Zollrechtliche Ursprungsbestimmung bei Be- oder Verarbeitung, Ursprungsänderung ohne Wechsel der Tarifposition: Dem EuGH wird folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: - Sind den nichtpräferenziellen Ursprung begründende wesentliche Be- oder Verarbeitungen von Waren der Pos. 7312 KN nur solche, die zur Folge haben, dass das aus der Be- oder Verarbeitung hervorgegangene Erzeugnis in eine andere Position der KN einzureihen ist? - Urt.; BFH 6.5.2008, VII R 18/07; SIS 08 25 82
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) beantragte im Mai 2005 die Erteilung verbindlicher
Ursprungsauskünfte (vUA) für verschiedene Arten von
Stahlseilen, die in der Demokratischen Volksrepublik Korea
(Nordkorea) aus Litzen mit Ursprung in der Volksrepublik China
(China) hergestellt werden. Die Beklagte und Revisionsklägerin
(die Bundesfinanzdirektion - BFD -, seinerzeit Oberfinanzdirektion)
erteilte unter dem 11.1.2006 fünf vUA, mit denen China als
Ursprungsland der Stahlseile erklärt wurde. In Nordkorea finde
eine wesentliche Be- oder Verarbeitung der Litzen nicht statt, denn
diese seien nicht in eine andere Position der Kombinierten
Nomenklatur (KN) in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des
Rates vom 23.7.1987 über die zolltarifliche und statistische
Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (Amtsblatt der
Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - Nr. L 256, S. 1) in der
durch die Verordnung (EG) Nr. 1719/2005 der Kommission vom
27.10.2005 (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 286, S. 1)
geänderten Fassung einzureihen als die aus ihnen hergestellten
Stahlseile.
Auf die nach erfolglosem Einspruch erhobene
Klage hob das Finanzgericht (FG) aus den in der ZfZ 2008, Beilage
1, S. 3 = SIS 07 22 68 veröffentlichten Gründen die
angefochtenen vUA auf und verpflichtete die BFD, vUA des Inhalts zu
erteilen, dass die Stahlseile ihren nichtpräferenziellen
Ursprung in Nordkorea haben. Das FG urteilte, dass die
gemäß Art. 24 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates
vom 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften
(ABlEG Nr. L 302, S. 1) für die Begründung des Ursprungs
maßgebliche wesentliche Be- oder Verarbeitung der Litzen in
Nordkorea stattfinde. Die Stahlseile würden in Nordkorea in
einem dazu eingerichteten Unternehmen hergestellt, was einen nicht
unerheblichen maschinellen Aufwand erfordere, der über eine
bloße Minimalbehandlung hinausgehe. Durch das Zusammendrehen
der Litzen auf den Maschinen entstünden neue Waren mit im
Vergleich zu den Vorprodukten anderen Eigenschaften. Die fertigen
Stahlseile wiesen eine höhere Tragfähigkeit als die
Litzen auf und seien daher geeignet, unmittelbar ihrem spezifischen
Verwendungszweck entsprechend eingesetzt zu werden. Die von der BFD
herangezogenen sog. Listenregeln der Kommission, denen zufolge
für eine ursprungsbegründende Be- oder Verarbeitung von
Waren der Pos. 7312 KN allein der Wechsel der Tarifposition
maßgeblich sei, seien mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs
der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) nicht zu vereinbaren
und seien auch kein verbindlicher Rechtsakt der Gemeinschaft.
Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Herstellung der
Stahlseile in Nordkorea i.S. des Art. 25 der Verordnung Nr. 2913/92
nur die Umgehung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen betreffend
bestimmte Länder bezwecke, seien weder seitens der BFD
vorgetragen noch ersichtlich.
Mit ihrer Revision macht die BFD geltend,
dass die Listenregeln zwar keine unmittelbare Rechtswirkung
hätten, dass sie aber eine bestimmte Auslegung des Art. 24 der
Verordnung Nr. 2913/92 für verschiedene Waren vorgäben,
so wie es im Bereich des Zolltarifs durch die Erläuterungen
zur KN geschehe.
II. Der Senat setzt das Verfahren aus (§
121 Satz 1 i.V.m. § 74 der Finanzgerichtsordnung) und legt dem
EuGH gemäß Art. 234 Abs. 3 des Vertrags zur
Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) die im Tenor
bezeichnete Frage zur Vorabentscheidung vor, weil die Auslegung der
für die Entscheidung des Streitfalls maßgeblichen
Vorschrift des Gemeinschaftsrechts Zweifelsfragen aufwirft.
1. Da nach den Feststellungen des FG an der
Herstellung der Stahlseile zwei Länder, nämlich China und
Nordkorea, beteiligt sind, beurteilt sich ihr Ursprung nach Art. 24
der Verordnung Nr. 2913/92. Nach dieser Vorschrift ist eine
derartige Ware Ursprungsware des Landes, in dem sie der letzten
wesentlichen und wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder
Verarbeitung unterzogen worden ist, die in einem dazu
eingerichteten Unternehmen vorgenommen worden ist und zur
Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine
bedeutende Herstellungsstufe darstellt.
Art. 24 der Verordnung Nr. 2913/92 greift den
Wortlaut von Art. 5 der Verordnung (EWG) Nr. 802/68 des Rates vom
27.6.1968 über die gemeinsame Begriffsbestimmung für den
Warenursprung (ABlEG Nr. L 148, S. 1) auf, die vor Inkrafttreten
der Verordnung Nr. 2913/92 galt. In Auslegung dieser Verordnung hat
der EuGH entschieden, dass die Bestimmung des Warenursprungs auf
einer objektiven und tatsächlich feststellbaren Unterscheidung
zwischen dem Ausgangserzeugnis und dem aus der Verarbeitung
hervorgegangenen Erzeugnis beruhen muss, wobei wesentlich auf die
spezifischen Beschaffenheitsmerkmale eines jeden dieser Erzeugnisse
abzustellen ist; die Be- oder Verarbeitung muss eine erhebliche
qualitative Veränderung des Ausgangserzeugnisses dergestalt
bewirkt haben, dass das aus ihm hervorgegangene Erzeugnis besondere
Eigenschaften besitzt und von einer Beschaffenheit ist, die es vor
der Be- oder Verarbeitung nicht hatte (EuGH-Urteile vom 26.1.1977
49/76, Slg. 1977, 41; vom 23.2.1984 93/83, Slg. 1984, 1095).
2. Unter Zugrundelegung dieser vom EuGH
für maßgeblich gehaltenen Gesichtspunkte hat das FG
erkannt, dass die streitigen Stahlseile ihren Ursprung in Nordkorea
haben, obgleich sowohl die Litzen als Ausgangserzeugnisse als auch
die Stahlseile als die aus der Verarbeitung hervorgegangenen
Erzeugnisse von derselben Tarifposition, nämlich Pos. 7312 KN,
erfasst werden.
Nach den Feststellungen des FG ist das
Verseilen der aus China stammenden Stahllitzen wirtschaftlich
gerechtfertigt, weil es für die industrielle Verwendung der
aus der Verarbeitung hervorgehenden Erzeugnisse erforderlich ist,
und es findet in Nordkorea in einem dazu eingerichteten Unternehmen
statt. Das Verseilen der Litzen erfordert einen nicht unerheblichen
maschinellen Aufwand, weshalb keine bloße Minimalbehandlung
vorliegt, und führt zum Entstehen neuer Waren mit im Vergleich
zum Ausgangserzeugnis anderen Eigenschaften, weil die Stahlseile
eine höhere Tragfähigkeit als die Litzen aufweisen und
daher geeignet sind, entsprechend ihrem spezifischen
Verwendungszweck unmittelbar eingesetzt zu werden. All dies ist
zwischen den Beteiligten nicht im Streit.
Die aufgrund der festgestellten Tatsachen
vorgenommene Würdigung des FG, dass die Stahlseile in
Nordkorea ihrer letzten wesentlichen Verarbeitung unterzogen worden
sind, steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH, derzufolge
die Frage, welcher Teil des Herstellungsvorgangs als
ursprungsbegründend anzusehen ist, in erster Linie anhand
technischer Kriterien zu beantworten ist (vgl. EuGH-Urteil vom
8.3.2007 C-447, 448/05, Slg. 2007, I-2049, ZfZ 2007, 100 = SIS 07 10 91). Selbst wenn es als zweifelhaft anzusehen sein sollte, ob
die Verarbeitung der Litzen zu einem neuen Erzeugnis geführt
hat, wird doch von einer in Nordkorea erreichten bedeutenden
Herstellungsstufe für die Stahlseile gesprochen werden
können.
3. Auch die Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der
Kommission vom 2.7.1993 mit Durchführungsvorschriften zu der
Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex
der Gemeinschaften (ABlEG Nr. L 253, S. 1) enthält keine
Vorschriften, welche für Waren der vorliegenden Art die
ursprungsbegründende Be- oder Verarbeitung von weiteren
Voraussetzungen wie zum Beispiel dem durch sie bewirkten Wechsel in
eine andere Tarifposition abhängig machen. Für andere
Waren als Spinnstoffe und Waren daraus des Abschn. XI KN gelten
gemäß Art. 39 der Verordnung Nr. 2454/93 als
ursprungsbegründend die in Spalte 3 des Anhangs 11 der
Verordnung Nr. 2454/93 aufgeführten Be- oder Verarbeitungen.
Zur Pos. 7312 KN gehörende Waren werden von Anhang 11 der
Verordnung Nr. 2454/93 jedoch nicht erfasst.
Art. 37 der Verordnung Nr. 2454/93, der (mit
zahlreichen Ausnahmen) für als ursprungsbegründend
geltende (Art. 36 der Verordnung Nr. 2454/93)
„vollständige Be- oder Verarbeitungen“
vorschreibt, dass diese den Wechsel in eine andere Position der KN
zur Folge haben müssen, gilt nur für Spinnstoffe und
Waren daraus des Abschn. XI KN. Seine entsprechende Anwendung auf
Waren anderer Art kommt nicht in Betracht, weil nicht angenommen
werden kann, dass für Waren anderer Art insoweit eine vom
Gemeinschaftsgesetzgeber nicht gewollte Regelungslücke
besteht.
4. Der Rechtsprechung des EuGH lassen sich
ebenfalls keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass eine Be-
oder Verarbeitung einen Wechsel der Tarifposition zur Folge haben
muss, um ursprungsbegründend zu sein. Der EuGH hat vielmehr in
dem Urteil in Slg. 1977, 41 ausgeführt, dass es nicht
genüge, die Kriterien für die Bestimmung des
Warenursprungs der tariflichen Einordnung der verarbeiteten
Erzeugnisse zu entnehmen, weil der Zolltarif für eigene Zwecke
und nicht für die Bestimmung des Warenursprungs geschaffen
worden sei. Soweit der EuGH in den Urteilen vom 17.10.2000 C-114/99
(Slg. 2000, I-8823) und vom 15.5.2003 C-282/00 (Slg. 2003, I-4741)
hinsichtlich der Verarbeitung von Erzeugnissen den Wechsel in eine
andere Tarifposition mitberücksichtigt hat, geschah dies in
einem anderen Zusammenhang als dem nichtpräferenziellen
Ursprung bzw. war ersichtlich nur ein Hilfsargument, um die bereits
aufgrund anderer Kriterien bejahte ursprungsbegründende Be-
oder Verarbeitung zusätzlich zu rechtfertigen.
5. Bei den nur über das Internet und
allein in englischer Sprache zu findenden sog. Listenregeln der
Kommission, denen zufolge bei Waren der Pos. 7312 KN die
ursprungsbegründende Be- oder Verarbeitung einen Wechsel der
Tarifposition zur Folge haben muss, handelt es sich nicht um eine
gemäß Art. 249 Abs. 2 EG verbindliche und in den
Mitgliedstaaten unmittelbar geltende Verordnung oder um eine
gemäß Art. 249 Abs. 3 EG für die Mitgliedstaaten
verbindliche Richtlinie, was keiner weiteren Erörterung bedarf
und zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit ist. Wie dem im
finanzgerichtlichen Verfahren vorgelegten Dokument vom 5.4.2006
TAXUD/1406/2006-DE „Art und Rechtswirkung von
Leitlinien“ zu entnehmen ist, beansprucht auch die
Kommission keine Rechtswirkung für die von ihr erarbeiteten
Erläuterungen und Leitlinien, sondern sieht sie als
Hilfsmittel für eine einheitliche Auslegung des
Gemeinschaftsrechts an und als Ersatz für nationale
Anweisungen in dem jeweiligen Bereich. Offenbleiben kann dabei die
in der Literatur diskutierte Frage, ob derartige Leitlinien der
Kommission als Empfehlungen oder als an die nationalen
Zollverwaltungen gerichtete Verwaltungsvorschriften anzusehen sind,
weil Empfehlungen nach Art. 249 Abs. 5 EG nicht verbindlich sind
und Verwaltungsvorschriften jedenfalls die Gerichte nicht
binden.
6. Allerdings sind die Listenregeln der
Kommission, auch wenn sie die Gerichte bei der Anwendung des Art.
24 der Verordnung Nr. 2913/92 auf den Einzelfall nicht binden, bei
der Entscheidungsfindung gleichwohl zu berücksichtigen (vgl.
EuGH-Urteile vom 13.12.1989 C-322/88, Slg. 1989, 4407, und vom
21.1.1993 C-188/91, Slg. 1993, I-363). Es handelt sich bei den
Listenregeln um die Auslegung abstrakter Rechtsbegriffe durch ein
Gemeinschaftsorgan, welches am Gesetzgebungsverfahren beteiligt und
vom Rat beauftragt ist, die zur Durchführung des Zollkodex
erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Deshalb können
die Listenregeln in ähnlicher Weise, wie es der EuGH in
ständiger Rechtsprechung in Bezug auf die Erläuterungen
zur KN formuliert, als ein wichtiges Erkenntnismittel für die
Auslegung des Art. 24 der Verordnung Nr. 2913/92 angesehen werden.
Wenn also - wie im Streitfall - die Kommission für Waren einer
bestimmten Tarifposition - in Abweichung von den nach der
Rechtsprechung des EuGH maßgebenden Kriterien - die Ansicht
vertritt, dass die Be- oder Verarbeitung solcher Waren nur dann
ursprungsbegründend ist, wenn die aus der Be- oder
Verarbeitung hervorgegangenen Erzeugnisse in eine andere Position
als die Vormaterialien einzuordnen sind, so rechtfertigt dies die
Anrufung des EuGH.