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I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) ist ein in der Bundesrepublik Deutschland
ansässiges Biotechnologie-Unternehmen in der Rechtsform einer
AG. Gegenstand ihres Unternehmens ist die Erforschung, Entwicklung,
Produktion und Vermarktung von Technologien zur Diagnose und
Therapie von Erkrankungen des Knorpels, der Knochen, des
Bindegewebes und der Haut. Die Klägerin ist im Bereich der
Gewebezüchtung („Tissue-Engineering“) tätig.
Streitig sind im Revisionsverfahren nur noch die Umsätze der
Klägerin aus der Vermehrung körpereigener (autologer)
Knorpelzellen (Chondrozyten) in den Fällen, in denen die
Leistungsempfänger (Ärzte oder Kliniken) in anderen
Mitgliedstaaten der Europäischen Union ansässig sind und
die Klägerin in ihren Rechnungen deren
Umsatzsteuer-Identifikationsnummer angegeben hat.
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Der Klägerin wird von dem behandelnden
Arzt oder der behandelnden Klinik Knorpelmaterial
(„Biopsat“) übersandt, das einem Patienten
entnommen wurde. Das Gewebe wird im Labor der Klägerin so
bearbeitet, dass die Gelenkknorpelzellen (Chondrozyten)
herauslösbar sind. Die Gelenkknorpelzellen werden nach
spezieller Aufbereitung in der Umgebung ihres eigenen Blutserums in
einem Brutschrank - in der Regel innerhalb von drei bis vier Wochen
- durch Züchtung vermehrt. Teilweise werden die
gezüchteten Zellen im Labor in eine Kollagen-Membran
eingebracht, so dass eine Art „Knorpelpflaster“
entsteht. Dieses wird dem behandelnden Arzt oder der Klinik zur
Implantation beim Patienten übersandt (sog.
„Matrix-unterstützte autologe
Knorpelzellen-Implantation“ - MACI - ). Teilweise
beschränkt sich die Klägerin auch darauf, die
Knorpelzellen zu züchten, ohne sie in eine Membran
einzubringen (sog. „Autologe Chondrozytenimplantation“
- ACI - ).
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Der Beklagte und Revisionskläger (das
Finanzamt - FA - ) behandelte im Umsatzsteuerbescheid für 2002
vom 17.12.2003 die bislang von der Klägerin als nicht
steuerpflichtig beurteilten Umsätze aus der Zellkultivierung
gegenüber ausländischen Unternehmern als steuerbar und
steuerpflichtig.
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Die Klägerin vertrat dagegen die
Auffassung, bei der Vermehrung der Knorpelzellen handele es sich um
„Arbeiten an beweglichen körperlichen
Gegenständen“ i.S. des § 3a Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c
Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes 1999 (UStG).
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Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt.
Es folgte der Auffassung der Klägerin. Das Urteil ist in EFG
2007, 959 = SIS 07 11 60 veröffentlicht.
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Das FA hat zur Begründung seiner
Revision geltend gemacht, durch die kurzzeitige Trennung vom
Körper würden die Zellen nicht zu beweglichen
Gegenständen. Darüber hinaus handele es sich bei den
Zellvermehrungen auch nicht um „Arbeiten“ i.S. des
§ 3a Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c Satz 1 UStG. Es liege zudem keine
„Verwendung“ der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer
i.S. des § 3a Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c Satz 2 UStG vor, da es an
einer ausdrücklichen Vereinbarung zwischen der Klägerin
und den Leistungsempfängern vor Ausführung der Leistung
fehle.
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Der Senat hat das Revisionsverfahren
ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH)
folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (Beschluss vom
1.4.2009 XI R 52/07, BFHE 225, 236, BStBl II 2009, 563 = SIS 09 15 22):
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„1. Ist Art. 28b Teil F Unterabs. 1
der Richtlinie 77/388/EWG dahin auszulegen, dass a) das einem
Menschen entnommene Knorpelmaterial (‘Biopsat’),
welches einem Unternehmer zum Zwecke der Zellvermehrung und
anschließenden Rückgabe als Implantat für den
betroffenen Patienten überlassen wird, ein ‘beweglicher
körperlicher Gegenstand’ im Sinne dieser Bestimmung ist,
b) das Herauslösen der Gelenkknorpelzellen aus dem
Knorpelmaterial und die anschließende Zellvermehrung
‘Arbeiten’ an beweglichen körperlichen
Gegenständen im Sinne dieser Bestimmung sind, c) die
Dienstleistung dem Empfänger bereits dann ‘unter seiner
Umsatzsteuer-Identifikationsnummer erbracht’ worden ist, wenn
diese in der Rechnung des Erbringers der Dienstleistung
angeführt ist, ohne dass eine ausdrückliche schriftliche
Vereinbarung über ihre Verwendung getroffen wurde?
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2. Falls eine der vorstehenden Fragen
verneint wird: Ist Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie
77/388/EWG dahin auszulegen, dass das Herauslösen der
Gelenkknorpelzellen aus dem einem Menschen entnommenen
Knorpelmaterial und die anschließende Zellvermehrung dann
eine ‘Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin’ ist,
wenn die durch die Zellvermehrung gewonnenen Zellen dem Spender
wieder implantiert werden?“
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Der EuGH hat auf die zweite Frage, die nach
seiner Ansicht zuerst zu prüfen sei, geantwortet (Urteil vom
18.11.2010 C-156/09 - Verigen Transplantation Service International
AG -, Umsatzsteuer-Rundschau—UR - 2011, 215,
Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung—HFR - 2011, 121
= SIS 10 39 09), “dass Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der
Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass das Herauslösen
von Gelenkknorpelzellen aus dem einem Menschen entnommenen
Knorpelmaterial und ihre anschließende Vermehrung zur
Reimplantation aus therapeutischen Zwecken eine
‘Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin’ im Sinne
dieser Bestimmung ist“.
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In Anbetracht seiner Antwort auf die zweite
Frage hat der EuGH von einer Beantwortung der ersten Frage
abgesehen.
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Das FA trägt hierzu vor, im Streitfall
komme nicht § 4 Nr. 14 UStG, sondern nur eine Steuerbefreiung
nach § 4 Nr. 16 Buchst. c UStG in Betracht. Die Klägerin
habe die Voraussetzungen des § 4 Nr. 16 Buchst. c UStG aber
nicht dargetan.
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Der EuGH habe in seinem Urteil vom 8.6.2006
C-106/05 - L. u. P. GmbH - (Slg. 2006, I-5123, BFH/NV Beilage 2006,
442 = SIS 06 29 72) die Leistungen eines Privatlabors zwar als
Heilbehandlungen angesehen, aber wegen des fehlenden
Vertrauensverhältnisses zwischen Labor und Patienten nur eine
Steuerbefreiung nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten
Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.5.1977 zur Harmonisierung
der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die
Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG) für möglich
gehalten. Dass generell nichtärztliche Leistungen, die durch
qualifiziertes medizinisches Personal erbracht würden, unter
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b oder Buchst. c der Richtlinie
77/388/EWG fielen, könne aus dem Urteil - L. u. P GmbH - in
Slg. 2006, I-5123, BFH/NV Beilage 2006, 442 nicht geschlossen
werden.
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Sollte der Senat aber gleichwohl eine
Befreiung nach § 4 Nr. 14 UStG bzw. Art. 13 Teil A Abs. 1
Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG für möglich erachten,
so wären die dafür erforderlichen Anforderungen
betreffend die Übernahme der Kosten ihrer Art nach durch die
Sozialversicherungsträger und die gebotene berufliche
Qualifikation des Unternehmers zu prüfen.
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Das FA beantragt, die Vorentscheidung
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt, die Revision
als unbegründet zurückzuweisen.
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II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur
Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1
Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung).
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1. Entgegen der Auffassung des FG hat die
Klägerin ihre streitigen Leistungen im Inland erbracht. Bei
den Heilbehandlungen handelt es sich um sonstige Leistungen (§
3 Abs. 9 i.V.m. Abs. 1 UStG). Der Ort dieser sonstigen Leistungen
liegt gemäß § 3a Abs. 1 Satz 1 UStG mangels einer
abweichenden Vorschrift im Inland, da die Klägerin ihr
Unternehmen im Inland betreibt.
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Nach § 3a Abs. 1 Satz 1 UStG wird eine
sonstige Leistung an dem Ort ausgeführt, von dem aus der
Unternehmer sein Unternehmen betreibt, soweit nicht abweichende
Vorschriften anzuwenden sind.
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Gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 3
Buchst. c UStG gilt unter bestimmten Voraussetzungen u.a. bei
„Arbeiten an beweglichen körperlichen
Gegenständen“ ein anderer Ort als Leistungsort.
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Der EuGH hat mit seinem zum Streitfall
ergangenen Urteil entschieden, dass es sich bei Leistungen, wie sie
die Klägerin ausgeführt hat, um Heilbehandlungen i.S. des
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG
handelt.
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Damit ist die von § 3a Abs. 1 Satz 1 UStG
abweichende Regelung in § 3a Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c UStG nicht
anwendbar. Denn die Annahme einer Heilbehandlung schließt
aus, dass es sich um „Arbeiten an beweglichen
körperlichen Gegenständen“ handelt (vgl. dazu
EuGH-Urteil vom 6.3.1997 C-167/95 - Maatschap M.J.M. Linthorst,
K.G.P. Pouwels en J. Scheren -, Slg. 1997, I-1195, UR 1997, 217 =
SIS 97 10 38, Rz 17).
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Aus den Schlussanträgen der
Generalanwältin vom 29.7.2010 in dem den Streitfall
betreffenden EuGH-Verfahren ergibt sich entgegen der Auffassung der
Klägerin nichts Anderes. Die Generalanwältin hat nicht
die Ansicht vertreten, die Leistungen seien dann als
„Arbeiten an beweglichen körperlichen
Gegenständen“ zu beurteilen, wenn eine
Steuerbefreiung nach den nationalen Befreiungsvorschriften versagt
werden sollte. Vielmehr hat sie zum Vorliegen dieses
Tatbestandsmerkmals ausdrücklich nur vorsorglich für den
Fall Stellung genommen, dass der EuGH das Vorliegen einer
Heilbehandlung verneinen sollte (vgl. Rz 31 und 34 der
Schlussanträge).
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2. Die Vorentscheidung ist von anderen
Voraussetzungen ausgegangen und daher aufzuheben. Die Sache ist
nicht spruchreif und an das FG zurückzuverweisen.
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a) Die vom EuGH festgestellte Heilbehandlung
im Bereich der Humanmedizin kann nur zu einer Steuerbefreiung nach
§ 4 Nr. 14 UStG führen, wenn die Laborleistungen der
Klägerin von Ärzten oder im Rahmen der Ausübung
eines arztähnlichen Berufs erbracht worden sind.
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Soweit das FA § 4 Nr. 14 UStG im
Streitfall wegen eines fehlenden Vertrauensverhältnisses
zwischen der Klägerin und den Patienten für nicht
anwendbar hält, vermag der Senat dem nicht zu folgen.
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Denn ein Vertrauensverhältnis zum
Patienten ist nicht ausnahmslos Voraussetzung für die
Steuerbefreiung einer Tätigkeit im Rahmen einer
Heilbehandlung. Vielmehr übt nach dem Urteil des
Bundesfinanzhofs (BFH) vom 29.1.1998 V R 3/96 (BFHE 185, 287, BStBl
II 1998, 453 = SIS 98 12 26) auch eine medizinisch-technische
Assistentin für Funktionsdiagnostik eine den in § 4 Nr.
14 Satz 1 UStG genannten Heilhilfsberufen ähnliche
Tätigkeit aus mit der Folge, dass die entsprechenden
Umsätze steuerfrei sind.
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Danach ist - wie der Senat bereits in seinem
Vorlagebeschluss in BFHE 225, 236, BStBl II 2009, 563 = SIS 09 15 22 (unter II.3.) für den Fall, dass der EuGH eine
Heilbehandlung annehmen sollte, ausgeführt hat - die
Steuerbefreiung bei einer entsprechenden beruflichen Qualifikation
der Mitarbeiter der Klägerin zu gewähren.
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Auch der EuGH geht davon aus, dass
Laborleistungen im Rahmen des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der
Richtlinie 77/388/EWG, auf dem § 4 Nr. 14 UStG beruht,
steuerbefreit sein können. Dies belegt sein Hinweis im
vorliegenden Verfahren, dass die Annahme, die von der Klägerin
ausgeführten Tätigkeiten seien eine Heilbehandlung, im
Einklang mit dem Zweck des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der
Richtlinie 77/388/EWG stehe, die Kosten ärztlicher
Heilbehandlung zu senken (Rz 27 des Urteils in UR 2011, 215, HFR
2011, 121).
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b) Im Streitfall hat das FG - von seiner
Rechtsauffassung ausgehend zu Recht - noch keine tatsächlichen
Feststellungen zu der beruflichen Qualifikation der Mitarbeiter der
Klägerin getroffen. Es wird dies im zweiten Rechtsgang
nachzuholen und unter Berücksichtigung der Grundsätze des
BFH-Urteils in BFHE 185, 287, BStBl II 1998, 453 = SIS 98 12 26 zu
entscheiden haben, ob danach die Steuerbefreiung zu gewähren
ist.
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