Unvollständige Einspruchsentscheidung, Rechtsbehelfsfrist: Fehlt eine Seite der Einspruchsentscheidung und wird dies vor Ablauf der regulären Klagefrist gerügt, so endet die Klagefrist erst einen Monat nach Bekanntgabe der fehlenden Seite. - Urt.; BFH 25.7.2007, III R 15/07; SIS 08 00 20
I. Der 1988 geborene Sohn des Klägers
und Revisionsklägers (Kläger) wurde von seiner Mutter im
Jahr 1995 widerrechtlich nach Chile entführt und kehrte erst
2003 zurück. Die Beklagte und Revisionsbeklagte
(Familienkasse) hob deshalb Kindergeldfestsetzungen auf, und zwar
gesondert für 1995 - insoweit wurde ihr Aufhebungsbescheid vom
Sozialgericht aufgehoben - sowie für den hier streitigen
Zeitraum ab Januar 1996.
Die Familienkasse wies den Einspruch des
Klägers gegen den Aufhebungsbescheid als unbegründet
zurück. Die Einspruchsentscheidung vom 17.5.2004 wurde dem
ehemaligen Prozessbevollmächtigten bekannt gegeben. Dieser
bestätigte der Familienkasse den Eingang mit Fax vom 3.6.2004
und teilte mit, in seinem Exemplar fehle die Seite 3; er bitte, ihm
diese umgehend zukommen zu lassen. Die Familienkasse
übersandte mit einem Anschreiben vom 7.6.2004 vorab per Fax
sowie im Nachgang per Post einen Mehrabdruck der Seite 3 der
Einspruchsentscheidung und bat, das versehentliche Fehlen zu
entschuldigen.
Das Finanzgericht (FG) wies die am
28.6.2004 eingegangene Klage als unzulässig ab (vgl. SIS 07 29 52). Der Kläger habe mit seinem pauschalen Vortrag, die
Einspruchsentscheidung sei erst am 27.5.2004 bei ihm eingegangen,
die gesetzliche Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 der
Abgabenordnung (AO) nicht erschüttert und somit die
einmonatige Klagefrist versäumt, welche drei Tage nach dem
17.5.2004 und, weil der 20. Mai auf Himmelfahrt gefallen sei, am
21.5.2004 begonnen und am 21.6.2004 geendet habe. Das Fehlen der
Seite 3 der Einspruchsentscheidung, die der Kläger erst am
7.6.2004 per Telefax erhalten haben wolle, rechtfertige eine
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht. Dabei könne offen bleiben,
ob § 126 Abs. 3 FGO, wonach die Versäumung der
Einspruchsfrist als unverschuldet gelte, wenn einem Verwaltungsakt
die erforderliche Begründung gefehlt habe, auch bei einer
Versäumung der Klagefrist angewandt werden könne. Denn
§ 126 Abs. 3 AO sei nicht einschlägig, da von den
dreieinhalb Seiten der Einspruchsentscheidung nach dem Vortrag des
Klägers lediglich eine Seite gefehlt habe. Er habe somit die
tragenden Gründe der Einspruchsentscheidung nachvollziehen und
diese zur Wahrung der Klagefrist anfechten können. Da der
Kläger die Rechtsauffassung der Familienkasse bereits aus dem
vorangegangenen Schriftverkehr gekannt habe, sei das Fehlen einer
Seite für die Versäumnis der Klagefrist nicht
ursächlich gewesen.
Mit der Revision rügt der Kläger
Verfahrensfehler. Das FG habe sich zu Unrecht auf die Fiktion des
§ 122 Abs. 2 AO gestützt, ohne festzustellen, wann die -
unvollständige - Einspruchsentscheidung tatsächlich
versandt worden sei. Dies wäre erforderlich gewesen, da der
Zugang am 21.5.2004 substantiiert bestritten worden sei. Bei
Zweifeln hätte das FG die angebotene Zeugin vernehmen
müssen, die den Bescheid persönlich am 27.5.2004
entgegengenommen habe. Die Klagefrist sei auch nicht bereits durch
die unvollständige, sondern erst durch den Zugang der
vervollständigten Einspruchsentscheidung in Gang gesetzt
worden. Mit der Seite 3 habe ein Drittel der Einspruchsentscheidung
gefehlt. Entgegen der Ansicht des FG könne ihm, dem
Kläger, nicht zugemutet werden, die vorherige Korrespondenz
heranzuziehen, um sich zusammenzureimen, was die Behörde
gewollt haben könnte; sie könne ihre Rechtsauffassung
oder deren Begründung auch abgewandelt haben.
Der Kläger beantragt, das FG-Urteil
aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Die Familienkasse beantragt, die Revision
als unbegründet zurückzuweisen, hilfsweise, das FG-Urteil
aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
II. Die Revision führt zur Aufhebung des
angegriffenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das FG
(§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Der Kläger hat die Klagefrist nicht
versäumt.
1. Die Monatsfrist für die Erhebung einer
Anfechtungsklage beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung
über den außergerichtlichen Rechtsbehelf (§ 47 Abs.
1, § 54 Abs. 2 FGO). Die Entscheidung über den
außergerichtlichen Rechtsbehelf in diesem Sinne ist die
vollständige Einspruchsentscheidung.
a) Der Wortlaut des § 47 Abs. 1 Satz 1
FGO - „Entscheidung über den außergerichtlichen
Rechtsbehelf“ - deutet nicht darauf hin, dass bereits die
Bekanntgabe von Teilen der Einspruchsentscheidung die Klagefrist
beginnen lässt. Zwar wird das Erfordernis der
Vollständigkeit der Einspruchsentscheidung in § 47 Abs. 1
FGO nicht ausdrücklich genannt, während einige
Prozessordnungen wie z.B. § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO, § 517
der Zivilprozessordnung (ZPO) und § 66 Abs. 1 des
Arbeitsgerichtsgesetzes (ArbGG) im Gegensatz zu § 151 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Rechtsmittelfristen ausdrücklich
erst nach Zustellung des vollständigen Urteils beginnen
lassen. Dies erlaubt aber nicht den Schluss, dass an die
Vollständigkeit der Einspruchsentscheidung in § 47 Abs. 1
FGO geringere Anforderungen zu stellen sind, denn die Bezugnahme
auf vollständige Urteile in den Prozessordnungen beruht
darauf, dass Urteile zwar u.a. einen Tatbestand,
Entscheidungsgründe und eine Rechtsmittelbelehrung enthalten
müssen (z.B. § 105 Abs. 2 FGO), aber auch ohne diese
Bestandteile der Geschäftsstelle übergeben werden (z.B.
§ 105 Abs. 4 Satz 2 FGO) und im Zivilprozess auch ohne
Tatbestand und Entscheidungsgründe ausgefertigt werden
können (§ 317 Abs. 2 Satz 2 ZPO).
b) Die Auslegung, dass die Klagefrist erst mit
der Bekanntgabe der vollständigen Einspruchsentscheidung
beginnt, ist auch aus Gründen der Rechtssicherheit
geboten.
aa) Wird die Einspruchsentscheidung ohne das
Blatt übermittelt, auf der sich die Unterschrift befindet, so
fehlt es - außer wenn eine Unterschrift z.B. in
Massenverfahren nicht vorgesehen ist (§ 365 Abs. 1, § 119
Abs. 3 Satz 2 AO) - an der durch § 366 AO vorgeschriebenen
Schriftform (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom
2.3.2000 VII B 137/99, BFH/NV 2000, 1344 = SIS 00 60 22, m.w.N., -
fehlende, die Unterschrift enthaltende Seite eines fristwahrenden
Schriftsatzes - ; Sächsisches FG, Urteil vom 20.9.2002 1 K
665/02, juris = SIS 03 38 66, - fehlende Unterzeichnung der
Klagschrift - ; Gräber/ v. Groll, Finanzgerichtsordnung, 6.
Aufl., § 64 Rz 19; Birkenfeld in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 366 AO Rz 28 und Rz 184). Die
Klagefrist kann durch sie deshalb nicht in Gang gesetzt werden.
bb) Fehlt die erste Seite eines
Einspruchsbescheids mit Rubrum (erlassende Finanzbehörde,
Adressat, Gegenstand der Entscheidung) und Tenor
(Entscheidungssatz) und ist infolgedessen nicht zu erkennen, welche
Finanzbehörde den Bescheid erlassen hat, so ist er nichtig
(§ 125 Abs. 2 Nr. 1 AO). Eine
„Nicht-Entscheidung“ wäre auch dann
anzunehmen, wenn die erlassende Finanzbehörde zwar erkennbar
wäre, Gegenstand und Entscheidung aber nur aus den
übermittelten Gründen erraten oder rekonstruiert werden
könnten.
cc) Gesetzlich bestimmte Fristen dienen wie
die Regelungen über die Bestandskraft in erster Linie dem
Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit (Steinhauff in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 47 FGO Rz 17, m.w.N.). Beginn
und Ende der jeweiligen Frist müssen daher aus dem
Gesetzestext klar und eindeutig zu erkennen sein (Tipke/Kruse,
Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 108 AO Rz 11, m.w.N.;
Schwarz, AO Kommentar, § 108 Rz 1).
Dies verbietet es, bei einer
unvollständig bekanntgegebenen Einspruchsentscheidung den
Beginn der Klagefrist davon abhängig zu machen, ob die erste,
die letzte oder eine mittlere Seite fehlt, ob es sich bei den
fehlenden Seiten um einen inhaltlich wesentlichen (z.B. die
tragenden Gründe der Ablehnung) oder weniger wichtigen Teil
(z.B. die Wiedergabe des vorangegangenen Schriftwechsels oder der
Rechtsansicht des Einspruchsführers) handelt oder ob -
gemessen am gesamten Umfang - ein großer oder ein kleiner
Teil der Entscheidung übermittelt wurde.
dd) Der Senat setzt sich mit dieser Auffassung
nicht in Widerspruch zum BFH-Beschluss vom 4.8.1998 VIII B 107/97
(juris). Dort hatte das Finanzamt (FA) die Einkommensteuer in der
Einspruchsentscheidung neu berechnet und vermerkt, dass die
kassenmäßige Abrechnung in Form einer Anlage zur
Einspruchsentscheidung in Kürze erfolgen werde. Der BFH hat
dazu ausgeführt, das FA habe nicht eine unvollständige
Einspruchsentscheidung nachträglich inhaltlich ergänzt,
da die Anrechnung bzw. Abrechnung von Steuern ein
eigenständiger Verwaltungsakt sei, der unabhängig von der
Einkommensteuerfestsetzung mit eigenen Rechtsmitteln angegriffen
werden müsse; die Frist zur Erhebung der Anfechtungsklage
(§ 47 Abs. 1 Satz 1 FGO) beginne auch dann mit der Bekanntgabe
der Einspruchsentscheidung, wenn die Abrechnung dazu
nachträglich bekanntgegeben werde.
ee) Die Bekanntgabe einer unvollständigen
Entscheidung ist nicht mit der Zustellung eines vollständigen,
aber - z.B. durch einen Fehler beim Druck oder durch
Wassereinwirkung - teilweise unleserlichen Urteils gleichzusetzen
(vgl. Landesarbeitsgericht Berlin, Urteil vom 24.4.2003 16 Sa
2297/02, MDR 2003, 1376, betr. unleserliche Zeilen des unstreitigen
Tatbestandes eines Urteils, mit denen schriftsätzlicher
Parteivortrag wiedergegeben wird).
ff) Offen bleiben kann, welche
Beweisanforderungen an die Behauptung zu stellen sind, die
Einspruchsentscheidung sei unvollständig gewesen, und ob die
Unvollständigkeit innerhalb der regulären Klagefrist
gerügt werden muss, wenn die übermittelten Teile
nahelegen, dass die Behörde eine verbindliche Entscheidung
treffen wollte und eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt war.
Denn im Streitfall hat der vormalige Prozessbevollmächtigte
die unstreitig fehlende Seite bereits 18 Tage vor Ablauf der nach
§ 47 Abs. 1 FGO i.V.m. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ermittelten
Klagefrist angefordert.
2. Da die Klagefrist erst mit Zugang der von
der Familienkasse am 7.6.2004 übersandten, zunächst
fehlenden dritten Seite der Einspruchsentscheidung begann, war die
am 28.6.2004 beim FG eingegangene Klage nicht verfristet.