1
|
I. Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) führte im Jahr 2006
Fruchtsaftkonzentrate ein, die sie im Rahmen ihr bewilligter
aktiver Veredelungsverkehre nach dem Nichterhebungsverfahren
verarbeitete. Gemäß der erteilten Bewilligung endete die
Frist für die Beendigung des Verfahrens jeweils am letzten Tag
des auf die Überführung in die aktive Veredelung
folgenden vierten Kalendervierteljahrs (Art. 118 Abs. 2 Unterabs. 2
der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12.10.1992 zur
Festelegung des Zollkodex der Gemeinschaften (im Folgenden:
Zollkodex - ZK - ); innerhalb von 30 Tagen nach Beendigung des
Verfahrens war der Überwachungszollstelle die Abrechnung
vorzulegen (Art. 521 Abs. 1 Unterabs. 1 Anstrich 1 der Verordnung
(EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2.7.1993 mit
Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92
(im Folgenden: Zollkodex-Durchführungsverordnung - ZKDVO -
).
|
|
|
2
|
Nachdem die Klägerin trotz Mahnung die
zum 30.4.2007 fällige Abrechnung für die Einfuhrwaren des
ersten Quartals 2006 (Beendigung des Verfahrens: 31.3.2007) nicht
vorgelegt hatte, setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Hauptzollamt - HZA - ) Einfuhrabgaben für die Einfuhrwaren,
für die das Verfahren am 31.3.2007 beendet war, also in voller
Höhe (ca. 1,4 Mio. EUR) fest. Die schließlich am
10.7.2007 vorgelegte Abrechnung der Klägerin wies
demgegenüber wegen einer wesentlich geringeren Menge nicht
fristgerecht ausgeführter Einfuhrwaren einen niedrigeren
Abgabenbetrag (217.338,39 EUR) aus.
|
|
|
3
|
Die gegen die darüber hinausgehende
Abgabenfestsetzung nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene
Klage wies das Finanzgericht (FG) ab. Das FG urteilte, die
Einfuhrabgabenschuld sei nach Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK
entstanden, weil die Klägerin ihre Pflicht zur fristgerechten
Abrechnung des Zollverfahrens der aktiven Veredelung verletzt habe.
Der Inhaber dieses Zollverfahrens habe - wie Art. 859 Nr. 9 ZKDVO
zeige - auch noch nach Verfahrensbeendigung Pflichten. Die
Voraussetzungen dieser Vorschrift, unter denen sich die
Überschreitung der Frist für die Vorlage der Abrechnung
i.S. des Art. 204 Abs. 1 letzter Halbsatz ZK auf die
ordnungsgemäße Abwicklung des Zollverfahrens nicht
wirklich ausgewirkt hat, seien im Streitfall allerdings nicht
erfüllt. Zum einen hätte die Vorlagefrist für die
Abrechnung bei rechtzeitiger Antragstellung nicht verlängert
werden können, weil keine besonderen, eine
Fristverlängerung rechtfertigenden Umstände i.S. des Art.
521 Abs. 1 Unterabs. 2 ZKDVO vorgelegen hätten. Zum anderen
sei der Klägerin grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen, weil
ihr als im Verfahren der aktiven Veredelung erfahrenem
Wirtschaftsteilnehmer die Verpflichtung, zu bestimmten Zeitpunkten
Abrechnungen vorzulegen, bekannt gewesen und sie außerdem von
Seiten des HZA auf dieses Erfordernis hingewiesen worden
sei.
|
|
|
4
|
Mit ihrer Revision macht die Klägerin
geltend, dass die streitigen Abgaben Einfuhrwaren beträfen,
die unstreitig fristgemäß wieder ausgeführt worden
seien, womit das Zollverfahren der aktiven Veredelung
gemäß Art. 89 Abs. 1 ZK beendet worden sei. Nach
Beendigung eines Zollverfahrens könne aber eine
Pflichtverletzung keinen Einfluss auf dieses Verfahren mehr haben
und deshalb keine Zollschuld entstehen lassen.
|
|
|
5
|
II. Der Senat setzt das Verfahren aus (§
121 Satz 1 i.V.m. § 74 der Finanzgerichtsordnung) und legt dem
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß
Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der
Europäischen Union die nachfolgend bezeichnete Frage zur
Vorabentscheidung vor, weil die Auslegung der für die
Entscheidung des Streitfalls maßgeblichen Vorschriften des
Gemeinschaftsrechts Zweifelsfragen aufwirft.
|
|
|
6
|
„Ist Art. 204 Abs. 1 Buchst. a der
Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12.10.1992 zur
Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften dahin auszulegen, dass
er auch die Nichterfüllung solcher Pflichten betrifft, die
erst nach der Beendigung des betreffenden in Anspruch genommenen
Zollverfahrens zu erfüllen sind, so dass bei im Rahmen eines
aktiven Veredelungsverkehrs nach dem Nichterhebungsverfahren
fristgerecht teilweise wieder ausgeführten Einfuhrwaren die
Verletzung der Pflicht, der Überwachungszollstelle binnen 30
Tagen nach Ablauf der Frist für die Beendigung des Verfahrens
die Abrechnung vorzulegen, zur Entstehung einer Zollschuld für
die gesamte Menge der abzurechnenden Einfuhrwaren führt,
sofern die Voraussetzungen des Art. 859 Nr. 9 der Verordnung (EWG)
Nr. 2454/93 der Kommission vom 2.7.1993 mit
Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92
in der durch Art. 1 Nr. 30 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr.
993/2001 der Kommission vom 4.5.2001 geänderten Fassung nicht
vorliegen?“
|
|
|
7
|
1. Als Entstehungstatbestand für die
Einfuhrzollschuld kommt im Streitfall allein Art. 204 Abs. 1
Buchst. a ZK in Betracht. Nach dieser Vorschrift entsteht die
Zollschuld, wenn in anderen als den in Art. 203 ZK genannten
Fällen eine der Pflichten nicht erfüllt wird, die sich
bei einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware aus (u.a.) der
Inanspruchnahme des Zollverfahrens, in das sie
übergeführt worden ist, ergeben, es sei denn, dass sich
diese Verfehlung nachweislich auf die ordnungsgemäße
Abwicklung des betreffenden Zollverfahrens nicht wirklich
ausgewirkt hat.
|
|
|
8
|
Zu den im Fall einer bewilligten aktiven
Veredelung nach dem Nichterhebungsverfahren dem Bewilligungsinhaber
obliegenden Pflichten gehört nach Art. 521 Abs. 1 Unterabs. 1
Anstrich 1 ZKDVO die Vorlage der Abrechnung des Verfahrens
spätestens binnen 30 Tagen nach Ablauf der Frist für die
Beendigung des Verfahrens. Es handelt sich hierbei also um eine
Pflicht, die sich - wie es der Wortlaut des Art. 204 Abs. 1 Buchst.
a ZK beschreibt - aus der Inanspruchnahme des Zollverfahrens der
aktiven Veredelung nach dem Nichterhebungsverfahren ergibt, in das
die einfuhrabgabenpflichtige Ware übergeführt worden
ist.
|
|
|
9
|
Welche Pflichtverletzungen sich i.S. des Art.
204 Abs. 1 letzter Halbsatz ZK auf das in Anspruch genommene
Zollverfahren nicht wirklich ausgewirkt haben, wird durch Art. 859
ZKDVO abschließend geregelt (vgl. Urteil des EuGH vom
11.11.1999 C-48/98 - Söhl & Söhlke -, Slg. 1999,
I-7877 = SIS 00 51 85). Nach der die aktive Veredelung betreffenden
Vorschrift des Art. 859 Nr. 9 ZKDVO in der Fassung der
(Änderungs-)Verordnung (EG) Nr. 993/2001 der Kommission vom
4.5.2001 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L
141/1), welche - wie auch alle übrigen Regelungen des Art. 859
ZKDVO - unter dem Vorbehalt steht, dass es sich nicht um den
Versuch handelt, die Waren der zollamtlichen Überwachung zu
entziehen, keine grobe Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt
und alle notwendigen Förmlichkeiten erfüllt werden, um
die Situation der Waren zu bereinigen, hat sich das
Überschreiten der zulässigen Frist für die Vorlage
der Abrechnung nicht wirklich auf das Zollverfahren ausgewirkt,
sofern die Frist bei rechtzeitiger Antragstellung entsprechend
verlängert worden wäre. Dieser Vorschrift, deren
Voraussetzungen das FG im Streitfall als nicht gegeben angesehen
hat, ist zu entnehmen, dass auch die Kommission davon ausgeht, dass
die nicht fristgerechte Vorlage der Abrechnung des aktiven
Veredelungsverkehrs eine Pflichtverletzung i.S. des Art. 204 Abs. 1
Buchst. a ZK ist, welche grundsätzlich - vorbehaltlich des
Art. 859 Nr. 9 ZKDVO - die Zollschuld entstehen lässt. Dies
entspricht auch der Rechtsauffassung der deutschen
Zollverwaltung.
|
|
|
10
|
2. Soweit die Klägerin dieser
Rechtsauffassung widerspricht, kann sie sich auf Stimmen in der
deutschen zollrechtlichen Literatur stützen, die in der nicht
fristgerechten Vorlage der Abrechnung des aktiven
Veredelungsverkehrs keine zur Entstehung der Einfuhrzollschuld
führende Pflichtverletzung erblicken. Diese Ansicht wird zum
einen damit begründet, dass die Pflicht zur Vorlage der
Abrechnung eine dem Verfahrensinhaber erst nach Beendigung des
Zollverfahrens der aktiven Veredelung obliegende Pflicht sei, auf
deren Verletzung nicht mit der Entstehung der Zollschuld reagiert
werden könne, sondern ggf. mit einer Buße oder dem
Widerruf der Bewilligung des Zollverfahrens (Witte, Zollkodex, 5.
Aufl., Art. 204 Rz 20). Zum anderen wird die Ansicht vertreten,
dass es in Fällen dieser Art an einem
Zollschuldentstehungstatbestand fehle, weil sich nur während
der Dauer des in Anspruch genommenen Zollverfahrens Pflichten
ergäben, deren Verletzung zur Entstehung der Zollschuld
führen könne, also nicht, wenn das
Nichterhebungsverfahren der aktiven Veredelung durch eine neue
zollrechtliche Bestimmung der Einfuhrwaren bereits
ordnungsgemäß beendet sei (Art. 89 Abs. 1 ZK). Mit dem
Ablauf der Frist für die Beendigung des
Nichterhebungsverfahrens der aktiven Veredelung stehe
endgültig fest, für welche Einfuhrwaren eine Zollschuld
entstanden sei und für welche nicht. Denn zu diesem Zeitpunkt
(Ablauf der Frist für die Beendigung des Verfahrens, Art. 218
Abs. 1 ZK, Art. 496 Buchst. m ZKDVO) entstehe die Zollschuld
gemäß Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK, und zwar in der
Höhe, in der den Einfuhrwaren, für die das Verfahren
abgelaufen ist (Zugänge), keine unter Berücksichtigung
der Ausbeute und aller anrechenbaren Abgänge (Wiederausfuhren,
Untergang, sonstige Beendigungen des Verfahrens) entsprechende
Menge an Veredelungserzeugnissen und/oder unveredelten Waren
gegenüberstehe - Fehlmenge - . (Diese Fehlmenge ist von der
Klägerin am 10.7.2007, also verspätet, mit 217.338,39 EUR
angemeldet worden.)
|
|
|
11
|
Nach Ablauf der Frist für die Beendigung
des Verfahrens (früher: Wiedergestellungsfrist) sei kein Raum
mehr für die Entstehung weiterer Zollschulden in der aktiven
Veredelung. Denn wäre es anders und entstünde mangels
Vorlage der Abrechnung eine weitere Zollschuld gemäß
Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK für die gesamte Menge der
abzurechnenden Einfuhrwaren, realisiere sich die Gefahr einer -
nach der Rechtsprechung des EuGH dem Gedanken der Zollunion
widersprechenden (Urteil vom 20.9.1988 C-252/87 - Kiwall -, Slg.
1988, 4753) - doppelten Zollschuldentstehung.
|
|
|
12
|
So wäre im Streitfall die Zollschuld in
Höhe von 217.338,39 EUR doppelt entstanden, einmal mit Ablauf
der Frist für die Beendigung des Verfahrens am 31.3.2007 und
ein weiteres Mal am 30.4.2007 wegen Nichtvorlage der Abrechnung,
als Teil der Zollschuld für alle abzurechnenden Einfuhrwaren
(also 217.338,39 EUR enthalten in dem Betrag von 1,4 Mio. EUR).
|
|
|
13
|
Dass für eine Anrechnung der einen
Zollschuld auf die andere, so wie sie vom HZA im Streitfall
vorgenommen worden ist, eine Rechtsgrundlage bestehe - so wird
weiter geltend gemacht - erscheine zweifelhaft. Daher sei eine
Zollschuldentstehung wegen Nichtvorlage der Abrechnung nach Ablauf
der Frist für die Beendigung des Verfahrens systematisch
verfehlt und Zollschuldrechtlich unzulässig.
|
|
|
14
|
Die Durchführungsvorschrift des Art. 859
Nr. 9 ZKDVO gehe daher ins Leere (zum Ganzen vgl.
Müller-Eiselt, Der Veredelungsverkehr, I 15/43 ff.).
|
|
|
15
|
Weigere sich der Bewilligungsinhaber, die
Abrechnung vorzulegen, stünden der Überwachungszollstelle
andere Sanktionsmittel zur Verfügung. Sie könne zum einen
die Abrechnung anhand der von ihr geführten
Veredelungsbücher selbst vornehmen (Art. 521 Abs. 3 ZKDVO) und
den Bewilligungsinhaber bei einem Wiederholungsfall den Widerruf
der Bewilligung androhen oder zum anderen für diesen Fall
einen Bußgeldtatbestand einführen oder mit dem
steuerrechtlichen Mittel der Schätzung der Einfuhrabgaben
operieren.
|
|
|
16
|
3. Wollte man dieser zuletzt genannten
Rechtsansicht folgen und annehmen, dass der
Zollschuldentstehungstatbestand des Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK
nur Pflichtverletzungen während der Dauer des betreffenden
Zollverfahrens erfasst, hätte die Kommission mit der
Durchführungsvorschrift des Art. 859 Nr. 9 ZKDVO einen die
Zollschuldentstehung ausschließenden Tatbestand ohne
Anwendungsbereich geschaffen.
|
|
|
17
|
Wollte man mit der vom HZA im Streitfall
vertretenen Ansicht annehmen, aus der Durchführungsvorschrift
des Art. 521 Abs. 1 Unterabs. 1 Anstrich 1 ZKDVO folge, dass das
Verfahren der aktiven Veredelung nach dem Nichterhebungsverfahren
nicht bereits - wie es Art. 89 Abs. 1 ZK beschreibt - mit dem
Erhalt einer zulässigen neuen zollrechtlichen Bestimmung der
Einfuhrwaren beendet ist, sondern erst mit der Vorlage der
Abrechnung, stellte sich die Frage, ob die Kommission hiermit ihre
Befugnis, Anwendungsmodalitäten zu den Vorschriften des ZK zu
erlassen, überschritten hat (vgl. dazu EuGH-Urteil in Slg.
1999, I-7877, Rz 35 bis 37), weil dies in allen Fällen, in
denen eine Fehlmenge entstanden ist, insoweit zu einer doppelten
Zollschuldentstehung führen könnte, die aufzulösen
systematisch nicht möglich erscheint.
|