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Unvollständige Einspruchsentscheidung, Rechtsbehelfsfrist

Unvollständige Einspruchsentscheidung, Rechtsbehelfsfrist: Fehlt eine Seite der Einspruchsentscheidung und wird dies vor Ablauf der regulären Klagefrist gerügt, so endet die Klagefrist erst einen Monat nach Bekanntgabe der fehlenden Seite. - Urt.; BFH 25.7.2007, III R 15/07; SIS 08 00 20

Kapitel:
Rechtsbehelfe > Klageverfahren
Fundstellen
  1. BFH 25.07.2007, III R 15/07
    BStBl 2008 II S. 94
    LEXinform 0588147

    Anmerkungen:
    zur Veröffentlichung in BStBl II bestimmt nach BMF-Online vom 11.1.2008
    F.B. in BB 1-2/2008 S. 36
    T.C. in DStZ 3/2008 S. 61
    erl in StuB 1/2008 S. 40
Normen
[FGO] § 47 Abs. 1, § 54 Abs. 2
[AO 1977] § 122 Abs. 2
Vorinstanz / Folgeinstanz:
  • vor: FG Bremen, 25.10.2006, SIS 07 29 52, Kindergeld, Klagefrist, Wiedereinsetzung, Wohnsitz

I. Der 1988 geborene Sohn des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) wurde von seiner Mutter im Jahr 1995 widerrechtlich nach Chile entführt und kehrte erst 2003 zurück. Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) hob deshalb Kindergeldfestsetzungen auf, und zwar gesondert für 1995 - insoweit wurde ihr Aufhebungsbescheid vom Sozialgericht aufgehoben - sowie für den hier streitigen Zeitraum ab Januar 1996.

 

Die Familienkasse wies den Einspruch des Klägers gegen den Aufhebungsbescheid als unbegründet zurück. Die Einspruchsentscheidung vom 17.5.2004 wurde dem ehemaligen Prozessbevollmächtigten bekannt gegeben. Dieser bestätigte der Familienkasse den Eingang mit Fax vom 3.6.2004 und teilte mit, in seinem Exemplar fehle die Seite 3; er bitte, ihm diese umgehend zukommen zu lassen. Die Familienkasse übersandte mit einem Anschreiben vom 7.6.2004 vorab per Fax sowie im Nachgang per Post einen Mehrabdruck der Seite 3 der Einspruchsentscheidung und bat, das versehentliche Fehlen zu entschuldigen.

 

Das Finanzgericht (FG) wies die am 28.6.2004 eingegangene Klage als unzulässig ab (vgl. SIS 07 29 52). Der Kläger habe mit seinem pauschalen Vortrag, die Einspruchsentscheidung sei erst am 27.5.2004 bei ihm eingegangen, die gesetzliche Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) nicht erschüttert und somit die einmonatige Klagefrist versäumt, welche drei Tage nach dem 17.5.2004 und, weil der 20. Mai auf Himmelfahrt gefallen sei, am 21.5.2004 begonnen und am 21.6.2004 geendet habe. Das Fehlen der Seite 3 der Einspruchsentscheidung, die der Kläger erst am 7.6.2004 per Telefax erhalten haben wolle, rechtfertige eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht. Dabei könne offen bleiben, ob § 126 Abs. 3 FGO, wonach die Versäumung der Einspruchsfrist als unverschuldet gelte, wenn einem Verwaltungsakt die erforderliche Begründung gefehlt habe, auch bei einer Versäumung der Klagefrist angewandt werden könne. Denn § 126 Abs. 3 AO sei nicht einschlägig, da von den dreieinhalb Seiten der Einspruchsentscheidung nach dem Vortrag des Klägers lediglich eine Seite gefehlt habe. Er habe somit die tragenden Gründe der Einspruchsentscheidung nachvollziehen und diese zur Wahrung der Klagefrist anfechten können. Da der Kläger die Rechtsauffassung der Familienkasse bereits aus dem vorangegangenen Schriftverkehr gekannt habe, sei das Fehlen einer Seite für die Versäumnis der Klagefrist nicht ursächlich gewesen.

 

Mit der Revision rügt der Kläger Verfahrensfehler. Das FG habe sich zu Unrecht auf die Fiktion des § 122 Abs. 2 AO gestützt, ohne festzustellen, wann die - unvollständige - Einspruchsentscheidung tatsächlich versandt worden sei. Dies wäre erforderlich gewesen, da der Zugang am 21.5.2004 substantiiert bestritten worden sei. Bei Zweifeln hätte das FG die angebotene Zeugin vernehmen müssen, die den Bescheid persönlich am 27.5.2004 entgegengenommen habe. Die Klagefrist sei auch nicht bereits durch die unvollständige, sondern erst durch den Zugang der vervollständigten Einspruchsentscheidung in Gang gesetzt worden. Mit der Seite 3 habe ein Drittel der Einspruchsentscheidung gefehlt. Entgegen der Ansicht des FG könne ihm, dem Kläger, nicht zugemutet werden, die vorherige Korrespondenz heranzuziehen, um sich zusammenzureimen, was die Behörde gewollt haben könnte; sie könne ihre Rechtsauffassung oder deren Begründung auch abgewandelt haben.

 

Der Kläger beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

 

Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen, hilfsweise, das FG-Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

 

II. Die Revision führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

 

Der Kläger hat die Klagefrist nicht versäumt.

 

1. Die Monatsfrist für die Erhebung einer Anfechtungsklage beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf (§ 47 Abs. 1, § 54 Abs. 2 FGO). Die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf in diesem Sinne ist die vollständige Einspruchsentscheidung.

 

a) Der Wortlaut des § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO - „Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf“ - deutet nicht darauf hin, dass bereits die Bekanntgabe von Teilen der Einspruchsentscheidung die Klagefrist beginnen lässt. Zwar wird das Erfordernis der Vollständigkeit der Einspruchsentscheidung in § 47 Abs. 1 FGO nicht ausdrücklich genannt, während einige Prozessordnungen wie z.B. § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO, § 517 der Zivilprozessordnung (ZPO) und § 66 Abs. 1 des Arbeitsgerichtsgesetzes (ArbGG) im Gegensatz zu § 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Rechtsmittelfristen ausdrücklich erst nach Zustellung des vollständigen Urteils beginnen lassen. Dies erlaubt aber nicht den Schluss, dass an die Vollständigkeit der Einspruchsentscheidung in § 47 Abs. 1 FGO geringere Anforderungen zu stellen sind, denn die Bezugnahme auf vollständige Urteile in den Prozessordnungen beruht darauf, dass Urteile zwar u.a. einen Tatbestand, Entscheidungsgründe und eine Rechtsmittelbelehrung enthalten müssen (z.B. § 105 Abs. 2 FGO), aber auch ohne diese Bestandteile der Geschäftsstelle übergeben werden (z.B. § 105 Abs. 4 Satz 2 FGO) und im Zivilprozess auch ohne Tatbestand und Entscheidungsgründe ausgefertigt werden können (§ 317 Abs. 2 Satz 2 ZPO).

 

b) Die Auslegung, dass die Klagefrist erst mit der Bekanntgabe der vollständigen Einspruchsentscheidung beginnt, ist auch aus Gründen der Rechtssicherheit geboten.

 

aa) Wird die Einspruchsentscheidung ohne das Blatt übermittelt, auf der sich die Unterschrift befindet, so fehlt es - außer wenn eine Unterschrift z.B. in Massenverfahren nicht vorgesehen ist (§ 365 Abs. 1, § 119 Abs. 3 Satz 2 AO) - an der durch § 366 AO vorgeschriebenen Schriftform (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 2.3.2000 VII B 137/99, BFH/NV 2000, 1344 = SIS 00 60 22, m.w.N., - fehlende, die Unterschrift enthaltende Seite eines fristwahrenden Schriftsatzes - ; Sächsisches FG, Urteil vom 20.9.2002 1 K 665/02, juris = SIS 03 38 66, - fehlende Unterzeichnung der Klagschrift - ; Gräber/ v. Groll, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 64 Rz 19; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 366 AO Rz 28 und Rz 184). Die Klagefrist kann durch sie deshalb nicht in Gang gesetzt werden.

 

bb) Fehlt die erste Seite eines Einspruchsbescheids mit Rubrum (erlassende Finanzbehörde, Adressat, Gegenstand der Entscheidung) und Tenor (Entscheidungssatz) und ist infolgedessen nicht zu erkennen, welche Finanzbehörde den Bescheid erlassen hat, so ist er nichtig (§ 125 Abs. 2 Nr. 1 AO). Eine „Nicht-Entscheidung“ wäre auch dann anzunehmen, wenn die erlassende Finanzbehörde zwar erkennbar wäre, Gegenstand und Entscheidung aber nur aus den übermittelten Gründen erraten oder rekonstruiert werden könnten.

 

cc) Gesetzlich bestimmte Fristen dienen wie die Regelungen über die Bestandskraft in erster Linie dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit (Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 47 FGO Rz 17, m.w.N.). Beginn und Ende der jeweiligen Frist müssen daher aus dem Gesetzestext klar und eindeutig zu erkennen sein (Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 108 AO Rz 11, m.w.N.; Schwarz, AO Kommentar, § 108 Rz 1).

 

Dies verbietet es, bei einer unvollständig bekanntgegebenen Einspruchsentscheidung den Beginn der Klagefrist davon abhängig zu machen, ob die erste, die letzte oder eine mittlere Seite fehlt, ob es sich bei den fehlenden Seiten um einen inhaltlich wesentlichen (z.B. die tragenden Gründe der Ablehnung) oder weniger wichtigen Teil (z.B. die Wiedergabe des vorangegangenen Schriftwechsels oder der Rechtsansicht des Einspruchsführers) handelt oder ob - gemessen am gesamten Umfang - ein großer oder ein kleiner Teil der Entscheidung übermittelt wurde.

 

dd) Der Senat setzt sich mit dieser Auffassung nicht in Widerspruch zum BFH-Beschluss vom 4.8.1998 VIII B 107/97 (juris). Dort hatte das Finanzamt (FA) die Einkommensteuer in der Einspruchsentscheidung neu berechnet und vermerkt, dass die kassenmäßige Abrechnung in Form einer Anlage zur Einspruchsentscheidung in Kürze erfolgen werde. Der BFH hat dazu ausgeführt, das FA habe nicht eine unvollständige Einspruchsentscheidung nachträglich inhaltlich ergänzt, da die Anrechnung bzw. Abrechnung von Steuern ein eigenständiger Verwaltungsakt sei, der unabhängig von der Einkommensteuerfestsetzung mit eigenen Rechtsmitteln angegriffen werden müsse; die Frist zur Erhebung der Anfechtungsklage (§ 47 Abs. 1 Satz 1 FGO) beginne auch dann mit der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung, wenn die Abrechnung dazu nachträglich bekanntgegeben werde.

 

ee) Die Bekanntgabe einer unvollständigen Entscheidung ist nicht mit der Zustellung eines vollständigen, aber - z.B. durch einen Fehler beim Druck oder durch Wassereinwirkung - teilweise unleserlichen Urteils gleichzusetzen (vgl. Landesarbeitsgericht Berlin, Urteil vom 24.4.2003 16 Sa 2297/02, MDR 2003, 1376, betr. unleserliche Zeilen des unstreitigen Tatbestandes eines Urteils, mit denen schriftsätzlicher Parteivortrag wiedergegeben wird).

 

ff) Offen bleiben kann, welche Beweisanforderungen an die Behauptung zu stellen sind, die Einspruchsentscheidung sei unvollständig gewesen, und ob die Unvollständigkeit innerhalb der regulären Klagefrist gerügt werden muss, wenn die übermittelten Teile nahelegen, dass die Behörde eine verbindliche Entscheidung treffen wollte und eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt war. Denn im Streitfall hat der vormalige Prozessbevollmächtigte die unstreitig fehlende Seite bereits 18 Tage vor Ablauf der nach § 47 Abs. 1 FGO i.V.m. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ermittelten Klagefrist angefordert.

 

2. Da die Klagefrist erst mit Zugang der von der Familienkasse am 7.6.2004 übersandten, zunächst fehlenden dritten Seite der Einspruchsentscheidung begann, war die am 28.6.2004 beim FG eingegangene Klage nicht verfristet.