rückwirkende Änderung wegen materieller
Fehler des Bescheids schon deshalb nicht in Betracht, weil nach
§ 70 Abs. 3 Satz 2 EStG mit Wirkung ab dem auf die Bekanntgabe
der Neufestsetzung oder der Aufhebung der Festsetzung folgenden
Monat neu festgesetzt oder aufgehoben wird. Nach § 70 Abs. 3
EStG kann eine Festsetzung infolgedessen nur mit Wirkung für
die Zukunft aufgehoben bzw. geändert werden.
b) Auch die Voraussetzungen des § 70 Abs.
4 EStG sind im Streitfall nicht erfüllt. Nach § 70 Abs. 4
EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern,
wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und
Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG
über- oder unterschreiten. Die Vorschrift setzt voraus, dass
die zu korrigierende Kindergeldfestsetzung vor Beginn oder
während eines Kalenderjahres als Prognoseentscheidung
über die Höhe der Einkünfte und Bezüge des
Kindes im Kalenderjahr ergangen ist (so auch Helmke in
Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, a.a.O., § 70 EStG
Rz. 18.2). Dieses Erfordernis ist dem Wortlaut des § 70 Abs. 4
EStG zwar nicht unmittelbar zu entnehmen, folgt indessen aus der
Systematik und dem Zweck der Vorschrift.
Für die Auslegung einer
Gesetzesvorschrift ist der in ihr zum Ausdruck kommende
objektivierte Wille maßgebend, so wie er sich aus dem
Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt
(vgl. BFH-Urteil vom 29.3.2001 IV R 49/99, BFHE 195, 257, BStBl II
2001, 437 = SIS 01 08 56, m.w.N.). § 70 Abs. 4 EStG soll nach
der Gesetzesbegründung sicherstellen, dass die Festsetzung von
Kindergeld für ein volljähriges Kind nach Ablauf des
Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und
Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4
Satz 2 EStG entgegen einer früheren Prognose der Familienkasse
überschreiten oder entgegen der Prognose nicht
überschreiten (vgl. BTDrucks 14/6160, S. 14).
Die Korrekturmöglichkeit ist
erforderlich, weil das Kindergeld im Laufe des Kalenderjahres
monatlich gezahlt wird, ein Anspruch darauf aber entfällt,
wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes nach Ablauf des
Kalenderjahres den Jahresgrenzbetrag (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG) übersteigen (Senatsurteil
vom 15.12.2005 III R 82/04, BFH/NV 2006, 1008 = SIS 06 16 46). Ob
der Jahresgrenzbetrag überschritten wird, entscheidet sich
erst im Laufe des Kalenderjahres.
Insoweit besteht ein grundlegender Unterschied
zu feststehenden Tatbestandsmerkmalen wie etwa der
Haushaltszugehörigkeit eines Kindes oder dessen Ausbildung.
Über das Vorliegen oder Nichtvorliegen solcher feststehender
Tatbestandsmerkmale kann die Behörde jederzeit befinden und
somit die Leistung des Kindergeldes stets zeitnah den
tatsächlichen Verhältnissen anpassen. Ob die
Einkünfte und Bezüge eines Kindes hingegen den
Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
überschreiten, kann sich im Laufe eines Kalenderjahres
unterschiedlich darstellen und regelmäßig erst nach
Ablauf des Jahres abschließend geprüft werden (vgl.
BFH-Urteil vom 26.7.2001 VI R 55/00, BFHE 196, 270, BStBl II 2002,
86 = SIS 01 13 66).
§ 70 Abs. 4 EStG soll deshalb nur die
Korrektur von Kindergeldfestsetzungen, die vor Beginn oder
während eines Kalenderjahres als Prognoseentscheidung ergehen,
ermöglichen. In diesen Fällen ist zum Zeitpunkt der
Festsetzung noch ungewiss, ob der Jahresgrenzbetrag
überschritten wird, gleichwohl ist die Familienkasse gehalten,
das Kindergeld monatlich auszuzahlen. Nach Ablauf des
Kalenderjahres steht hingegen die Höhe der dem Kind
zugeflossenen Einkünfte und Bezüge des Kindes fest.
§ 70 Abs. 4 EStG ist damit im Streitfall
nicht einschlägig, da der Bescheid über die Ablehnung der
Festsetzung von Kindergeld für das Jahr 2002 erst nach Ablauf
dieses Jahres ergangen ist. Die Frage, ob § 70 Abs. 4 EStG die
Aufhebung bzw. Änderung der Kindergeldfestsetzung auch dann
ermöglicht, wenn sich lediglich die rechtliche Beurteilung des
der Prognoseentscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalts
geändert hat, bedarf im Streitfall daher keiner
Entscheidung.
c) Auch die Voraussetzungen der in Betracht
kommenden Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO 1977,
die auf Kindergeldbescheide gemäß § 155 Abs. 4 AO
1977, § 31 Satz 3 EStG sinngemäß anzuwenden sind
und zu § 70 Abs. 2 bis 4 EStG nicht im Verhältnis der
Spezialität oder Subsidiarität stehen (vgl. BFH-Urteil in
BFHE 196, 260, BStBl II 2002, 81 = SIS 01 14 41, sowie Greite in
Korn, § 70 EStG Rz. 13), sind im Streitfall nicht
erfüllt.
Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sind
Steuerbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen aufzuheben oder zu
ändern, soweit nachträglich Tatsachen oder Beweismittel
bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und
den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass
die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt
werden. Tatsache i.S. des § 173 AO 1977 ist, was Merkmal oder
Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann,
also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften
materieller oder immaterieller Art. Keine Tatsachen sind dagegen
rechtliche Schlussfolgerungen, insbesondere juristische Wertungen
und Subsumtionen oder eine geänderte Rechtsauffassung der
Finanzverwaltung, d.h. eine andere rechtliche Wertung bereits
bekannter Tatsachen (vgl. BFH-Urteil vom 20.12.1988 VIII R 121/83,
BFHE 156, 339, BStBl II 1989, 585 = SIS 89 16 44, m.w.N.). Der
Beschluss des BVerfG in BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28
ist danach keine neue Tatsache, da er lediglich zu einer von der
bisherigen Rechtsprechung des BFH abweichenden rechtlichen
Beurteilung der bereits bekannten Tatsache der Zahlung von
Sozialversicherungsbeiträgen durch den Sohn des Klägers
führt.
Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977
ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern,
soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die
Vergangenheit hat. Ein rückwirkendes Ereignis i.S. von §
175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 liegt vor, wenn sich nach Ergehen
eines Steuerbescheids der rechtserhebliche Sachverhalt in der Weise
ändert, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor
verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist
(BFH-Beschluss vom 19.7.1993 GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993,
897 = SIS 93 23 33). Eine andere rechtliche Beurteilung des
unverändert bleibenden Sachverhalts genügt insoweit nicht
(BFH-Urteil vom 19.8.1999 IV R 73/98, BFHE 190, 5, BStBl II 2000,
18 = SIS 99 24 30, m.w.N.). Eine Gerichtsentscheidung ist daher nur
dann ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Nr.
2 AO 1977, wenn sie den Tatbestand, an den das Steuergesetz
anknüpft, rückwirkend verändert (BFH-Urteil vom
2.8.1994 VIII R 65/93, BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264 = SIS 95 08 53, unter 2. a bb, m.w.N.). Der Beschluss des BVerfG in BFH/NV
2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28 führt im Streitfall
indessen nur zu einer anderen rechtlichen Beurteilung des
unverändert bleibenden Sachverhalts der Zahlung von
Sozialversicherungsbeiträgen.