1
|
I. Die Antragstellerin und
Beschwerdeführerin (Antragstellerin) ist die geschiedene
Ehefrau des im September 2011 verstorbenen Erblassers (E). Aufgrund
eines Vermächtnisses des E erhält sie auf Lebenszeit eine
monatliche Rente von 2.700 EUR.
|
|
|
2
|
Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das
Finanzamt - FA - ) setzte für den Erwerb der Antragstellerin
in Höhe von 342.015 EUR (Jahreswert der Rente 32.400 EUR x
Vervielfältiger 10,556) mit Bescheid vom 1.10.2012
Erbschaftsteuer in Höhe von 71.000 EUR fest, die die
Antragstellerin am 2.11.2012 entrichtete.
|
|
|
3
|
Mit dem Einspruch machte die
Antragstellerin im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des
Bundesfinanzhofs (BFH) vom 27.9.2012 II R 9/11 (BFHE 238, 241,
BStBl II 2012, 899 = SIS 12 26 99) und das damit beim
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängige Verfahren 1 BvL
21/12 die Verfassungswidrigkeit des Erbschaftsteuer- und
Schenkungsteuergesetzes in der Fassung des
Erbschaftsteuerreformgesetzes vom 24.12.2008 - ErbStG - (BGBl I
2008, 3018) geltend. Das Einspruchsverfahren ruht bis zu einer
Entscheidung des BVerfG im Verfahren 1 BvL 21/12.
|
|
|
4
|
Die von der Antragstellerin beantragte
Aussetzung der Vollziehung (AdV) lehnte das FA ab. Die beim
Finanzgericht (FG) beantragte Aufhebung der Vollziehung wurde
ebenfalls abgelehnt. Das FG führte zur Begründung aus,
das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin überwiege nicht
die öffentlichen Interessen am ordnungsgemäßen
Gesetzesvollzug und an einer geordneten Haushaltsführung. Die
festgesetzte Erbschaftsteuer belaufe sich nur auf knapp 25 % des
Erwerbs. Die Antragstellerin könne etwaige finanzielle
Härten durch die Wahl der Jahresversteuerung gemäß
§ 23 ErbStG abmildern. Die Gewährung einer Aufhebung der
Vollziehung käme dagegen einem einstweiligen
Außerkraftsetzen des ErbStG gleich.
|
|
|
5
|
Mit der Beschwerde rügt die
Antragstellerin die Verletzung des § 69 Abs. 2 Sätze 2
und 7 sowie Abs. 3 Sätze 1 und 3 der Finanzgerichtsordnung
(FGO). Die nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG)
gewährleistete Garantie auf effektiven Rechtsschutz könne
einem Steuerpflichtigen bei einem Verstoß gegen den
Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht dadurch faktisch
entzogen werden, dass nach der Rechtsprechung des BFH dem
öffentlichen Interesse an einer geordneten Haushaltswirtschaft
der Vorrang vor dem Interesse des Steuerpflichtigen an einer AdV
eingeräumt werde (vgl. BFH-Beschluss vom 1.4.2010 II B 168/09,
BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558 = SIS 10 08 14). Außerdem
fehle eine gesetzliche Grundlage, die bei ernstlichen Zweifeln an
der Verfassungsmäßigkeit einer der Besteuerung zugrunde
gelegten Norm ein besonderes berechtigtes Interesse des
Steuerpflichtigen an der AdV verlange. Die Ablehnung der AdV sei
auch nicht damit zu rechtfertigen, dass nach der Rechtsprechung des
BFH (II. Senat) regelmäßig keine weitergehende
Entscheidung getroffen werden könne als vom BVerfG zu erwarten
sei (vgl. BFH-Beschluss vom 17.7.2003 II B 20/03, BFHE 202, 380,
BStBl II 2003, 807 = SIS 03 38 19). Dies bedeute eine Vorwegnahme
der Entscheidung in der Hauptsache, weil die fortgesetzte
Vollziehung aller Erbschaftsteuerbescheide kaum
rückgängig zu machen sei und damit für den einzelnen
Steuerpflichtigen dauerhaft nachteilige Wirkungen habe.
|
|
|
6
|
Die Antragstellerin beantragt, die
Vorentscheidung und die Vollziehung des Erbschaftsteuerbescheids
vom 1.10.2012 aufzuheben.
|
|
|
7
|
Das FA beantragt, die Beschwerde als
unbegründet zurückzuweisen.
|
|
|
8
|
II. Die Beschwerde ist begründet. Die
Vorentscheidung und die Vollziehung des angefochtenen
Erbschaftsteuerbescheids sind aufzuheben. Entgegen der Auffassung
des FG kommt dem Interesse der Antragstellerin an der Aufhebung der
Vollziehung der Vorrang gegenüber dem öffentlichen
Interesse am Vollzug des ErbStG zu.
|
|
|
9
|
1. An der Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Erbschaftsteuerbescheids bestehen - wie das FG
zutreffend ausgeführt hat - ernstliche Zweifel i.S. von §
69 Abs. 2 Satz 2 FGO.
|
|
|
10
|
a) Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2
Satz 2 FGO hat das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines
angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise auszusetzen,
wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
Verwaltungsaktes bestehen. Ernstliche Zweifel sind zu bejahen, wenn
bei summarischer Prüfung des angefochtenen Steuerbescheids
neben den für seine Rechtmäßigkeit sprechenden
Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die
Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von
Rechtsfragen bewirken (ständige Rechtsprechung, vgl.
BFH-Beschluss vom 3.4.2013 V B 125/12, BFHE 240, 447 = SIS 13 11 92, m.w.N.). Im Falle eines bereits vollzogenen Verwaltungsaktes
ist die Vollziehung wieder aufzuheben (§ 69 Abs. 3 Satz 3
FGO).
|
|
|
11
|
b) Im Streitfall bestehen ernstliche Zweifel
an der Verfassungsmäßigkeit der Tarifvorschrift des
§ 19 Abs. 1 ErbStG. Beim BVerfG ist unter dem Az. 1 BvL 21/12
ein Normenkontrollverfahren zu der Frage anhängig, ob die
Vorschrift des § 19 Abs. 1 ErbStG i.V.m. §§ 13a und
13b ErbStG wegen Verstoßes gegen den allgemeinen
Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verfassungswidrig ist, weil die
in §§ 13a und 13b ErbStG vorgesehenen
Steuervergünstigungen in wesentlichen Teilbereichen von
großer finanzieller Tragweite über das
verfassungsrechtlich gerechtfertigte Maß hinausgehen und
dadurch die Steuerpflichtigen, die die Vergünstigungen nicht
beanspruchen können, in ihrem Recht auf eine
gleichmäßige, der Leistungsfähigkeit entsprechende
und folgerichtige Besteuerung verletzt werden (vgl.
Vorlagebeschluss des BFH in BFHE 238, 241, BStBl II 2012, 899 = SIS 12 26 99).
|
|
|
12
|
2. Das Interesse der Antragstellerin an der
Aufhebung der Vollziehung ist gegenüber dem öffentlichen
Interesse am Vollzug des ErbStG vorrangig.
|
|
|
13
|
a) Nach ständiger Rechtsprechung setzt
eine Aufhebung der Vollziehung, die mit ernstlichen Zweifeln an der
Verfassungsmäßigkeit einer dem angefochtenen
Steuerbescheid zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift begründet
wird, voraus, dass nach den Umständen des Einzelfalles ein
besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht, dem der
Vorrang vor dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes
zukommt (vgl. BFH-Beschlüsse in BFHE 228, 149, BStBl II 2010,
558 = SIS 10 08 14; vom 21.5.2010 IV B 88/09, BFH/NV 2010, 1613 =
SIS 10 26 32; vom 9.3.2012 VII B 171/11, BFHE 236, 206, BStBl II
2012, 418 = SIS 12 07 39; vom 13.3.2012 I B 111/11, BFHE 236, 501,
BStBl II 2012, 611 = SIS 12 12 74; vom 9.5.2012 I B 18/12, BFH/NV
2012, 1489 = SIS 12 21 91; vom 18.6.2012 II B 17/12, BFH/NV 2012,
1652 = SIS 12 24 80; Erfordernis eines berechtigten Interesses
offen gelassen: BFH-Beschlüsse vom 23.8.2007 VI B 42/07, BFHE
218, 558, BStBl II 2007, 799 = SIS 07 31 55, und vom 25.8.2009 VI B
69/09, BFHE 226, 85, BStBl II 2009, 826 = SIS 09 28 98).
|
|
|
14
|
Das BVerfG hat dieser Rechtsprechung im
Grundsatz zugestimmt (BVerfG-Beschlüsse vom 6.4.1988 1 BvR
146/88, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -,
Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 283; vom 3.4.1992 2
BvR 283/92, HFR 1992, 726; kritisch insoweit Niedersächsisches
FG, Beschluss vom 6.1.2011 7 V 66/10, EFG 2011, 827 = SIS 11 11 14;
Gosch in Beermann/Gosch, FGO, § 69 Rz 179 ff.;
Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 69 Rz
113; Schallmoser, DStR 2010, 297 ff.; Seer in Tipke/Kruse,
Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz 97;
Specker, DStZ 2010, 800, 802 f.; einschränkend auch FG
Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.10.2011 12 V 12089/11, EFG
2012, 358 = SIS 11 40 90). In neueren Entscheidungen hat das BVerfG
die Frage, ob die Rechtsprechung des BFH (in BFHE 228, 149, BStBl
II 2010, 558 = SIS 10 08 14) in jeder Hinsicht mit Art. 19 Abs. 4
GG vereinbar ist, wegen der fehlenden Entscheidungserheblichkeit
offen gelassen (BVerfG-Beschlüsse vom 24.10.2011 1 BvR
1848/11, 1 BvR 2162/11, HFR 2012, 89 = SIS 12 07 62, und vom
6.5.2013 1 BvR 821/13, HFR 2013, 639 = SIS 13 24 82).
|
|
|
15
|
b) Bei der Prüfung, ob ein berechtigtes
Interesse des Steuerpflichtigen an der Aussetzung bzw. der
Aufhebung der Vollziehung eines Steuerbescheids vorliegt, ist das
individuelle Interesse des Steuerpflichtigen mit den gegen die
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sprechenden
öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es
maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des
durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids
eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf
die Auswirkungen einer Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung
auf den Gesetzesvollzug und das öffentliche Interesse an einer
geordneten Haushaltsführung an (BFH-Beschlüsse in BFHE
228, 149, BStBl II 2010, 558 = SIS 10 08 14; in BFHE 236, 206,
BStBl II 2012, 418 = SIS 12 07 39; in BFHE 236, 501, BStBl II 2012,
611 = SIS 12 12 74; in BFH/NV 2012, 1489 = SIS 12 21 91).
|
|
|
16
|
c) Allerdings hat der BFH in Fällen, in
denen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
Verwaltungsaktes auf Bedenken gegen die
Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde
liegenden Gesetzesvorschrift beruhen, in verschiedenen Fallgruppen
dem Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen den Vorrang vor den
öffentlichen Interessen eingeräumt (vgl. BFH-Beschluss in
BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558 = SIS 10 08 14, m.w.N.). Dazu
zählt auch der Fall, dass der BFH die vom Antragsteller als
verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits dem BVerfG
gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung der
Verfassungsmäßigkeit vorgelegt hat (vgl.
BFH-Beschlüsse in BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558 = SIS 10 08 14, und vom 23.4.2012 III B 187/11, BFH/NV 2012, 1328 = SIS 12 19 19, jeweils m.w.N.).
|
|
|
17
|
Bis zur Entscheidung des BVerfG ist zwar
ungewiss, ob dieses die Vorschrift als verfassungswidrig beurteilen
und im Fall einer Verfassungswidrigkeit für nichtig oder (nur)
für mit dem GG unvereinbar erklären wird und welche
Rechtsfolge es hieraus ziehen wird. Jedoch hat der BFH
vorläufigen Rechtsschutz auf der Basis seiner, der Vorlage
zugrunde liegenden Rechtsauffassung zu gewähren (vgl.
BFH-Beschluss vom 22.12.2003 IX B 177/02, BFHE 204, 39, BStBl II
2004, 367 = SIS 04 05 91, m.w.N.). Eine Einschränkung des
vorläufigen Rechtsschutzes bei
Verfassungsverstößen, von denen das Gericht
überzeugt ist, gegenüber dem bei sonstigen
Rechtsverstößen zu gewährenden vorläufigen
Rechtsschutz ist dem rechtsuchenden Steuerpflichtigen im Hinblick
auf seinen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG)
nicht zuzumuten (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 204, 39, BStBl II 2004,
367 = SIS 04 05 91). Mit dem Begehren nach vorläufigem
Rechtsschutz muss der Steuerpflichtige auch in Kauf nehmen, dass
bei einer Erfolglosigkeit des Einspruchs oder der Klage gegen den
Steuerbescheid Aussetzungszinsen nach § 237 der Abgabenordnung
(AO) anfallen, die für jeden Monat ein halbes Prozent betragen
(§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO).
|
|
|
18
|
d) Ist - wie bei der Erbschaftsteuer - die dem
BVerfG zur Prüfung vorgelegte Vorschrift allerdings eine
Tarifnorm, muss im Rahmen der Interessensabwägung auch
berücksichtigt werden, dass in diesem Fall die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes praktisch zu einer einstweiligen
Nichterhebung der gesamten Steuer führen kann. Die Kompetenz,
den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, steht aber nach § 32
Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht allein
dem BVerfG zu, das von dieser Möglichkeit nur bei Vorliegen
besonders gewichtiger Gründe Gebrauch machen darf
(BVerfG-Beschluss vom 22.5.2001 2 BvQ 48/00, BVerfGE 104, 23, 27
f.). Dennoch hat ein Steuerpflichtiger auch in einem solchen Fall
Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Nur in Ausnahmefällen
können überwiegende öffentliche Belange es
rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers
einstweilen zurückzustellen (vgl. BVerfG-Beschluss in StRK,
Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 283).
|
|
|
19
|
e) Nachdem zur Prüfung der
Verfassungsmäßigkeit des § 19 Abs. 1 ErbStG i.V.m.
§§ 13a und 13b ErbStG aufgrund des Vorlagebeschlusses des
BFH (in BFHE 238, 241, BStBl II 2012, 899 = SIS 12 26 99) ein
Normenkontrollverfahren beim BVerfG anhängig ist, ist die
Vollziehung eines auf § 19 Abs. 1 ErbStG beruhenden
Erbschaftsteuerbescheids auf Antrag des Steuerpflichtigen
auszusetzen oder aufzuheben, wenn ein berechtigtes Interesse des
Steuerpflichtigen an der Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes besteht. Ein berechtigtes Interesse liegt jedenfalls
vor, wenn der Steuerpflichtige mangels des Erwerbs liquider Mittel
(wie z.B. Bargeld, Bankguthaben, mit dem Ableben des Erblassers
fällige Versicherungsforderungen) zur Entrichtung der
festgesetzten Erbschaftsteuer eigenes Vermögen einsetzen oder
die erworbenen Vermögensgegenstände veräußern
oder belasten muss. In diesen Fällen kann der Erwerber die
Erbschaftsteuer nicht bzw. nicht ohne weitere, ggf. auch
verlustbringende Dispositionen aus dem Erwerb begleichen. Es ist
ihm hier deshalb nicht zuzumuten, die Erbschaftsteuer
vorläufig zu entrichten. Wegen des vorrangigen Interesses des
Steuerpflichtigen steht der Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes nicht entgegen, dass das ErbStG als formell zustande
gekommenes Gesetz bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des
BVerfG Geltung beansprucht und von den Behörden und Gerichten
anzuwenden ist.
|
|
|
20
|
Gehören dagegen zu dem der
Erbschaftsteuer unterliegenden Erwerb auch verfügbare
Zahlungsmittel, die zur Entrichtung der Erbschaftsteuer eingesetzt
werden können, fehlt regelmäßig ein vorrangiges
Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes. Durch die Begleichung der
Erbschaftsteuer vermindern sich lediglich die dem Steuerpflichtigen
mit dem Erwerb zugeflossenen Zahlungsmittel, so dass die
vorläufige Zahlung der Erbschaftsteuer dem Steuerpflichtigen
zuzumuten ist.
|
|
|
21
|
f) Im Streitfall ist das Interesse der
Antragstellerin an der Aufhebung der Vollziehung des
Erbschaftsteuerbescheids gegenüber dem öffentlichen
Interesse am Vollzug des ErbStG vorrangig.
|
|
|
22
|
aa) Die Antragstellerin konnte die mit
Bescheid vom 1.10.2012 festgesetzte Erbschaftsteuer von 71.000 EUR
bei Fälligkeit nicht aus den ihr zu diesem Zeitpunkt
zugeflossenen Rentenzahlungen von monatlich 2.700 EUR entrichten.
Wegen des Ansatzes der Rente nach § 12 Abs. 1 ErbStG i.V.m.
§ 14 Abs. 1 des Bewertungsgesetzes mit dem Kapitalwert war ein
Erwerb nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG in Höhe von 342.015
EUR (Jahreswert der Rente 32.400 EUR x Vervielfältiger 10,556)
zu besteuern. Die dafür festgesetzte Erbschaftsteuer
überstieg zum Zeitpunkt der Fälligkeit die
Rentenzahlungen, die die Antragstellerin bis dahin für die
Zeit nach dem Ableben des E (im September 2011) erhalten hatte. Die
Rentenzahlungen dienten im Übrigen - nach dem unbestrittenen
Vortrag der Antragstellerin im Einspruchsverfahren - der
Bestreitung ihres Lebensunterhalts, so dass die Antragstellerin den
Zahlungseingang von vornherein allenfalls nur in einem hier zu
vernachlässigenden Umfang zur Begleichung der Erbschaftsteuer
verwenden konnte. Die Erbschaftsteuer musste überwiegend aus
eigenen Mitteln der Antragstellerin entrichtet werden. Im Hinblick
darauf ist derzeit ein berechtigtes Interesse der Antragstellerin
an der Aufhebung der Vollziehung des Erbschaftsteuerbescheids auch
insoweit gegeben, als sie in der Zeit ab Fälligkeit der
Erbschaftsteuer bis zur Entscheidung über die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes weiterhin Rentenzahlungen erhalten
hat. Dies schließt einen späteren Änderungsantrag
nach § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO nicht aus.
|
|
|
23
|
bb) Der Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes kann nicht entgegen gehalten werden, dass die
Antragstellerin das Wahlrecht nach § 23 ErbStG hätte
ausüben können.
|
|
|
24
|
Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 ErbStG
können Steuern, die von dem Kapitalwert von Renten zu
entrichten sind, nach Wahl des Erwerbers statt vom Kapitalwert
jährlich im Voraus von dem Jahreswert entrichtet werden. Durch
das Wahlrecht soll die unbillige Härte abgemildert werden, die
sich aus der Besteuerung von Renten mit dem Kapitalwert ergibt,
wenn dem Erwerber zur Begleichung der hohen Steuer die liquiden
Mittel fehlen (vgl. Schuck in Viskorf/Knobel/Schuck,
Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, Bewertungsgesetz, 4.
Aufl., § 23 ErbStG Rz 1). Das Wahlrecht ist jedoch mit dem
Nachteil verbunden, dass die Erbschaftsteuer in diesem Fall nach
der wirklichen und nicht nach der auf der
Wahrscheinlichkeitsrechnung beruhenden Lebensdauer erhoben wird;
lebt der Berechtigte länger als es der
Wahrscheinlichkeitsrechnung entspricht, so ist die Gesamtbelastung
höher (vgl. Schuck, a.a.O., § 23 ErbStG Rz 16). Zudem
muss auch bei Ausübung dieses Wahlrechts die Erbschaftsteuer
jährlich im Voraus beglichen werden. Der Antragstellerin muss
deshalb die Entscheidung überlassen bleiben, ob sie das
gesetzliche Wahlrecht in Anspruch nimmt oder nicht. Allein das
Bestehen des einfachgesetzlichen Wahlrechts nach § 23 ErbStG
kann nicht dazu führen, das grundgesetzlich geschützte
Recht der Antragstellerin auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19
Abs. 4 GG einzuschränken. Der Antragstellerin stehen beide
Rechte gleichermaßen zu.
|
|
|
25
|
3. Soweit der Senat bisher vorläufigen
Rechtsschutz versagt hat, wenn zu erwarten ist, dass das BVerfG
lediglich die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem GG aussprechen
und dem Gesetzgeber eine Nachbesserungspflicht für die Zukunft
aufgeben wird (vgl. BFH-Beschlüsse vom 11.6.1986 II B 49/83,
BFHE 146, 474, BStBl II 1986, 782 = SIS 86 15 15; vom 11.9.1996 II
B 32/96, BFH/NV 1997, 270 = SIS 97 05 51; in BFHE 202, 380, BStBl
II 2003, 807 = SIS 03 38 19; vom 5.4.2011 II B 153/10, BFHE 232,
380, BStBl II 2011, 942 = SIS 11 13 27; vom 4.5.2011 II B 151/10,
BFH/NV 2011, 1395 = SIS 11 23 79), wird daran im Hinblick auf die
geäußerte Kritik (vgl. Seer, a.a.O., § 69 FGO Rz
96; derselbe, DStR 2012, 325, 328 f.; Gosch, a.a.O., § 69 Rz
180.1; Gräber/Koch, a.a.O., § 69 Rz 113; Anwendung offen
gelassen: BFH-Beschlüsse in BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611
= SIS 12 12 74, und in BFH/NV 2012, 1489 = SIS 12 21 91) nicht mehr
festgehalten.
|
|
|
26
|
Es ist nicht gerechtfertigt, aufgrund einer
Prognose über die Entscheidung des BVerfG vorläufigen
Rechtsschutz generell auszuschließen. Ist ein qualifiziertes
Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes vorhanden, muss es im Hinblick auf
Art. 19 Abs. 4 GG auch effektiv durchsetzbar sein und darf nicht
deshalb leerlaufen, weil das BVerfG möglicherweise in einem
Normenkontrollverfahren eine Weitergeltung verfassungswidriger
Normen anordnet. Aus diesem Grund ist auch im Streitfall eine
Aufhebung der Vollziehung unabhängig davon zu gewähren,
ob das BVerfG im Verfahren 1 BvR 21/12 für den Fall, dass es
zu der Überzeugung gelangt, § 19 Abs. 1 ErbStG sei mit
dem GG unvereinbar, die Norm für nichtig erklärt oder
wiederum eine zeitlich beschränkte Weitergeltung anordnet.
Sollte das BVerfG eine solche Weitergeltungsanordnung treffen und
dem Gesetzgeber eine Neuregelung aufgeben, besteht auch die
Möglichkeit, dass die Neuregelung des ErbStG den
Steuerpflichtigen, deren Erwerbe zeitlich von der
Weitergeltungsanordnung erfasst werden, ein Wahlrecht auf Anwendung
des neuen Rechts einräumt.
|
|
|
27
|
4. Die Vollziehung des
Erbschaftsteuerbescheids vom 1.10.2012 war ohne Sicherheitsleistung
aufzuheben.
|
|
|
28
|
Nach § 69 Abs. 3 Satz 3 FGO kann die
Aufhebung der Vollziehung auch gegen Sicherheit angeordnet werden.
Durch die Verknüpfung mit einer Sicherheitsleistung sollen
Steuerausfälle bei einem für den Steuerpflichtigen
ungünstigen Verfahrensausgang vermieden werden. Die
Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ist
regelmäßig ohne Sicherheitsleistung auszusetzen, wenn
seine Rechtmäßigkeit ernstlich zweifelhaft ist und keine
konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass bei einem
Unterliegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren die
Durchsetzung des Steueranspruchs gefährdet wäre
(BFH-Beschluss vom 12.9.2011 VIII B 70/09, BFH/NV 2012, 229 = SIS 12 00 47, Rz 21). Im Streitfall gibt es keine Anzeichen dafür,
dass die Antragstellerin nicht über eine gesicherte
Vermögenslage verfügt und daher die Gefahr eines
Steuerausfalls besteht.
|