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I. Die Klägerinnen und
Revisionsklägerinnen (Klägerinnen) und ihr Bruder B
beerbten ihren im Februar 2009 verstorbenen Bruder E zu gleichen
Teilen. Die Klägerinnen sind zudem die Erbinnen des inzwischen
ebenfalls verstorbenen B.
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Finanzamt - FA - ) setzte durch Erbschaftsteuerbescheide vom
22.6.2010 gegen die Klägerinnen und B jeweils aufgrund eines
steuerpflichtigen Erwerbs von E von 97.900 EUR Erbschaftsteuer von
29.370 EUR fest. Das FA berücksichtigte dabei den in § 16
Abs. 1 Nr. 5 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes in
der für das Jahr 2009 geltenden Fassung (ErbStG) für
Personen der Steuerklasse II vorgesehenen Freibetrag von 20.000 EUR
und den in § 19 Abs. 1 ErbStG für Erwerber der
Steuerklassen II und III bei einem steuerpflichtigen Erwerb in der
angesetzten Höhe bestimmten Steuersatz von 30 %. Die
Einsprüche blieben erfolglos.
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Mit ihren Klagen begehrten die
Klägerinnen die Herabsetzung der gegenüber ihnen und B
festgesetzten Erbschaftsteuer auf 0 EUR. Da sie und B mit E eine
Lebensgemeinschaft gebildet hätten, müssten sie wie
Ehegatten oder (eingetragene) Lebenspartner besteuert
werden.
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Das Finanzgericht (FG) wies die Klagen
durch das in EFG 2012, 855 = SIS 12 02 57 veröffentlichte
Urteil mit der Begründung ab, die Steuerfestsetzungen
entsprächen den für das Jahr 2009 geltenden Vorschriften
des ErbStG. Diese Vorschriften seien verfassungsgemäß.
Die Klägerinnen hätten keinen Anspruch auf
erbschaftsteuerrechtliche Gleichbehandlung mit Ehegatten und
Lebenspartnern.
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Mit der Revision bekräftigen die
Klägerinnen ihre Ansicht, der Besteuerung müssten aus
verfassungsrechtlichen Gründen die für Ehegatten und
Lebenspartner geltenden Vorschriften zugrunde gelegt
werden.
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Die Klägerinnen beantragen, die
Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidungen vom 16.9.2010
aufzuheben und die Erbschaftsteuer unter Änderung der
angefochtenen Erbschaftsteuerbescheide jeweils auf 0 EUR
herabzusetzen.
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Das FA beantragt, die Revision als
unbegründet zurückzuweisen.
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Das FA erklärte durch die während
des Revisionsverfahrens ergangenen Änderungsbescheide vom
19.2.2013 die Steuerfestsetzungen gemäß § 165 Abs.
1 Satz 2 Nr. 3 der Abgabenordnung für vorläufig
hinsichtlich der Frage der Verfassungsmäßigkeit des
ErbStG.
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II. Die Revision ist aus verfahrensrechtlichen
Gründen begründet. Sie führt zur Aufhebung der
Vorentscheidung, weil sich während des Revisionsverfahrens die
Verfahrensgegenstände, über deren
Rechtmäßigkeit das FG zu entscheiden hatte,
geändert haben (§ 127 der Finanzgerichtsordnung - FGO -
). An die Stelle der angefochtenen Erbschaftsteuerbescheide vom
22.6.2010, über die das FG entschieden hat, sind während
des Revisionsverfahrens die Änderungsbescheide vom 19.2.2013
getreten, die nach § 121 Satz 1 i.V.m. § 68 Satz 1 FGO
Gegenstand des Verfahrens geworden sind. Diese Vorschriften gelten
auch, wenn ein angefochtener Bescheid lediglich um einen
Vorläufigkeitsvermerk ergänzt wird (Beschluss des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 15.10.2008 X B 60/07, BFH/NV 2009, 205
= SIS 09 02 91, unter II.1.a). Das angefochtene Urteil ist daher
gegenstandslos und aufzuheben (BFH-Urteile vom 2.3.2011 II R 5/09,
BFH/NV 2011, 1147 = SIS 11 19 17, Rz 23, und vom 28.6.2012 III R
86/09, BFHE 238, 68 = SIS 12 25 66, Rz 8, je m.w.N.).
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Dies ändert aber nichts daran, dass die
vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen die Grundlage
für die Entscheidung des BFH bilden; da das finanzgerichtliche
Verfahren nicht an einem Verfahrensmangel leidet, fallen die
Feststellungen durch die Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils
nämlich nicht weg (BFH-Urteile in BFH/NV 2011, 1147 = SIS 11 19 17, Rz 23, und in BFHE 238, 68 = SIS 12 25 66, Rz 9, je
m.w.N.).
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III. Die Sache ist spruchreif. Die Klagen sind
unbegründet und waren daher abzuweisen.
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1. Die angefochtenen Steuerbescheide
entsprechen den maßgebenden gesetzlichen Vorschriften. Die
Steuerbefreiung für Familienheime nach § 13 Nrn. 4b und
4c ErbStG steht nur überlebenden Ehegatten und Lebenspartnern
sowie Kindern, nicht aber Geschwistern zu. Der Freibetrag von
20.000 EUR ergibt sich aus § 16 Abs. 1 Nr. 5 ErbStG, der
Steuersatz von 30 % aus § 19 Abs. 1 ErbStG. Die
Klägerinnen und B gehören als Geschwister zu den Personen
der Steuerklasse II (§ 15 Abs. 1 Steuerklasse II Nr. 2
ErbStG).
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2. Weder die Beschränkung des
Anwendungsbereichs des § 13 Nrn. 4b und 4c ErbStG auf
überlebende Ehegatten, Lebenspartner und Kinder noch die
für das Jahr 2009 hinsichtlich der Freibeträge nach
§ 16 Abs. 1 ErbStG und der Steuersätze nach § 19
Abs. 1 ErbStG erfolgte Gleichstellung der Erwerber der
Steuerklassen II und III ist verfassungswidrig (BFH-Beschluss vom
27.9.2012 II R 9/11, BFHE 238, 241, BStBl II 2012, 899 = SIS 12 26 99, Rz 69 bis 77). Es liegt insbesondere kein Verstoß gegen
Art. 3 Abs. 1 oder Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) vor.
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3. Erwerber der Steuerklasse II wie etwa
Geschwister können nicht von Verfassungs wegen beanspruchen,
erbschaftsteuerrechtlich wie Ehegatten oder Lebenspartner
gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 4b, § 15 Abs. 1
Steuerklasse I Nr. 1, § 16 Abs. 1 Nr. 1, § 17 und §
19 Abs. 1 ErbStG (zur rückwirkenden Anwendung der auf
Lebenspartner bezogenen Neufassung der §§ 15, 16 und 17
durch Art. 14 Nr. 3 bis 5 des Gesetzes vom 8.12.2010, BGBl I 2010,
1768, vgl. § 37 Abs. 5 ErbStG) behandelt zu werden, und zwar
unabhängig von den konkreten Lebensverhältnissen.
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a) Unter Lebenspartnern im Sinne der genannten
Vorschriften sind nur Lebenspartner im Sinne des
Lebenspartnerschaftsgesetzes (LPartG) zu verstehen. Die
erbschaftsteuerrechtliche Gleichstellung von Ehegatten und
Lebenspartnern war verfassungsrechtlich geboten, da die
Ungleichbehandlung mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar war (Beschluss
des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 21.7.2010 1 BvR 611/07
u.a., BVerfGE 126, 400 = SIS 10 22 40). Zur Begründung verwies
das BVerfG darauf, dass eingetragene Lebenspartner wie Ehegatten in
einer auf Dauer angelegten, rechtlich verfestigten Partnerschaft
mit rechtlich verbindlicher Verantwortung für den Partner
lebten. Lebenspartnern stünden Unterhaltsansprüche zu,
die denjenigen von Ehegatten im Wesentlichen entsprächen (Rz
96, 102 f.).
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b) Eine solche rechtlich verfestigte, zur
erbschaftsteuerrechtlichen Gleichbehandlung mit Ehegatten und
(eingetragenen) Lebenspartnern zwingende Partnerschaft besteht
zwischen Geschwistern nicht (Weinmann in Moench/Weinmann, § 15
ErbStG Rz 4; Wachter, DB 2010, 1863, 1864). Während Ehegatten
gemäß § 1353 Abs. 1 Satz 2 des Bürgerlichen
Gesetzbuches (BGB) einander grundsätzlich zur ehelichen
Lebensgemeinschaft verpflichtet sind und füreinander
Verantwortung tragen und Lebenspartner einander zu Fürsorge
und Unterstützung sowie zur gemeinsamen Lebensgestaltung
verpflichtet sind und füreinander Verantwortung tragen (§
2 LPartG), gibt es Geschwistern gegenüber keine solche
rechtliche Verpflichtung. Anders als Ehegatten (§§ 1360
bis 1361, §§ 1569 bis 1586b BGB), Lebenspartner
(§§ 5, 12 und 16 LPartG) und Verwandte in gerader Linie
(§§ 1601 ff. BGB) sind Geschwister einander auch nicht
zum Unterhalt verpflichtet. Geschwistern steht zudem kein
Pflichtteilsrecht zu (§ 2303 BGB).
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c) Es ist auch nicht verfassungswidrig, dass
die Steuerklasseneinteilung in § 15 Abs. 1 ErbStG an die
bürgerlich-rechtlichen Vorgegebenheiten von Ehe,
(eingetragener) Lebenspartnerschaft, Verwandtschaft und
Schwägerschaft und nicht an tatsächliche Umstände
wie etwa das Bestehen einer Lebensgemeinschaft anknüpft
(BFH-Beschluss vom 27.10.1982 II B 77/81, BFHE 137, 76, BStBl II
1983, 114 = SIS 83 02 04; Kammerbeschlüsse des BVerfG vom
1.6.1983 1 BvR 107/83, BStBl II 1984, 172 = SIS 84 11 01; vom
15.11.1989 1 BvR 171/89, BStBl II 1990, 103 = SIS 90 25 02, und vom
15.5.1990 2 BvR 592/90, BStBl II 1990, 764 = SIS 90 25 03). §
15 Abs. 1 ErbStG nimmt eine rein formale Anknüpfung vor.
Persönliche Vertrautheit, gemeinsames Zusammenleben oder
langjährige Fürsorge spielen keine Rolle (BFH-Urteil vom
23.3.1998 II R 41/96, BFHE 185, 270, BStBl II 1998, 396 = SIS 98 15 06; vgl. ferner BFH-Beschlüsse vom 24.11.2005 II B 27/05,
BFH/NV 2006, 743 = SIS 06 15 24, und vom 18.7.2007 II B 106/06,
BFH/NV 2007, 2296 = SIS 08 01 15).
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Die Anknüpfung an rein formale
Gesichtspunkte dient der klaren, eindeutigen Abgrenzung der
Steuerklassen, vermeidet die Abgrenzungsschwierigkeiten, die mit
einer Ausrichtung der Steuerklassen an tatsächlichen
Verhältnissen notwendigerweise in großem Umfang
verbunden wären, und erübrigt eine unter Umständen
mit hohem Aufwand verbundene Sachverhaltsermittlung im privaten
Bereich. Hierbei handelt es sich um Gesichtspunkte, die die vom
Gesetzgeber vorgenommene Abgrenzung der Steuerklassen auch aus
verfassungsrechtlicher Sicht rechtfertigen. Steuergesetze
müssen, um praktikabel zu sein, Sachverhalte, an die sie
dieselben steuerrechtlichen Folgen knüpfen, typisieren und
damit in weitem Umfang die Besonderheiten nicht nur des einzelnen
Falles, sondern ggf. auch ganzer Gruppen vernachlässigen
(BFH-Beschluss in BFHE 238, 241, BStBl II 2012, 899 = SIS 12 26 99,
Rz 56, m.w.N.).
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Die Verfassungsmäßigkeit der
Steuerklasseneinteilung wurde in dem von den Klägerinnen
angeführten BFH-Urteil vom 15.1.1986 II R 14/84 (BFH/NV 1987,
302 = SIS 86 14 02) nicht infrage gestellt. In dieser Entscheidung
ging es vielmehr um das mögliche Bestehen einer
Innengesellschaft hinsichtlich des Erwerbs und der Bebauung eines
Grundstücks durch den Partner einer nichtehelichen
Lebensgemeinschaft.
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4. Wie der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte mit Urteil vom 29.4.2008 13378/05 (Neue
Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht 2009,
1606) auf der Grundlage des englischen Rechts entschieden hat,
gewährt Art. 14 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten (EMRK) i.V.m. Art. 1 des Zusatzprotokolls zur
EMRK Geschwistern auch dann nicht das Recht, bei der
Erbschaftsteuer wie Ehegatten oder eingetragene Lebenspartner
behandelt zu werden, wenn sie in einem gemeinsamen Haushalt
zusammenleben. Es fehle nämlich in einem solchen Fall an den
Rechten und Pflichten, die im Verhältnis von Ehegatten oder
eingetragenen Lebenspartnern zueinander bestünden. Die Dauer
der Verbindung oder die wechselseitige Unterstützung seien
nicht entscheidend.
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Die Rechtslage nach deutschem Recht entspricht
insoweit dem englischen Recht und führt danach auch unter
Berücksichtigung der EMRK zu keinem anderen Ergebnis.
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5. Da die Steuerfestsetzungen durch die
Änderungsbescheide vom 19.2.2013 für vorläufig
hinsichtlich der Frage der Verfassungsmäßigkeit des
ErbStG erklärt wurden, braucht das Verfahren nicht bis zur
Entscheidung des BVerfG über den Vorlagebeschluss des BFH in
BFHE 238, 241 BStBl II 2012, 899 = SIS 12 26 99 ausgesetzt zu
werden. Die Aussetzung wurde auch nicht beantragt.
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