Künstliches Gelenk, Einfuhrumsatzsteuer, Steuersatz: Zu sog. Schraubpfannen-Systemen, die als Hüftgelenkimplantate verwendet werden, gehörende Schraubpfanneneinsätze und Schraubpfannendeckel sind, wenn sie Gegenstand einer selbständigen Leistung sind, dem Regelsteuersatz unterliegende Teile künstlicher Gelenke. - Urt.; BFH 1.4.2008, VII R 8/07; SIS 08 27 45
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) führte in den Jahren 2001 und 2002 sowohl aus
mehreren Bestandteilen zusammengesetzte vollständige
Schraubpfannen-Systeme ein, die als Hüftgelenkimplantate
verwendet werden, als auch gesondert die einzelnen zu diesem System
gehörenden Bestandteile, nämlich
Schraubpfanneneinsätze und Schraubpfannendeckel. Während
die Klägerin hinsichtlich der zu erhebenden
Einfuhrumsatzsteuer von dem ermäßigten Steuersatz von 7
% für sämtliche Einfuhrwaren ausging, legte der Beklagte
und Revisionskläger (das Hauptzollamt - HZA - ) mit den
entsprechenden Einfuhrabgabenbescheiden für die
Schraubpfanneneinsätze und Schraubpfannendeckel den
Regelsteuersatz von 16 % zugrunde.
Auf die nach erfolglosem
Einspruchsverfahren erhobene Klage änderte das Finanzgericht
(FG) die Einfuhrabgabenbescheide aus den in EFG 2007, 1292 = SIS 07 14 05 veröffentlichten Gründen, indem es die
Einfuhrumsatzsteuer für die Schraubpfanneneinsätze und
Schraubpfannendeckel auf die sich nach dem ermäßigten
Steuersatz ergebenden Beträge herabsetzte.
Mit seiner Revision macht das HZA geltend,
dass die Verweisung auf den Zolltarif in Nr. 52 a der Anlage zu
§ 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG)
„aus Unterposition 9021 11 bzw. 9021 31“ laute. In
solchen sog. Expositionen verwendete Begriffe seien nur dann
umsatzsteuerrechtlich auszulegen, wenn eigenständige Begriffe,
nicht aber, wenn Begriffe der Kombinierten Nomenklatur (KN)
verwendet würden. Der Begriff „Teile und
Zubehör“ werde aber in Kap. 90 KN verwendet und sei
deshalb nach den Regeln der KN auszulegen. Zolltariflich sei die
Entscheidung, ob es sich um die Hauptware oder um ein Teil bzw.
Zubehör handele, schon auf der Ebene der Position zu treffen.
So könnten die Schraubpfanneneinsätze und
Schraubpfannendeckel nur unter Anwendung der Anm. 2 b zu Kap. 90 KN
in die Pos. 9021 KN eingereiht werden. Eine Einreihung als
Hauptware sei aufgrund ihrer objektiven Beschaffenheit genauso
wenig möglich wie ihre Einreihung als
„Einzelkomponente“ eines künstlichen Gelenks, da
dieser Begriff der KN fremd sei.
Die Klägerin schließt sich der
Auffassung des FG an.
II. Die Revision des HZA ist begründet;
sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung
der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung
- FGO - ). Das Urteil des FG verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs.
1 FGO). Für die streitigen Schraubpfanneneinsätze und
Schraubpfannendeckel hat das HZA zu Recht Einfuhrumsatzsteuer nach
dem Regelsteuersatz festgesetzt.
1. Nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG (in der in
den Streitjahren 2001 und 2002 gültigen Fassung) i.V.m. Nr. 52
Buchst. a der Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG
ermäßigt sich die Umsatzsteuer für (u.a.) die
Einfuhr künstlicher Gelenke, ausgenommen Teile und
Zubehör, aus Unterpos. 9021 11 KN auf 7 %. Der Senat geht
ebenso wie das FG davon aus, dass der ermäßigte
Steuersatz für die Einfuhr von Waren dieser Art auch im Jahr
2002 galt, obwohl die KN in ihrer ab 1.1.2002 geltenden Fassung der
Verordnung (EG) Nr. 2031/2001 der Kommission vom 6.8.2001
(Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 279/1)
künstliche Gelenke nunmehr in der Unterpos. 9021 31 KN
aufführt. Offenbleiben kann insoweit, ob die Verweisung des
§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG auf die KN generell als eine sog.
dynamische Verweisung anzusehen ist (so Weymüller in Dorsch,
Zollrecht, B 1 § 12 UStG Rz 51; Husmann in Rau/
Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 12 Abs. 2 Nr. 1
und 2 Rz 101). Jedenfalls kann für einen Fall der vorliegenden
Art, in dem eine bestimmte Ware lediglich einen anderen KN-Code
erhält, während der alte KN-Code unbesetzt bleibt, nicht
angenommen werden, dass diese Ware während des Zeitraums, in
welchem die Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG lediglich
noch nicht an die Änderung der KN angepasst worden ist, nicht
dem ermäßigten Steuersatz, sondern dem Regelsteuersatz
unterliegt.
2. Unstreitig sind die als
Hüftgelenkimplantate verwendeten vollständigen
Schraubpfannen-Systeme „künstliche Gelenke“
i.S. der Unterpos. 9021 11 KN (bzw. 9021 31 KN). Auch die
streitigen Einzelbestandteile, Schraubpfanneneinsätze und
Schraubpfannendeckel, sind zolltariflich nach der Anm. 2 b zu Kap.
90 KN dieser Unterposition zuzuweisen (vgl. Senatsurteil vom
14.1.1997 VII R 47/96, BFHE 182, 466, BStBl II 1997, 481 = SIS 97 14 38). Umsatzsteuerrechtlich ist jedoch zu beachten, dass der
Wortlaut der Nr. 52 Buchst. a der Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1
und 2 UStG für die Umsatzsteuer die Unterscheidung zwischen
„künstlichen Gelenken“ einerseits und
„Teilen und Zubehör“ andererseits verlangt.
Im Elektronischen Zolltarif (EZT) finden sich dementsprechend die
weiteren Untergliederungen „künstliche Gelenke
für Menschen, einschließlich Einzelkomponenten,
ausgenommen Teile und Zubehör hierfür“ der
Codenummer 9021 1100 00 1 (bzw. Codenummer 9021 3100 00 1) und
„andere“ der Codenummer 9021 1100 00 9 (bzw.
Codenummer 9021 3100 00 9).
3. Bei den Schraubpfanneneinsätzen und
Schraubpfannendeckeln handelt es sich nicht um sog.
„Komponenten“ künstlicher Gelenke der
Codenummer 9021 1100 00 1 (bzw. Codenummer 9021 3100 00 1) EZT,
sondern um „Teile“ künstlicher Gelenke der
Codenummer 9021 1100 00 9 (bzw. Codenummer 9021 3100 00 9) EZT.
Der Senat hält an seiner mit Urteil in
BFHE 182, 466, BStBl II 1997, 481 = SIS 97 14 38 vertretenen
Rechtsauffassung fest, dass bei der umsatzsteuerrechtlichen
Beurteilung, ob es sich bei zu Gelenkprothesen gehörenden
Bestandteilen (schon) um künstliche Gelenke oder (nur) um
Teile davon handelt, die Rechtslage vor Inkrafttreten des neuen
Zolltarifsystems am 1.1.1988 mit einzubeziehen ist, weil die mit
der Verordnung zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes und der
Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung (UStDV) vom 7.3.1988
(BGBl I 1988, 204) vorgenommene Änderung der Anlage zu §
12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG, mit der die Anlage dem ab dem 1.1.1988
geltenden Gemeinsamen Zolltarif angepasst wurde, keine
materiell-rechtlichen Auswirkungen haben sollte, insbesondere keine
Veränderung der Steuerermäßigung nach Inhalt und
Umfang oder durch die Übernahme neuer zolltariflicher
Warenbegriffe beabsichtigt war (vgl. amtliche Begründung der
Verordnung, BRDrucks 28/88, S. 16).
Nach Nr. 46 Buchst. a der Anlage zu § 12
Abs. 2 Nr. 1 UStG in der vor dem 1.1.1988 geltenden Fassung
unterlagen Prothesen aus Nr. 90.19 A des Zolltarifs (ZT) dem
ermäßigten Steuersatz. ausgenommen waren allerdings nach
§ 27 UStDV (in ihrer damaligen Fassung - a.F. - ) Teile und
Zubehör für Körperersatzstücke. In Tarifnummer
90.19 A ZT waren lediglich Prothesen aufgeführt, wobei in den
Untergliederungen I. bis III. zwischen Zahnprothesen,
Augenprothesen und anderen unterschieden wurde. Künstliche
Gelenke waren dagegen noch nicht in einer gesonderten Position
aufgeführt, sondern wurden von der Tarifnummer 90.19 A III ZT
erfasst. Da - wie ausgeführt - mit der Anpassung der Anlage zu
§ 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG an das neue Zolltarifsystem keine
Änderung der Steuerermäßigung nach Inhalt und
Umfang vorgenommen werden sollte, ist bei der Einreihung der im
vorliegenden Fall streitigen Einfuhrwaren folglich zu prüfen,
ob diese nach dem vor dem 1.1.1988 geltenden Zolltarif als
Prothesen der Tarifnummer 90.19 A III anzusehen gewesen wären
oder als Teile von Prothesen i.S. des § 27 UStDV a.F..
Eine Prothese ist ein künstliches
Körperersatzteil. Soll ein Körpergelenk durch ein
künstliches Gelenk ersetzt werden, benötigt man genau
genommen zwei Körperersatzteile, weil ein Körpergelenk
die bewegliche Verbindung zweier Körperteile ist. Das Gelenk
als Ganzes betrachtet umfasst zwei Bestandteile, beim
Hüftgelenk den Oberschenkelknochen (Femur) mit dem Gelenkkopf
und die Gelenkpfanne (Acetabulum). Für den künstlichen
Ersatz des Hüftgelenks sind daher eine Prothese sowohl
für den zum Oberschenkelknochen gehörenden Teil des
Hüftgelenks als auch eine Prothese für die Gelenkpfanne
erforderlich.
Daraus folgt, dass sowohl der künstliche
Oberschenkelknochen als auch die künstliche Gelenkpfanne
jeweils für sich genommen eine Prothese, nicht aber Teile
einer Prothese sind. Aus diesem Grund hat der erkennende Senat in
seinem Urteil in BFHE 182, 466, BStBl II 1997, 481 = SIS 97 14 38
Femurschaft und -kopf einerseits sowie Acetabulum andererseits
nicht als „Teile“, sondern als
„Komponenten“ einer Hüftgelenkprothese
bezeichnet. Daraus folgt aber auch, dass diejenigen Bestandteile,
aus denen sich diese „Komponenten“, also der
künstliche Oberschenkelknochen bzw. die künstliche
Gelenkpfanne, zusammensetzen, für sich genommen keine
Prothesen sind, weil sie für sich allein den betreffenden
natürlichen Körperteil nicht ersetzen können,
sondern Teile einer Prothese i.S. des § 27 UStDV a.F. und
somit auch Teile eines künstlichen Gelenks i.S. der Nr. 52
Buchst. a der Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG sind.
Nach den Feststellungen des FG besteht das
Schraubpfannen-System des künstlichen Hüftgelenks,
welches die Gelenkpfanne ersetzen soll und im Beckenknochen
befestigt wird, aus der Schraubpfanne, dem Schraubpfanneneinsatz
und dem Schraubpfannendeckel. Es handelt sich somit um drei
Bestandteile, die nur in dieser Zusammensetzung, jedoch nicht
jeweils für sich genommen die natürliche
Hüftgelenkpfanne ersetzen können und die deshalb für
sich genommen auch nicht als Prothese bzw. als künstliches
Gelenk, sondern lediglich als Teile einer bzw. eines solchen
angesehen werden können. Es kommt auch nicht in Betracht, den
Schraubpfanneneinsatz oder den Schraubpfannendeckel unter
Heranziehung der Allgemeinen Vorschrift 2 a für die Auslegung
der KN zolltariflich als unvollständige Ware anzusehen, denn
dass diese Bestandteile für sich genommen bereits die
wesentlichen Beschaffenheitsmerkmale des vollständigen
Schraubpfannen-Systems haben, hat das FG nicht festgestellt und es
gibt auch keine Anhaltspunkte für eine solche Annahme.
Der Auffassung des FG, dass der
Schraubpfanneneinsatz eine „Einzelkomponente“
des künstlichen Gelenks i.S. des Senatsurteils in BFHE 182,
466, BStBl II 1997, 481 = SIS 97 14 38, nicht aber ein
„Teil“ sei, weil ihm eine eigenständige
Funktion zukomme, ist nicht zu folgen. Es handelt sich hierbei um
ein nicht brauchbares Abgrenzungskriterium, weil man nahezu jedem
Bestandteil eines künstlichen Gelenks eine eigenständige
und für das Funktionieren des künstlichen Gelenks
unabdingbare Eigenschaft wird zuschreiben können. Entscheidend
ist vielmehr - wie der Senat mit dem vorgenannten Urteil
ausgeführt hat -, ob die jeweiligen Einzelbestandteile bereits
vor dem Inkrafttreten des neuen Zolltarifsystems als
steuerbegünstigte Prothesen hätten angesehen werden
können; dies ist jedoch hinsichtlich der
Schraubpfanneneinsätze und Schraubpfannendeckel - wie
ausgeführt - nicht der Fall.
Anders als das FG meint, kommt es auch nicht
darauf an, dass die Zollverwaltung in den „Nationalen
Entscheidungen und Hinweisen“ zur Unterpos. 9021 3100 00
1 EZT den künstlichen Hüftgelenkkopf nicht als
„Teil“ des künstlichen Gelenks, sondern als
sog. „Einzelkomponente“ ausweist. Im Streitfall
ist nicht zu entscheiden, ob diese Einreihungsauffassung zutrifft.
Rückschlüsse auf die zutreffende Einreihung der hier
streitigen Schraubpfanneneinsätze und Schraubpfannendeckel
erlaubt diese Verwaltungsauffassung jedenfalls nicht.
Schließlich kann - anders als das FG
meint - auf die Schraubpfannendeckel der ermäßigte
Steuersatz auch nicht angewendet werden, weil diese bei den hier
streitigen Einfuhren stets zusammen mit der Schraubpfanne
eingeführt wurden, denn die Schraubpfanne ist ebenso wie der
Schraubpfanneneinsatz und der Schraubpfannendeckel ein dem
Regelsteuersatz unterliegender Teil eines künstlichen
Gelenks.