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I. Sachverhalt
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Die Beteiligten streiten darüber, ob im
Jahr 2005 (Streitjahr) eine umsatzsteuerrechtliche Organschaft
zwischen der (A) als Organträgerin und der Klägerin und
Revisionsbeklagten (Klägerin) als Organgesellschaft
bestand.
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2
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Die Klägerin ist eine Gesellschaft mit
beschränkter Haftung, die durch notarielle Urkunde vom
29.08.2005 errichtet wurde. Gesellschafter der Klägerin sind A
(zu 51 %) und die (C e.V.) zu 49 %. A ist eine Körperschaft
des öffentlichen Rechts. C e.V. ist ein eingetragener Verein
(Vereinsregister des Amtsgerichts). Alleiniger
Geschäftsführer der Klägerin war im Streitjahr (E),
der zugleich alleiniger Geschäftsführer der A und
geschäftsführender Vorstand des C e.V. war.
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Vor der Gründung der Klägerin waren
dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA - ) zwei
Entwürfe des Gesellschaftsvertrags zur Stellungnahme im
Hinblick auf das Vorliegen einer umsatzsteuerrechtlichen
Organschaft vorgelegt worden. Hierbei handelte es sich um den
Gesellschaftsvertrag „Stand ...“ (Version 1) und
den Gesellschaftsvertrag „Stand ...“ (Version
2). Mit Schreiben vom 29.12.2004 teilte das FA mit, dass nur die
Version 2 die Anforderungen an die finanzielle Eingliederung
erfülle.
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Am 29.08.2005 notariell beurkundet wurde
jedoch Version 1. § 7 Abs. 2 dieses Gesellschaftsvertrags
enthielt zur Gesellschafterversammlung folgende Regelung:
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„Die Gesellschafterversammlung wird
gebildet aus den Mitgliedern des Hilfswerksausschusses der A und
des Hauptausschusses des C e.V. Jeder Gesellschafter hat 7 Stimmen
und entsendet in die Gesellschafterversammlung bis zu 7
Vertreter/innen, die für diese Gesellschaft
ausschließlich ehrenamtlich tätig sind. Vorbehaltlich
der nachfolgenden Regelungen hat jeder/e Vertreter/in eine Stimme
und entscheidet nach eigenem pflichtgemäßem Ermessen und
ist dabei nicht an Vorgaben des ihn entsendenden Gesellschafters
gebunden.
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Eine Ausnahme gilt nur für
Entscheidungen, die unmittelbar das jeweils von einem
Gesellschafter der Gesellschaft zur Verfügung gestellte
Anlagevermögen betreffen; in diesem Fall können die
Stimmen nur pro Gesellschafter einheitlich abgegeben werden und die
Vertreter/innen sind an die Anweisungen des entsendenden
Gesellschafters gebunden. Können sie sich untereinander nicht
einigen, gelten alle 7 Stimmen des betroffenen Gesellschafters als
in der Weise abgegeben, wie die Mehrheit der von ihm entsandten
Vertreter/innen abgestimmt hat.“
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Die Klägerin wurde am 17.10.2005 unter
Verweis auf den am 29.08.2005 geschlossenen Gesellschaftsvertrag
(in der Version 1) in das Handelsregister eingetragen.
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In der gemeinsamen Sitzung des
Hilfswerkausschusses der A, des Hauptausschusses des C e.V. und der
Gesellschafterversammlung der Klägerin vom 01.12.2005
beschlossen der Hilfswerkausschuss und der Hauptausschuss jeweils
einstimmig, den Beschluss der Geschäftsführung zu
genehmigen und den Gesellschaftsvertrag der Klägerin
„gemäß Version 2 abzuändern“.
Zur Begründung der Änderung enthielt die Niederschrift
die Angabe, dass aufgrund der sich abzeichnenden Probleme mit dem
FA, die Organschaft der A nicht zuerkennen zu wollen, der
Gesellschaftsvertrag gemäß Version 2 abgeändert
werden müsse. Eine notarielle Beurkundung und Eintragung in
das Handelsregister unterblieben jedoch zunächst. Erst in der
Gesellschafterversammlung vom 09.12.2010 (Nr. ... der Urkundenrolle
des Notars X für 2010) bestätigten die Erschienenen den
Beschluss vom 01.12.2005. § 7 Abs. 2 Unterabs. 2 des
Gesellschaftsvertrags wurde gemäß der Version 2 wie
folgt abgeändert (Änderungen unterstrichen):
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„Eine Ausnahme gilt nur für
Entscheidungen, die unmittelbar das jeweils von einem
Gesellschafter der Gesellschaft zur Verfügung gestellte
Anlagevermögen betreffen oder für die ein
Gesellschafter einheitliche Stimmabgabe beantragt. In diesem
Fall können die Stimmen nur pro Gesellschafter einheitlich
abgegeben werden und die Vertreter/innen sind an die Anweisungen
des entsendenden Gesellschafters gebunden. Können sie sich
untereinander nicht einigen, gelten alle 7 Stimmen des betroffenen
Gesellschafters als in der Weise abgegeben, wie die Mehrheit der
von ihm entsandten Vertreter/innen abgestimmt hat. Bei
einheitlicher Stimmabgabe werden die Stimmen gemäß dem
Gesellschaftsanteil gewertet.“
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9
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Im Rahmen einer Außenprüfung bei
der Klägerin nahm der Prüfer an, dass es im Streitjahr an
einer finanziellen Eingliederung der Klägerin in das
Unternehmen der A gefehlt habe. A sei zwar mit 51 % mehrheitlich am
Gesellschaftskapital der Klägerin beteiligt gewesen, habe aber
aufgrund der Regelungen in § 7 des Gesellschaftsvertrags nicht
über eine Stimmrechtsmehrheit verfügt und sei damit nicht
in der Lage gewesen, Beschlüsse bei der Klägerin
durchzusetzen. Die im Streitjahr von der Klägerin erzielten
Umsätze zum Regelsteuersatz gegenüber Dritten (... EUR)
und aus den Leistungen gegenüber A (... EUR) seien damit bei
der Klägerin als Unternehmerin zu erfassen. In Höhe von
insgesamt 10.412 EUR stehe ihr der Vorsteuerabzug zu.
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Am 30.12.2013 reichte die Klägerin beim
FA eine Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr ein, die
einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung
gleichsteht (§ 168 Satz 1 der Abgabenordnung - AO - ). Das FA
folgte der Auffassung des Prüfers und hob mit Bescheid vom
30.05.2014 den Vorbehalt der Nachprüfung auf.
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Am 30.06.2014 legte die Klägerin
Einspruch gegen den Bescheid ein. Im Laufe des Einspruchsverfahrens
zog das FA gemäß § 174 Abs. 5 Satz 2 AO A zum
Einspruchsverfahren hinzu.
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Mit Einspruchsentscheidung vom 03.02.2017 wies
das FA den Einspruch der Klägerin als unbegründet
zurück. Zwischen der Klägerin und A bestehe keine
Organschaft, da die Voraussetzungen der finanziellen Eingliederung
nicht erfüllt seien. Die Klägerin könne sich auch
nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der EuGH eine finanzielle
Eingliederung in Form eines Über- und
Unterordnungsverhältnisses für die Anerkennung einer
Organschaft nicht mehr voraussetze.
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Das Schleswig-Holsteinische Finanzgericht (FG)
gab der Klage mit seinem in EFG 2018, 1138 veröffentlichten
Urteil vom 06.02.2018 - 4 K 35/17 statt, indem es die Umsatzsteuer
auf 0 EUR festsetzte. Das FA habe zu Unrecht das Vorliegen einer
Organschaft zwischen der Klägerin als Organgesellschaft und A
als Organträgerin abgelehnt. Die finanzielle Eingliederung
ergebe sich zwar (noch) nicht aus der - im Streitjahr noch nicht
wirksamen - Version 2 des § 7 Abs. 2 Unterabs. 2 des
Gesellschaftsvertrags. Die Version 2 sei gemäß § 54
Abs. 3 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit
beschränkter Haftung erst mit der Eintragung der
Abänderung des Gesellschaftsvertrags in das Handelsregister
rechtlich wirksam geworden und für die Beurteilung des
für die finanzielle Eingliederung maßgeblichen
Stimmrechts komme es auf die im (Außen-)Verhältnis
gegenüber Dritten geltenden Regelungen des
Gesellschaftsvertrags an.
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Die Klägerin sei jedoch auch auf der
Grundlage der Version 1 des § 7 Abs. 2 Unterabs. 2 des
Gesellschaftsvertrags finanziell in das Unternehmen der A
eingegliedert gewesen. Der EuGH habe mit Urteil Larentia + Minerva
vom 16.07.2015 - C-108/14 und C-109/14 (EU:C:2015:496,
Bundessteuerblatt - BStBl - II 2017, 604, Rz 44 f.) entschieden,
dass ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen dem
Organträger und der Organgesellschaft keine notwendige
Voraussetzung für die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe im
Sinne (i.S.) der Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des
Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
(Richtlinie 2006/112/EG) sei. Die Mehrheitsbeteiligung der A an der
Klägerin ermögliche die rechtssichere Bestimmung der A
als Organträgerin, da C e.V. als Minderheitsgesellschafter von
der Stellung als Organträger ausgeschlossen sei. Im Hinblick
auf den unionsrechtlichen Rechtfertigungsgrund der Verhinderung von
Missbräuchen sowie der Vermeidung der Steuerhinterziehung oder
-umgehung sei im Streitfall weder vorgetragen noch aus den
vorliegenden Steuerakten erkennbar, dass derartige Verhaltensweisen
der an der Organschaft beteiligten Gesellschaften vorlägen.
Das über die Mehrheitsbeteiligung hinausgehende Erfordernis
einer Stimmrechtsmehrheit gehe damit über das hinaus, was im
Streitfall zur Erreichung dieser Ziele geeignet und erforderlich
sei.
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Mit der Revision rügt das FA die
Verletzung materiellen Rechts (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 des
Umsatzsteuergesetzes - UStG - ). Es macht geltend, die für
eine Organschaft erforderliche finanzielle Eingliederung liege
nicht vor.
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Das FA beantragt, die Vorentscheidung
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt, die Revision als
unbegründet zurückzuweisen.
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Sie verteidigt die angefochtene
Vorentscheidung. Hilfsweise trägt sie vor, die Unwirksamkeit
des Beschlusses vom 01.12.2005 sei gemäß § 41 Abs.
1 Satz 1 AO unbeachtlich.
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II. Maßgebliche Rechtsvorschriften
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1. Nationales Recht
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a) § 2 UStG lautet auszugsweise wie
folgt:
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„(1) Unternehmer ist, wer eine
gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig
ausübt. Das Unternehmen umfasst die gesamte gewerbliche oder
berufliche Tätigkeit des Unternehmers. Gewerblich oder
beruflich ist jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von
Einnahmen, auch wenn die Absicht, Gewinn zu erzielen, fehlt oder
eine Personenvereinigung nur gegenüber ihren Mitgliedern
tätig wird.
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(2) Die gewerbliche oder berufliche
Tätigkeit wird nicht selbständig ausgeübt,
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1. soweit natürliche Personen, einzeln
oder zusammengeschlossen, einem Unternehmen so eingegliedert sind,
dass sie den Weisungen des Unternehmers zu folgen verpflichtet
sind;
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2. wenn eine juristische Person nach dem
Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell,
wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des
Organträgers eingegliedert ist (Organschaft). Die Wirkungen
der Organschaft sind auf Innenleistungen zwischen den im Inland
gelegenen Unternehmensteilen beschränkt. Diese
Unternehmensteile sind als ein Unternehmen zu behandeln.
…“
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b) Die rechtliche Begründung dafür,
dass bei Vorliegen der Eingliederungsmerkmale die Organgesellschaft
nicht selbständig ist, war noch deutlicher in § 2 Abs. 2
Nr. 2 Satz 1 und 2 UStG 1934/1951 (Bundesgesetzblatt - BGBl - I
1951, 791), zuletzt in der Fassung (i.d.F.) des Elften Gesetzes zur
Änderung des UStG vom 16.08.1961 (BGBl I 1961, 1330) erkennbar
(vergleiche - vgl. - dazu zum Beispiel - z.B. - Urteile des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 02.08.1979 - V R 111/77, Sammlung der
Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFHE - 128, 557, BStBl II
1980, 20 = SIS 80 00 16, Rz 8 ff.; vom 17.02.1982 - II R 136/79,
BFHE 135, 348, BStBl II 1982, 416 = SIS 82 25 71, Rz 12). Dort
hieß es:
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„(2) Die gewerbliche oder berufliche
Tätigkeit wird nicht selbständig ausgeübt,
…
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2. wenn eine juristische Person dem Willen
eines Unternehmers derart untergeordnet ist, dass sie keinen
eigenen Willen hat (Organgesellschaft). Diese Voraussetzung ist
erfüllt, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen
Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in
sein Unternehmen eingegliedert ist.“
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Dieser Wortlaut findet sich in wesentlichen
Teilen heute noch in § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 und 2 des
österreichischen UStG.
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c) § 13a Abs. 1 UStG sieht auszugsweise
vor:
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„(1) Steuerschuldner ist in den
Fällen
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1. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 und des §
14c Abs. 1 der Unternehmer; …“
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d) § 73 AO regelt in der im Streitjahr
geltenden Fassung:
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29
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„Eine Organgesellschaft haftet
für solche Steuern des Organträgers, für welche die
Organschaft zwischen ihnen steuerlich von Bedeutung ist. Den
Steuern stehen die Ansprüche auf Erstattung von
Steuervergütungen gleich.“
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2. Unionsrecht:
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Zwar ist zwischen den Beteiligten materiell
das Vorliegen einer Organschaft in den Jahren 2005 bis 2010
streitig, in denen zur Beurteilung die Richtlinie 77/388/EWG i.d.F.
vor Inkrafttreten der Richtlinie 2006/69/EG des Rates vom
24.07.2006 zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG hinsichtlich
bestimmter Maßnahmen zur Bekämpfung der
Steuerhinterziehung oder -umgehung, zur Vereinfachung der Erhebung
der Mehrwertsteuer sowie zur Aufhebung bestimmter Entscheidungen
über die Genehmigung von Ausnahmeregelungen (Richtlinie
2006/69/EG), die Richtlinie 77/388/EWG i.d.F. der Richtlinie
2006/69/EG und die Richtlinie 2006/112/EG anzuwenden sind.
Streitjahr des vorliegenden Verfahrens ist allerdings lediglich das
Jahr 2005. Allein maßgeblich ist deshalb im Streitfall die
Richtlinie 77/388/EWG i.d.F. vor Inkrafttreten der Richtlinie
2006/69/EG. Diese bestimmte im Streitjahr:
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„ABSCHNITT IV
STEUERPFLICHTIGER
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Artikel 4
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(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine
der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten
selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt,
gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.
…
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(4) Der in Absatz 1 verwendete Begriff
‘selbständig’ schließt die Lohn- und
Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung
aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag
oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das
hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie
der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der
Unterordnung schafft.
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Vorbehaltlich der Konsultation nach Artikel
29 steht es jedem Mitgliedstaat frei, im Inland ansässige
Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch
gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische
Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen
Steuerpflichtigen zu behandeln. …
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ABSCHNITT XII STEUERSCHULDNER
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Artikel 21 Steuerschuldner gegenüber
dem Fiskus
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(1) Im inneren Anwendungsbereich schuldet
die Mehrwertsteuer:
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a) der Steuerpflichtige, der eine
steuerpflichtige Lieferung von Gegenständen durchführt
bzw. eine steuerpflichtige Dienstleistung erbringt, mit Ausnahme
der unter den Buchstaben b) und c) genannten Fälle.
...
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(3) In den Fällen nach den
Absätzen 1 und 2 können die Mitgliedstaaten bestimmen,
dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer
gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.“
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III. Beurteilung nach nationalem Recht
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Bei isolierter Beurteilung des Streitfalls
nach nationalem Recht wäre die Revision begründet; die
Vorentscheidung wäre aufzuheben und die Klage abzuweisen
(§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -
). Die für eine Organschaft nach nationalem Recht
erforderliche finanzielle Eingliederung in Form der Mehrheit der
Stimmrechte liegt nicht vor.
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1. Nach nationalem Recht ist es für die
Annahme einer Organschaft i.S. von § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1
UStG auch nach Ergehen des EuGH-Urteils Larentia + Minerva
(EU:C:2015:496, BStBl II 2017, 604 = SIS 15 18 50) unverändert
weiter erforderlich, dass ein Über- und
Unterordnungsverhältnis zwischen dem Organträger und der
Organgesellschaft als „untergeordneter Person“
besteht (siehe - s. - insoweit bislang BFH-Beschlüsse vom
11.12.2013 - XI R 38/12, BFHE 244, 94, BStBl II 2014, 428 = SIS 14 06 90, Rz 65; vom 11.12.2013 - XI R 17/11, BFHE 244, 79, BStBl II
2014, 417 = SIS 14 06 89, Rz 60), auch wenn dies mittlerweile
teilweise - ohne jede inhaltliche Änderung in Bezug auf die
Eingliederungsmerkmale - als Eingliederung mit Durchgriffsrechten
bezeichnet wird (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 02.12.2015 - V R 15/14,
BFHE 252, 158, BStBl II 2017, 553 = SIS 16 00 90, Rz 34).
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a) Der Organträger muss nach nationalem
Recht weiterhin (vgl. BFH-Urteile in BFHE 252, 158, BStBl II 2017,
553 = SIS 16 00 90, Rz 19 ff., 42; vom 12.10.2016 - XI R 30/14,
BFHE 255, 467, BStBl II 2017, 597 = SIS 16 27 85, Rz 21, m.w.N.)
finanziell über die Mehrheit der Stimmrechte bei der
abhängigen juristischen Person verfügen (finanzielle
Eingliederung), wirtschaftlich mit der Organgesellschaft
verflochten sein (wirtschaftliche Eingliederung) und die mit der
finanziellen Eingliederung verbundene Möglichkeit der
Beherrschung der Tochtergesellschaft in der laufenden
Geschäftsführung auch rechtlich wahrnehmen können
(organisatorische Eingliederung).
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37
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b) Die für eine finanzielle Eingliederung
erforderliche Mehrheit der Stimmrechte aus Anteilen an der
Organgesellschaft muss über 50 % der Stimmrechte betragen,
sofern keine höhere qualifizierte Mehrheit für
Beschlüsse in der Organgesellschaft erforderlich ist (vgl.
BFH-Urteile in BFHE 135, 348, BStBl II 1982, 416 = SIS 82 25 71, Rz
16; vom 22.11.2001 - V R 50/00, BFHE 197, 319, BStBl II 2002, 167 =
SIS 02 04 42, unter II.1.a, Rz 13 f.; vom 19.05.2005 - V R 31/03,
BFHE 210, 167, BStBl II 2005, 671 = SIS 05 31 27, unter II.2.a dd,
Rz 27; vom 14.02.2008 - V R 12/06, V R 13/06 = SIS 08 28 52,
Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des
Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 2008, 1365, unter II.2.e, Rz 22; vom
29.10.2008 - XI R 74/07, BFHE 223, 498, BStBl II 2009, 256 = SIS 08 43 30, unter II.1.b, Rz 16; vom 22.04.2010 - V R 9/09, BFHE 229,
433, BStBl II 2011, 597 = SIS 10 18 70, Rz 12; vom 01.12.2010 - XI
R 43/08, BFHE 232, 550, BStBl II 2011, 600 = SIS 11 09 25, Rz 28;
vom 02.12.2015 - V R 25/13, BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547 = SIS 16 00 91, Rz 29; vom 15.12.2016 - V R 14/16, BFHE 256, 562, BStBl
II 2017, 600 = SIS 17 03 81, Rz 29; siehe auch - s.a. -
BFH-Beschlüsse vom 26.02.1998 - V B 97/97, BFH/NV 1998, 1267 =
SIS 98 16 42, unter II.1. und 2., Rz 8 f., 11; vom 16.12.2010 - V B
46/10, BFH/NV 2011, 857 = SIS 11 12 99, Rz 14). Eine
Sperrminorität (von z.B. 50 % der Stimmrechte) reicht nicht
aus (vgl. BFH-Urteil vom 08.08.2013 - V R 18/13, BFHE 242, 433,
BStBl II 2017, 543 = SIS 13 23 09, Rz 24 und 29).
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2. Ausgehend von dieser nationalen
Rechtsprechung fehlt es im Streitfall an einer finanziellen
Eingliederung der Klägerin in die A.
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a) A hält zwar eine sogenannte (sog.)
Mehrheitsbeteiligung an der Klägerin (zu diesem Merkmal nicht
eindeutig BFH-Urteil vom 02.12.2015 - V R 12/14, BFH/NV 2016, 437 =
SIS 16 02 74, Rz 22), aber sie verfügt nicht über die
für eine finanzielle Eingliederung nach den Ausführungen
unter III.1.b erforderliche Mehrheit der Stimmrechte.
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b) Zutreffend hat das FG angenommen, dass sich
aus dem erst im Jahr 2010 in notarieller Form bestätigten
Beschluss der Gesellschafterversammlung vom 01.12.2005 für
Umsätze ab diesem Zeitpunkt nichts anderes ergibt.
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aa) Ist ein Rechtsgeschäft unwirksam, so
ist dies zwar nach § 41 Abs. 1 Satz 1 AO für die
Besteuerung unerheblich, soweit und solange die Beteiligten in das
wirtschaftliche Ergebnis dieses Rechtsgeschäfts gleichwohl
eintreten und bestehen lassen. Dies gilt jedoch nach § 41 Abs.
1 Satz 2 AO nicht, soweit sich aus den Steuergesetzen etwas anderes
ergibt.
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bb) Nach der ständigen Rechtsprechung des
BFH ergibt sich jedoch bei der umsatzsteuerrechtlichen Organschaft
etwas anderes aus § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG. Der BFH hat
für eine finanzielle Eingliederung trotz § 41 Abs. 1 Satz
1 AO sowohl formnichtige (später vollzogene)
Anteilsübertragungen als auch mündliche Treuhandabreden
nicht genügen lassen (vgl. BFH-Urteil vom 30.04.2009 - V R
3/08, BFHE 226, 144, BStBl II 2013, 873 = SIS 09 26 36, Rz 36).
Poolvereinbarungen sind steuerrechtlich nur in Satzungsform
anzuerkennen (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2016, 437 = SIS 16 02 74,
Rz 24). Gleiches gilt für
„Stimmbindungsvereinbarungen“ und
„Stimmrechtsvollmachten“ (vgl. BFH-Urteil in
BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547 = SIS 16 00 91, Rz 29). Ebenso
ist bei der organisatorischen Eingliederung, die durch einen
Beherrschungsvertrag begründet werden kann, für den
Beginn der Organschaft erforderlich, dass dieser wirksam geworden
ist, was die Eintragung im Handelsregister voraussetzt (vgl.
BFH-Urteil vom 10.05.2017 - V R 7/16, BFHE 258, 181, BStBl II 2017,
1261 = SIS 17 12 40, Rz 20 f.). Im vorliegenden Zusammenhang gilt,
wie das FG zu Recht angenommen hat, nichts anderes.
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43
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IV. Zur Anrufung des EuGH
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Allerdings hat das FG im Ausgangspunkt
zutreffend angenommen, dass ungeachtet der bereits vorhandenen
Klärung durch den Tenor Ziffer 2 des EuGH-Urteils Larentia +
Minerva (EU:C:2015:496, BStBl II 2017, 604 = SIS 15 18 50)
unionsrechtlich zweifelhaft ist, ob an dieser Deutung der
Eingliederungsvoraussetzungen mit der Begründung festgehalten
werden kann, das Erfordernis der Über- und Unterordnung
(Eingliederung mit Durchgriffsrechten) sei aus Gründen der
Rechtssicherheit und zur Vermeidung von Missbräuchen und
Steuerhinterziehung und -umgehung erforderlich. Der vorlegende
Senat ersucht insoweit um weitere Klärung zu den
unionsrechtlichen Maßstäben, wie die erforderliche
Prüfung vorzunehmen ist (dazu A.)
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44
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Darüber hinaus hält es der Senat
für erforderlich, dem EuGH die Frage zur Prüfung
vorzulegen, ob die deutsche Organschaftsregelung über Art. 4
Abs. 1, Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG gerechtfertigt
werden kann (dazu B.).
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A. Vorlagefragen zu Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2
der Richtlinie 77/388/EWG
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1. Der EuGH hat in der Rechtssache Larentia +
Minerva (EU:C:2015:496, BStBl II 2017, 604 = SIS 15 18 50) unter 2.
unter anderem entschieden, dass Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der
Richtlinie 77/388/EWG dahin auszulegen ist, dass er einer
nationalen Regelung entgegensteht, die die in dieser Bestimmung
vorgesehene Möglichkeit, eine Mehrwertsteuergruppe zu bilden,
allein den Einheiten vorbehält, die mit dem Organträger
dieser Gruppe durch ein Unterordnungsverhältnis verbunden
sind, es sei denn, dass diese Anforderung eine Maßnahme
darstellt, die für die Erreichung der Ziele der Verhinderung
missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der
Vermeidung von Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderlich und
geeignet sind, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
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46
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2. Die Folgerechtsprechung des BFH stellt sich
wie folgt dar:
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a) Der BFH ist im Urteil in BFHE 252, 158,
BStBl II 2017, 553 = SIS 16 00 90 davon ausgegangen, im
maßgeblichen Kontext des nationalen Rechts (§ 2 Abs. 2
Nr. 2 Satz 1 UStG) sei weiterhin das Merkmal der Über- und
Unterordnung (nunmehr bezeichnet als Eingliederung mit
Durchgriffsrechten) erforderlich (Rz 34). Ohne ein unionsrechtlich
zulässiges, im nationalen Recht fehlendes Antragserfordernis
(Rz 24, 35) sei der Grundsatz der Rechtssicherheit zu beachten (Rz
33). Nach nationalem Recht werde die Steuerschuld auf den
Organträger verlagert (Rz 18), der sicherstellen können
müsse, dass die Umsätze des im Organkreis
zusammengefassten Unternehmens ordnungsgemäß versteuert
werden (Rz 36). Der Organträger habe die Aufgabe als
„Steuereinnehmer“ für den gesamten
Organkreis wahrzunehmen (vgl. auch BFH-Urteil in BFHE 256, 562,
BStBl II 2017, 600 = SIS 17 03 81, Rz 16). Er sei Steuerschuldner
für alle Leistungen, die die Unternehmensteile des
Organkreises gegenüber Dritten erbringen, ihm seien die von
der Organgesellschaft gegenüber Dritten ausgeführten
Umsätze zuzurechnen und die vom Organkreis geschuldete Steuer
sei einheitlich in einem gegenüber dem Organträger zu
erlassenden Steuerbescheid festzusetzen.
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47
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b) Die Prüfung im Kontext des nationalen
Rechts muss auch nach Auffassung des vorlegenden Senats (vgl. dazu
bereits BFH-Urteil vom 22.02.2017 - XI R 13/15, BFHE 257, 160 = SIS 17 08 40, Rz 45, m.w.N.) berücksichtigen, dass nach nationalem
Recht die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit der in das
Unternehmen des Organträgers eingegliederten Organgesellschaft
nicht selbständig ausgeübt wird; die eingegliederte
Organgesellschaft ist kein Unternehmer i.S. des § 2 Abs. 1
Satz 1 UStG. Die Organgesellschaft wird unselbständiger Teil
des Unternehmens des Organträgers, sodass beide Gesellschaften
als ein Unternehmen zu behandeln sind (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 3
UStG). Grundsätzlich werden jegliche Umsätze der
Organgesellschaften einschließlich der Verwirklichung der
Entnahmetatbestände und der übrigen Umsätze nach
§ 1 Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 5 UStG dem Organträger
zugerechnet. Dieser ist Schuldner der auf diese Umsätze
entfallenden Umsatzsteuer. Er hat alle Pflichten zu erfüllen,
die sich aus § 18 UStG für den Unternehmer ergeben. Er
allein gibt Voranmeldungen und Jahreserklärungen für die
gesamte Organschaft ab. Die Organgesellschaft hat
grundsätzlich keine Steuererklärungspflicht. Dies
erfordert, dass der Organträger diese Aufgabe auch
tatsächlich wahrnehmen kann, was z.B. bei einem
Verhältnis der Über- und Unterordnung der Fall ist.
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48
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3. Die unter IV.A.2. angeführten
Rechtsfolgen des nationalen Rechts, die diese Auffassung
begründen könnten, könnten indes ihrerseits den
unionsrechtlichen Rechtsfolgen des Bestehens einer
Mehrwertsteuergruppe in seiner Auslegung durch den EuGH
widersprechen:
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49
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a) Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie
77/388/EWG setzt, wenn ein Mitgliedstaat von ihm Gebrauch macht,
zwingend voraus, dass die nationale Umsetzungsregelung einen
einzigen Steuerpflichtigen vorsieht und dass dem Konzern nur eine
Mehrwertsteuernummer zugeteilt wird (EuGH-Urteil Ampliscientifica
und Amplifin vom 22.05.2008 - C-162/07, EU:C:2008:301, UR 2008, 534
= SIS 08 27 52, Rz 20).
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50
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b) Zwar ergibt sich daraus zunächst noch
nicht, dass dies eine bestimmte Person sein müsste. Der EuGH
hat jedoch später im Tenor des Urteils Skandia America (USA)
vom 17.09.2014 - C-7/13 (EU:C:2014:2225, HFR 2014, 1031 = SIS 14 27 90) entschieden, dass die Mehrwertsteuergruppe, wenn eine solche
besteht, die Mehrwertsteuer schuldet. Die Mitglieder der
Mehrwertsteuergruppe bilden einen einzigen Steuerpflichtigen
(EuGH-Urteil Skandia America (USA), EU:C:2014:2225, HFR 2014, 1031
= SIS 14 27 90, Rz 28; s.a. EuGH-Urteil Kommission/Irland vom
09.04.2013 - C-85/11, EU:C:2013:217, Zeitschrift für das
gesamte Mehrwertsteuerrecht - MwStR - 2013, 238, Rz 40 und 48). Den
beteiligten Personen, insbesondere Gesellschaften, ist gestattet,
nicht mehr als getrennte Mehrwertsteuerpflichtige, sondern zusammen
als ein Steuerpflichtiger behandelt zu werden (vgl. EuGH-Urteil
Ampliscientifica und Amplifin, EU:C:2008:301, UR 2008, 534 = SIS 08 27 52, Rz 19). Die Verschmelzung zu einem einzigen
Steuerpflichtigen schließt es aus, dass die Mitglieder der
Gruppe (also auch der Organträger) weiterhin
Mehrwertsteuererklärungen abgeben und innerhalb wie
außerhalb ihres Konzerns weiterhin als Steuerpflichtige
angesehen werden, da nur der einzige Steuerpflichtige befugt ist,
diese Erklärungen abzugeben (EuGH-Urteile Ampliscientifica und
Amplifin, EU:C:2008:301, UR 2008, 534 = SIS 08 27 52, Rz 19;
Skandia America (USA), EU:C:2014:2225, HFR 2014, 1031 = SIS 14 27 90, Rz 29). Die zugunsten eines Mitglieds der Gruppe erbrachten
Dienstleistungen sind für Mehrwertsteuerzwecke nicht als
zugunsten dieses Mitglieds, sondern vielmehr als zugunsten seiner
Mehrwertsteuergruppe erbracht anzusehen (EuGH-Urteil Skandia
America (USA), EU:C:2014:2225, HFR 2014, 1031 = SIS 14 27 90, Rz
29); jene gilt zugleich als der Empfänger dieser
Dienstleistungen (EuGH-Urteil Skandia America (USA),
EU:C:2014:2225, HFR 2014, 1031 = SIS 14 27 90, Rz 35). Die
Mehrwertsteuer wird (dort: gemäß der Ausnahmeregelung
des Art. 196 der Richtlinie 2006/112/EG) von der
Mehrwertsteuergruppe geschuldet (EuGH-Urteil Skandia America (USA),
EU:C:2014:2225, HFR 2014, 1031 = SIS 14 27 90, Rz 37).
Steuerpflichtiger und Steuerschuldner ist damit unionsrechtlich die
Mehrwertsteuergruppe (nach nationalem Recht: der Organkreis) und
nicht ein Mitglied der Mehrwertsteuergruppe (nach nationalem Recht:
der Organträger).
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51
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c) In der deutschen steuerrechtlichen
Literatur wird daraus teilweise abgeleitet, dass § 2 Abs. 2
Nr. 2 Satz 1 UStG auch insoweit richtlinienwidrig sei (vgl. z.B.
Birkenfeld, UR 2014, 120, 126).
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52
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4. Ist aber der Kontext des nationalen Rechts,
in dem die Prüfung vorzunehmen ist, seinerseits
unionsrechtswidrig, stellt sich die Frage, ob der Senat die
erforderliche Prüfung weiter in diesem Kontext
(Steuerschuldner ist der Organträger) vornehmen darf, oder ob
der Senat sie dann in den Grenzen der unionsrechtlich
eingeräumten Befugnis für die Mitgliedstaaten
(„zusammen als einen Steuerpflichtigen zu
behandeln“) vornehmen muss. Zweifelhaft ist aus Sicht des
vorlegenden Senats, ob überhaupt - und wenn ja unter welchen
Voraussetzungen - ein Mitgliedstaat von der in Art. 4 Abs. 4
Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG (entsprechend Art. 11 Abs. 1
der Richtlinie 2006/112/EG) angeordneten Rechtsfolge abweichen
darf. Daraus ergibt sich die erste Vorlagefrage.
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53
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a) Es kommt in Betracht, dass aufgrund der
Ausführungen des EuGH in Rz 41 und 42 des Urteils Larentia +
Minerva (EU:C:2015:496, BStBl II 2017, 604 = SIS 15 18 50) auch
schon im Streitjahr eine abweichende Bestimmung eines anderen
Steuerpflichtigen als der Mehrwertsteuergruppe unter Abweichung von
Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG zulässig
sein könnte, um missbräuchliche Praktiken oder
Verhaltensweisen zu verhindern und Steuerhinterziehung oder
-umgehung zu vermeiden, so dass zulässigerweise von ihr im
Rahmen der dem Senat obliegenden Prüfung auszugehen
wäre.
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54
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b) Dagegen könnte das EuGH-Urteil Skandia
America (USA) (EU:C:2014:2225, HFR 2014, 1031 = SIS 14 27 90)
sprechen, wonach die Mehrwertsteuergruppe, falls eine solche
besteht, die Mehrwertsteuer schuldet, sowie Rz 20 des EuGH-Urteils
Ampliscientifica und Amplifin (EU:C:2008:301, UR 2008, 534 = SIS 08 27 52), wonach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG
zwingend voraussetzt, dass die nationale Umsetzungsregelung einen
einzigen Steuerpflichtigen vorsieht.
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55
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c) Außerdem könnte gegen eine
Befugnis der Mitgliedstaaten zur Bestimmung eines anderen
Steuerpflichtigen Art. 21 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie
77/388/EWG sprechen. Eine Befugnis der Mitgliedstaaten, statt des
unionsrechtlich bestimmten Steuerpflichtigen eine andere Person zum
Steuerschuldner zu bestimmen, geht daraus nicht hervor. Art. 21
Abs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG erlaubt es nur, weitere Personen
zu Gesamtschuldnern zu bestimmen.
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56
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d) Der vorlegende Senat vermag außerdem
noch nicht zu erkennen, inwiefern es der Verhinderung
missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen oder der
Vermeidung von Steuerhinterziehung oder -umgehung dienen
könnte, statt der Mehrwertsteuergruppe nur ein Gruppenmitglied
als Steuerschuldner anzusehen, da sich aus einer
Steuerschuldnerschaft der Mehrwertsteuergruppe nach Auffassung des
vorlegenden Senats ergäbe, dass alle Mitglieder der
Mehrwertsteuergruppe die Steuer gemeinsam, das heißt als
Gesamtschuldner, schulden. Daher ist zweifelhaft, ob dieser
Rechtfertigungsgrund überhaupt eine Abweichung erlaubt.
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57
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e) Dass - trotz laufender
Reformüberlegungen des deutschen Gesetzgebers - bisher eine
Mehrwertsteuergruppe in der Bundesrepublik Deutschland
(Deutschland) als Gesellschaftsform (noch) nicht zivilrechtlich
vorgesehen ist, ist aus Sicht des vorlegenden Senats insoweit nicht
von Belang.
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58
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aa) Eine Mehrwertsteuergruppe ist nach den
Überlegungen der Kommission eine für Mehrwertsteuerzwecke
geschaffene „fiktive Einrichtung”, wobei dem
ökonomischen Wesensgehalt Vorrang vor der Rechtsform gegeben
wird, und stellt eine besondere Form eines Steuerpflichtigen dar,
die nur im Hinblick auf die Mehrwertsteuer besteht und - nur im
Hinblick auf die Mehrwertsteuer - Vorrang vor Rechtsformen hat, die
z.B. auf dem Zivilrecht oder dem Gesellschaftsrecht basieren
(Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und
den Rat über die Option der Mehrwertsteuergruppe gem. Art. 11
MwStSystRL vom 02.07.2009 - KOM (2009) 325 endgültig, UR 2009,
632, Tz 3.2). Schon dies belegt den Vorrang des Umsatzsteuerrechts
vor dem Zivilrecht. Ein Mitgliedstaat kann sich nach Auffassung des
vorlegenden Senats seiner unionsrechtlichen Verpflichtung, so sie
denn besteht, nicht dadurch entziehen, dass er dafür in seinem
Zivilrecht keine Regelungen vorsieht, sondern müsste sie
schaffen.
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59
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bb) Außerdem verleiht Art. 4 Abs. 1
der Richtlinie 77/388/EWG (insbesondere der Begriff
„wer“) dem Begriff
„Steuerpflichtiger“ einen weiten
Anwendungsbereich mit dem Schwerpunkt auf der Selbständigkeit
der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in dem
Sinne, dass auch Einrichtungen ohne Rechtspersönlichkeit, die
objektiv die Kriterien dieser Bestimmung erfüllen, als
Mehrwertsteuerpflichtige gelten (vgl. in diesem Sinne EuGH-Urteile
Gmina Wroclaw vom 29.09.2015 - C-276/14, EU:C:2015:635, HFR 2015,
1087 = SIS 15 23 18, Rz 28; Nigl u.a. vom 12.10.2016 - C-340/15,
EU:C:2016:764, UR 2016, 873 = SIS 16 21 35, Rz 27; anderer Ansicht
wohl BFH-Urteil vom 22.11.2018 - V R 65/17, BFHE 263, 90 = SIS 18 22 09, Rz 20). Anstelle einer Rechtsfähigkeit ist zu
prüfen, ob der Betroffene seine Tätigkeiten im eigenen
Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung
ausübt, und ob er das mit der Ausübung dieser
Tätigkeiten einhergehende wirtschaftliche Risiko trägt
(vgl. EuGH-Urteile Heerma vom 27.01.2000 - C-23/98, EU:C:2000:46,
UR 2000, 121 = SIS 00 03 83, Rz 18; van der Steen vom 18.10.2007 -
C-355/06, EU:C:2007:615, BFH/NV 2008, Beilage 1, 48 = SIS 08 00 36,
Rz 23). Dies ist bei der Mehrwertsteuergruppe aufgrund der in Art.
4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG vorgesehenen
Eigenschaft als Steuerpflichtiger, die nach Art. 21 Abs. 1 Buchst.
a der Richtlinie 77/388/EWG zur Steuerschuldnerschaft der
Mehrwertsteuergruppe für die Umsätze der
Gruppenmitglieder führt, der Fall. Eine zivilrechtliche
Rechtsfähigkeit ist hierfür unerheblich.
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60
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cc) Im Übrigen sind in der nationalen
Rechtsprechung bereits Grundsätze entwickelt worden (vgl. dazu
die Ausführungen unter IV.A.6.), die herangezogen werden
können, bis der deutsche Gesetzgeber eine gesetzliche Regelung
für die Mehrwertsteuergruppe geschaffen hat, was er derzeit
erwägt.
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61
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5. Sollte es nach der Antwort des EuGH auf die
Vorlagefrage 1 unionsrechtlich unzulässig sein, dass ein
Mitgliedstaat ein Gruppenmitglied anstelle der Mehrwertsteuergruppe
zum Steuerpflichtigen bestimmt, ist aus Sicht des vorlegenden
Senats weiterhin unionsrechtlich zweifelhaft, ob sich ein Einzelner
auf die Unionsrechtswidrigkeit der nationalen Rechtsfolge berufen
kann. Besteht kein Berufungsrecht, könnte im Rahmen der dem
Senat obliegenden Prüfung trotz der gegebenenfalls (ggf.)
bestehenden Richtlinienwidrigkeit von der nationalen Rechtslage
auszugehen sein. Daraus ergibt sich die zweite Vorlagefrage.
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62
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a) Gegen ein Berufungsrecht spricht, dass der
EuGH im Tenor Ziffer 3 des EuGH-Urteils Larentia + Minerva
(EU:C:2015:496, BStBl II 2017, 604 = SIS 15 18 50) entschieden hat,
dass bei Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 77/388/EWG nicht davon
ausgegangen werden kann, dass er unmittelbare Wirkung hat, so dass
Steuerpflichtige dessen Inanspruchnahme gegenüber ihrem
Mitgliedstaat geltend machen könnten, falls dessen
Rechtsvorschriften nicht mit dieser Bestimmung vereinbar wären
und nicht in mit ihr zu vereinbarender Weise ausgelegt werden
könnten. Damit ist Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 77/388/EWG
nach Auffassung des EuGH (auf der Tatbestandsseite) nicht
berufbar.
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b) Allerdings könnte auf der
Rechtsfolgenseite deshalb etwas anderes gelten, weil diese nach Rz
20 des EuGH-Urteils Ampliscientifica und Amplifin (EU:C:2008:301,
UR 2008, 534 = SIS 08 27 52) möglicherweise unionsrechtlich
zwingend ist.
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c) Außerdem könnte sich der
Einzelne auf Art. 21 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG
berufen können; denn aus der Bestimmung eines abweichenden
Steuerpflichtigen ergibt sich die Bestimmung eines abweichenden
Steuerschuldners.
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d) Der vorlegende Senat weist dazu vorab
darauf hin, dass das nationale Recht insoweit nicht
richtlinienkonform auslegbar sein dürfte (vgl. BFH-Urteil vom
10.08.2016 - XI R 41/14, BFHE 255, 300, BStBl II 2017, 590 = SIS 16 25 42, Rz 30). § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG sieht
ausdrücklich vor, dass die Organgesellschaft „in das
Unternehmen des Organträgers“ eingegliedert ist,
woraus folgt, dass der Unternehmer, in dessen Unternehmen die
Organgesellschaft eingegliedert ist, der Organträger ist.
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66
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6. Außerdem ist im Rahmen der
Prüfung, ob die nationale Voraussetzung der finanziellen
Eingliederung erforderlich i.S. der Rz 45 f. des EuGH-Urteils
Larentia + Minerva (EU:C:2015:496, BStBl II 2017, 604 = SIS 15 18 50) ist, unionsrechtlich zweifelhaft, wie streng der Maßstab
ist, der bei der Prüfung der Erforderlichkeit der nationalen
Abweichung anzulegen ist. Darauf bezieht sich die dritte
Vorlagefrage.
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a) Sollte der Mitgliedstaat Deutschland
berechtigt sein, abweichend vom Unionsrecht den Organträger
zum Steuerpflichtigen zu bestimmen (Antwort auf Vorlagefrage 1),
oder sollte sich der Einzelne nicht auf die mögliche
Unionsrechtswidrigkeit des § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG
berufen können (Antwort auf Vorlagefrage 2), hat der Senat zu
beurteilen, ob das Kriterium der finanziellen Eingliederung auch
dann zur Vermeidung von Missbräuchen und Steuerhinterziehungen
oder -umgehungen gerechtfertigt ist, obwohl der Organträger
seine Rechte im Zusammenhang mit der Pflicht zur Steuerzahlung
für die Organgesellschaft auch mit Hilfe einer Klage gegen
diese Gesellschaft durchsetzen kann.
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b) Dies ist - je nachdem, ob ein strenger oder
ein großzügiger Maßstab anzulegen ist - zu bejahen
oder zu verneinen.
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aa) Wie der vorlegende Senat bereits dargelegt
hat (siehe oben unter IV.A.2.a), geht die Rechtsprechung des BFH
davon aus, dass der Umstand der Über- und Unterordnung - neben
den Erwägungen zur Rechtssicherheit und zur
Verwaltungsvereinfachung beziehungsweise (bzw.) Vermeidung von
Verwaltungsarbeiten in der Wirtschaft - für die Erreichung der
Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder
Verhaltensweisen und der Vermeidung von Steuerhinterziehung oder
-umgehung geeignet und erforderlich ist, damit der Organträger
als Steuerpflichtiger seine sich daraus ergebenden
steuerrechtlichen Pflichten wahrnehmen kann. Kann er seinen Willen
bei der Organgesellschaft nicht durchsetzen, ist es denkbar, dass
die Organgesellschaft ihm nicht die hierfür erforderlichen
Informationen oder die Mehrwertsteuer, die sie vereinnahmt hat, zur
Verfügung stellt. Dies könnte bei großzügiger
Sichtweise die deutsche Regelung rechtfertigen.
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70
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bb) Allerdings wird in der deutschen Literatur
darauf hingewiesen, dass der BFH dabei zu Unrecht außer
Betracht lasse, dass der Organträger seine Rechte gerichtlich
gegen die Organgesellschaft durchsetzen kann (vgl. z.B. Stadie in
Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 2 Rz 915,
993; s.a. Korf, MwStR 2016, 257).
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cc) So steht dem Organträger gegen die
Organgesellschaft (und ggf. auch der Organgesellschaft gegen den
Organträger) nach nationalem Zivilrecht ein finanzieller
Ausgleichsanspruch zu, so dass derjenige Beteiligte am Organkreis,
aus dessen Umsätzen die zu zahlende Umsatzsteuer
herrührt, im Innenverhältnis der Organschaft die
Steuerlast zu tragen hat (vgl. Urteile des Bundesgerichtshofs vom
19.01.2012 - IX ZR 2/11, DStR 2012, 527 = SIS 12 07 26, Rz 28 und
36; vom 29.01.2013 - II ZR 91/11, DStR 2013, 478 = SIS 13 06 65, Rz
10 f.; BFH-Urteile vom 23.09.2009 - VII R 43/08, BFHE 226, 391,
BStBl II 2010, 215 = SIS 09 36 87, Rz 30; vom 14.03.2012 - XI R
28/09, BFH/NV 2012, 1493 = SIS 12 21 93, Rz 37 ff.; BFH-Beschluss
vom 20.02.2018 - XI B 129/17, BFH/NV 2018, 641 = SIS 18 05 20, Rz
28). Deshalb könnte die Regelung bei strenger Sichtweise nicht
erforderlich sein.
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c) Der vorlegende Senat verkennt nicht, dass
der EuGH in Rz 46 des EuGH-Urteils Larentia + Minerva
(EU:C:2015:496, BStBl II 2017, 604 = SIS 15 18 50) die
vorzunehmende Prüfung den nationalen Gerichten auferlegt hat.
Allerdings kann der vorlegende Senat die ihm obliegende
Prüfung erst dann unionsrechtlich zweifelsfrei vornehmen, wenn
entschieden ist, welcher Maßstab bei der Prüfung der
Erforderlichkeit anzulegen ist.
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73
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aa) In der Rechtssache Kommission/Schweden
(Urteil vom 25.04.2013 - C-480/10, EU:C:2013:263, MwStR 2013, 276)
musste der EuGH diese Prüfung im Rahmen eines
Vertragsverletzungsverfahrens in gewisser Weise selbst vornehmen.
Er konnte es dort jedoch aus verfahrensrechtlichen Gründen
dabei bewenden lassen, auszuführen, dass die Kommission nicht
überzeugend nachgewiesen habe, dass die vom Königreich
Schweden getroffene Maßnahme im Hinblick auf den Kampf gegen
Steuerhinterziehung und -umgehung nicht begründet wäre.
Dies könnte für ein sehr großzügiges
Verständnis der Abweichungsbefugnis der Mitgliedstaaten
sprechen.
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bb) Ansonsten knüpft der EuGH jedoch im
Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in
ständiger Rechtsprechung bei der Überprüfung von
Handlungen der Union oder der Mitgliedstaaten daran an, ob eine
Regelung über das hinausgeht, was zur Erreichung des
verfolgten Ziels (zwingend) erforderlich ist (vgl. z.B.
EuGH-Urteile Di Maura vom 23.11.2017 - C-246/16, EU:C:2017:887, HFR
2018, 79 = SIS 17 21 66, Rz 25; Avon Cosmetics vom 14.12.2017 -
C-305/16, EU:C:2017:970, HFR 2018, 182 = SIS 17 24 58, Rz 44; Menci
vom 20.03.2018 - C-524/15, EU:C:2018:197, HFR 2018, 423 = SIS 18 08 05, Rz 46 ff., 52; EN.SA. vom 08.05.2019 - C-712/17, EU:C:2019:374,
HFR 2019, 634 = SIS 19 08 37, Rz 33; A-PACK CZ vom 08.05.2019 -
C-127/18, EU:C:2019:377, UR 2019, 554 = SIS 19 05 95, Rz 26 und
27). Dies könnte für eher strenge bis sehr strenge
Anforderungen an die Erforderlichkeit sprechen.
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cc) Jedoch ist möglicherweise zu
berücksichtigen, dass Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie
77/388/EWG eine Ausnahme vom Grundsatz des Art. 4 Abs. 1 der
Richtlinie 77/388/EWG ist. Gegenausnahmen, die abweichend von der
Ausnahmeregelung zur allgemeinen Regel zurückführen, sind
auch bei Art. 4 der Richtlinie 77/388/EWG nicht eng, sondern weit
auszulegen (vgl. EuGH-Urteile Isle of Wight Council u.a. vom
16.09.2008 - C-288/07, EU:C:2008:505, HFR 2008, 1192 = SIS 08 38 55, Rz 60; SALIX Grundstücks-Vermietungsgesellschaft vom
04.06.2009 - C-102/08, EU:C:2009:345, BStBl II 2017, 873 = SIS 09 21 00, Rz 67 f.), was wiederum für eine eher
großzügige Prüfung der Erforderlichkeit
spricht.
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76
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dd) Überdies bedarf der Klärung,
inwieweit der Grundsatz der Rechtssicherheit oder der Zweck der
Verwaltungsvereinfachung bei der Prüfung berücksichtigt
werden darf.
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(1) Der EuGH hat diese allgemeinen
Rechtsgrundsätze in Rz 46 seines Urteils Larentia + Minerva
(EU:C:2015:496, BStBl II 2017, 604 = SIS 15 18 50) nicht genannt;
hinzu kommt, dass die Organschaft nach nationalem Recht nicht der
Verwaltungsvereinfachung dient, sondern der „Vermeidung
unnötiger Verwaltungsarbeit in der Wirtschaft“ (vgl.
ausführlich zu beiden Punkten Lange, UR 2016, 297, 299,
302).
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(2) Der vorlegende Senat neigt außerdem
- unabhängig von diesen Erwägungen - zu der Auffassung,
dass der allgemeine Rechtsgrundsatz der Rechtssicherheit sowie der
Zweck der Organschaft (ob nun Verwaltungsvereinfachung oder
„Vermeidung unnötiger Verwaltungsarbeit in der
Wirtschaft“) inhaltliche Anforderungen an die
Eingliederung grundsätzlich nicht rechtfertigen können.
Denn würde man z.B. für eine finanzielle Eingliederung
keine Stimmrechtsmehrheit verlangen, sondern eine Anteilsmehrheit
genügen lassen, wäre dieses Merkmal mindestens genauso
rechtssicher feststellbar wie eine Stimmrechtsmehrheit. Eine
Verwaltungsvereinfachung bzw. „Vermeidung unnötiger
Verwaltungsarbeit in der Wirtschaft“ träte genauso
ein. Gleiches gälte, wenn man eine Organschaft zwischen
Schwestergesellschaften zulassen würde, indem man z.B. eine
Anteilsmehrheit eines Dritten an beiden Gesellschaften genügen
lassen würde. Auch dies ließe sich rechtssicher
feststellen und führte zu Vereinfachungen. Ein Festhalten am
Erfordernis der finanziellen, wirtschaftlichen und
organisatorischen Eingliederung rechtfertigen diese allgemeinen
Rechtsgrundsätze und Zwecke folglich ohnehin nicht.
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79
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ee) Die vom vorlegenden Senat zu prüfende
Frage, ob es zur Vermeidung von Missbräuchen und
Steuerhinterziehungen oder -umgehungen erforderlich ist, im Rahmen
der finanziellen Eingliederung zu verlangen, dass der
Organträger nicht nur über eine Anteilsmehrheit, sondern
über eine Stimmrechtsmehrheit an der Organgesellschaft
verfügen muss, kann der vorlegende Senat ohne eine weitere
unionsrechtliche Präzisierung, die dem EuGH obliegt, daher
noch nicht in unionsrechtlich zweifelsfreier Weise vornehmen.
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80
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B. Vorlagefrage zu Art. 4 Abs. 1, Abs. 4
Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG
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Dem vorlegenden Senat erscheint es jedoch
erforderlich, eine weitere Vorlagefrage zu Art. 4 Abs. 1 und Abs. 4
Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG zu stellen; denn der
nationale Begründungsansatz der Organschaft setzt begrifflich,
systematisch und historisch am Merkmal der Selbständigkeit an
und könnte daher auch als zulässige Auslegung bzw.
Typisierung durch Art. 4 Abs. 1 oder Abs. 4 Unterabs. 1 der
Richtlinie 77/388/EWG gerechtfertigt sein. Daraus folgt die vierte
Vorlagefrage, die völlig unabhängig von den Vorlagefragen
1 bis 3 gestellt wird.
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1. Die deutsche Organschaft wurde
ursprünglich richterrechtlich vom Reichsfinanzhof (RFH)
entwickelt.
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a) Sie beruhte auf der - im aktuellen
nationalen Recht der Republik Österreich noch begrifflich
enthaltenen - Annahme, dass die Organgesellschaft „keinen
eigenen Willen“ habe. Die Unselbständigkeit einer
gewerblichen Tätigkeit liege vor, „wenn die
tätige Person im wirtschaftlichen Organismus des gewerblichen
Unternehmens eines anderen bei Betätigung ihres
geschäftlichen Willens unter der Leitung dieses
anderen“ stehe (vgl. RFH-Urteil vom 06.10.1920 - II A
141/20, Sammlung der Entscheidungen und Gutachten des
Reichsfinanzhofs - RFHE - 3, 290, 291, 294). Die Auffassung, dass
die bürgerlich-rechtliche Selbständigkeit zu beachten
sei, wurde später aufgegeben (vgl. RFH-Urteil vom 26.09.1927 -
V A 417/27, RFHE 22, 69) und in der Folgezeit verlangt, dass die
finanzielle, organisatorische und wirtschaftliche
Selbständigkeit aufgegeben worden sei (vgl. RFH-Urteil vom
03.11.1933 - V A 867/32, RFHE 34, 320, 321 ff.) bzw. eine
finanzielle, organisatorische und wirtschaftliche
„Abhängigkeit“ bestehe (vgl. RFH-Urteil vom
23.02.1934 - V A 480/33, RFHE 36, 39, 41 ff.).
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b) Erst im Jahr 1934 wurde die Rechtsprechung
vom deutschen Gesetzgeber erstmals in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG
1934 (Reichsgesetzblatt - RGBl - I 1934, 942) dahingehend
kodifiziert, dass eine Tätigkeit unselbständig
ausgeübt wird, wenn eine juristische Person dem Willen derart
untergeordnet ist, dass sie keinen eigenen Willen hat. § 17
der Umsatzsteuer-Durchführungsbestimmungen (RGBl I 1938, 1935)
legte einige Jahre später zusätzlich fest, dass eine
juristische Person keinen eigenen Willen hat, wenn sie nach dem
Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell,
wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des
beherrschenden Unternehmers eingegliedert ist. Die weitere
Rechtsentwicklung ergibt sich aus den Ausführungen zu II.
dieses Beschlusses.
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2. Die ursprüngliche Begründung des
RFH zur Unselbständigkeit bei fehlendem „eigenen
Willen“ weist aus Sicht des vorlegenden Senats deutliche
Parallelen zu den Überlegungen auf, die der EuGH in den - nach
Ergehen der Vorlagebeschlüsse in BFHE 244, 94, BStBl II 2014,
428 = SIS 14 06 90 und in BFHE 244, 79, BStBl II 2014, 417 = SIS 14 06 89 sowie nach dem EuGH-Urteil Larentia + Minerva (EU:C:2015:496,
BStBl II 2017, 604 = SIS 15 18 50) ergangenen - EuGH-Urteilen Gmina
Wroclaw (EU:C:2015:635, HFR 2015, 1087 = SIS 15 23 18, Rz 30 ff.)
und Saudacor vom 29.10.2015 - C-174/14 (EU:C:2015:733, UR 2015, 901
= SIS 15 25 72, Rz 60, 63 und 67) bei der Prüfung der
Selbständigkeit angestellt hat.
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a) Dort hat der EuGH auf ein bestehendes
Unterordnungsverhältnis (vgl. EuGH-Urteil Gmina Wroclaw,
EU:C:2015:635, HFR 2015, 1087 = SIS 15 23 18, Rz 33, 34 und 36)
sowie auf eine organschaftliche Verbindung (EuGH-Urteil Saudacor,
EU:C:2015:733, UR 2015, 901 = SIS 15 25 72, Rz 67) abgestellt.
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b) Auch bei der Prüfung, ob eine
natürliche Person selbständig i.S. des Art. 4 Abs. 1,
Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG ist, geht es um eine
„Unterordnung“ (vgl. EuGH-Urteile Heerma,
EU:C:2000:46, UR 2000, 121 = SIS 00 03 83, Rz 18; van der Steen,
EU:C:2007:615, BFH/NV 2008, Beilage 1, 48, Rz 18 ff.; IO vom
13.06.2019 - C-420/18, EU:C:2019:490, UR 2019, 576 = SIS 19 08 34,
Rz 32, 38 f.).
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c) In vergleichbarer Weise verfährt der
EuGH bei der Prüfung, ob eine Zweigniederlassung als
„eigener“ Steuerpflichtiger anzusehen ist (vgl.
z.B. EuGH-Urteile FCE Bank vom 23.03.2006 - C-210/04,
EU:C:2006:196, HFR 2006, 624 = SIS 06 25 32, Rz 33, 25 f.; Skandia
America (USA), EU:C:2014:2225, HFR 2014, 1031 = SIS 14 27 90, Rz
23, 25 f.; TGE Gas Engineering vom 07.08.2018 - C-16/17,
EU:C:2018:647, HFR 2018, 846 = SIS 18 11 98, Rz 41; Morgan Stanley
& Co International vom 24.01.2019 - C-165/17, EU:C:2019:58, HFR
2019, 242 = SIS 19 00 54, Rz 35). Diese Prüfung ist auch schon
im Zusammenhang mit der Frage rechtlicher Selbständigkeit
erfolgt (vgl. EuGH-Urteil DFDS vom 20.02.1997 - C-260/95,
EU:C:1997:77, UR 1997, 179 = SIS 97 10 52, Rz 25 f.).
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3. Unter Berücksichtigung des
EuGH-Urteils Gmina Wroclaw (EU:C:2015:635, HFR 2015, 1087 = SIS 15 23 18, Rz 35) ist es aus Sicht des vorlegenden Senats jedenfalls
nicht ausgeschlossen, dass sich die unionsrechtliche Rechtfertigung
für die vom Mitgliedstaat Deutschland aufgestellten (sehr
strengen) Kriterien der Unterordnung für das Bestehen einer
Organschaft zwar nicht - wie bisher vom BFH angenommen - in Art. 4
Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG findet, sondern in
Art. 4 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie
77/388/EWG finden könnte. Möglicherweise lassen es Art. 4
Abs. 1 oder Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG zu,
dass der Mitgliedstaat Deutschland die Organgesellschaft - wie im
Wortlaut des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG vorgesehen - aufgrund der
Unterordnung unter den Organträger als nicht selbständig
i.S. des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG ansieht. Dann hat
der Mitgliedstaat Deutschland auch zutreffend den Organträger
zum (einzigen) Steuerpflichtigen i.S. des Art. 4 Abs. 1 der
Richtlinie 77/388/EWG bestimmt.
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a) Nach Ansicht des erkennenden Senats ist der
frühere deutsche § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG 1951 (und
der heute noch gültige § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 des
österreichischen UStG) in Tatbestand und Rechtsfolge mit dem
Unionsrecht vereinbar: Eine Person, die „keinen eigenen
Willen“ hat, ist nicht selbständig i.S. des Art. 4
Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG (und daher kein
Steuerpflichtiger), weil sie in einem Verhältnis der
Unterordnung zu einer übergeordneten Person steht (vgl. auch
Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG sowie die unter
IV.B.2. aufgeführte Rechtsprechung des EuGH). Deshalb
dürfen die Mitgliedstaaten aus Sicht des vorlegenden Senats
Personen, die keinen eigenen Willen haben und dadurch in einem
Verhältnis der Unterordnung stehen, mangels
Selbständigkeit nicht als Steuerpflichtige ansehen, sondern
müssen die Umsätze der übergeordneten Person
zurechnen.
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b) Die aus Sicht des vorlegenden Senats
unionsrechtlich zweifelhafte Frage ist, ob die Mitgliedstaaten auf
dieser Grundlage berechtigt sind, im Wege der Typisierung zu
konkretisieren, in welchen Fällen typischerweise davon
auszugehen ist, dass eine Person „keinen eigenen
Willen“ hat und damit nicht selbständig i.S. des
Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG ist. Diesen Weg beschreiten
heute § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 des deutschen (und noch
plastischer § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 des österreichischen)
UStG.
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c) Eine derartige Befugnis zur Typisierung
wird dem nationalen Gesetzgeber durch das Verfassungsrecht
Deutschlands zugebilligt, da Steuergesetze in der Regel
Massenvorgänge des Wirtschaftslebens betreffen. So darf der
Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfG) bei der Ordnung von Massenerscheinungen die Vielzahl der
Einzelfälle in dem Gesamtbild erfassen, das nach den ihm
vorliegenden Erfahrungen die regelungsbedürftigen Sachverhalte
zutreffend wiedergibt; eine solche Typisierung ist zulässig,
solange die steuerlichen Vorteile der Typisierung im rechten
Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen
Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen und sie
außerdem keinen atypischen Fall als Leitbild wählt,
sondern sich realitätsgerecht am typischen Fall orientiert
(vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 04.02.2009 - 1 BvL 8/05,
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - BVerfGE - 123, 1,
BStBl II 2009, 1035 = SIS 09 16 45, Rz 55; vom 29.03.2017 - 2 BvL
6/11, BVerfGE 145, 106, BStBl II 2017, 1082 = SIS 17 08 86, Rz 106
ff.). Darauf hat das BVerfG auch im Zusammenhang mit der
umsatzsteuerrechtlichen Organschaft hingewiesen (vgl. BVerfG-Urteil
vom 20.12.1966 - 1 BvR 320/57, 1 BvR 70/63, BVerfGE 21, 12, BStBl
III 1967, 7 = SIS 67 60 06, Rz 59 und 60, 114 ff., 121).
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d) Ebenso hat der EuGH anerkannt, dass die
Aufstellung allgemeiner Regeln, die von den Wirtschaftsteilnehmern
leicht angewandt und von den zuständigen nationalen
Behörden einfach kontrolliert werden können, für
einen Gesetzgeber ein legitimes Ziel darstellt, auch wenn diese
Regeln mit einer gewissen Ungenauigkeit verbunden sind (vgl.
EuGH-Urteile Sopora vom 24.02.2015 - C-512/13, EU:C:2015:108,
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2015, 643,
Rz 35 und 36; RPO vom 07.03.2017 - C-390/15, EU:C:2017:174, MwStR
2017, 312, Rz 57 f., 60). Da es sich bei der Festlegung, wer
Steuerpflichtiger ist, um eine Regelung handelt, die sich
finanziell belastend auswirken kann, müssen die Betroffenen in
der Lage sein, den Umfang der ihnen auferlegten Verpflichtungen
genau zu erkennen, bevor sie ein Geschäft abschließen
(vgl. EuGH-Urteile Halifax u.a. vom 21.02.2006 - C-255/02,
EU:C:2006:121, BFH/NV 2006, Beilage 3, 260 = SIS 06 12 87, Rz 72;
Teleos u.a. vom 27.09.2007 - C-409/04, EU:C:2007:548, BStBl II
2009, 70 = SIS 08 00 38, Rz 48).
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e) Die vom Mitgliedstaat Deutschland
vorgenommene Typisierung der fehlenden Selbständigkeit
könnte daher unionsrechtlich zulässig sein. Denn wenn die
deutschen Gerichte die - aufgrund von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie
77/388/EWG erforderliche - Prüfung, ob eine juristische Person
oder (rechtsfähige oder nicht rechtsfähige)
Personenvereinigung keinen eigenen Willen hat und daher nach dem
Gesamtbild der Verhältnisse unselbständig ist, ohne
Anknüpfung an gesetzlich definierte und von der Rechtsprechung
ausgelegte Tatbestandsmerkmale vornehmen würden, könnte
dies dazu geeignet sein, die handelnden Personen über ihre
steuerrechtlichen Pflichten im Unklaren zu lassen.
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f) Der vorlegende Senat verkennt nicht, dass
es sich bei dem Merkmal der Selbständigkeit in Art. 4 Abs. 1
der Richtlinie 77/388/EWG um einen unionsrechtlichen Begriff
handelt, was die Frage aufwirft, ob eine mögliche Befugnis zur
Typisierung auch dem nationalen Gesetzgeber zusteht. Auch
könnte Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG es
ausschließen, den Begriff der Selbständigkeit
weitergehend oder abweichend national zu typisieren. Allerdings
könnte die deutsche Typisierung aber auch die hierfür
geltenden Grenzen einhalten, da das Verhältnis der
Unterordnung auch unionsrechtlich nach der Rechtsprechung des EuGH
(s. zu IV.B.2.) für die Frage der Selbständigkeit
bedeutsam ist; denn eine Unterordnung indiziert die fehlende
Selbständigkeit.
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g) Dafür könnte eine systematische
Auslegung sprechen; denn Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie
77/388/EWG, der keine Mitgliedstaaten-Option enthält und auch
„sonstige Personen“ sowie ein
„sonstiges Rechtsverhältnis“ umfasst,
stellt ebenfalls auf ein „Verhältnis der
Unterordnung“ ab. Dies könnte einen allgemeinen
Rechtsgedanken zum Ausdruck bringen, der nach der Rechtsprechung
des EuGH (s. zu IV.B.2.) auch dann gilt, wenn die
übergeordnete Person kein „Arbeitgeber“
ist. Entsprechend haben die Rechtsprechung des RFH und des BFH
früher bei Einhaltung der Eingliederungsvoraussetzungen
bereits auch Personenvereinigungen über § 2 Abs. 2 Nr. 1
UStG als unselbständig angesehen (sog.
„organschaftsähnliches Verhältnis“,
vgl. BFH-Urteil vom 19.11.1964 - V 245/61 S, BFHE 81, 506, BStBl
III 1965, 182 = SIS 65 01 06; aufgegeben durch BFH-Urteil vom
07.12.1978 - V R 22/74, BFHE 127, 262, BStBl II 1979, 356 = SIS 79 01 75).
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Überdies könnte hierfür die
historische Auslegung sprechen: Aus Anhang A Nr. 2 zu Art. 4 der
Zweiten Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11.04.1967 zur
Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über
die Umsatzsteuern - Struktur und Anwendungsmodalitäten des
gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (Richtlinie 67/228/EWG)
könnte abzuleiten sein, dass die Organschaft - jedenfalls
unter Geltung der Richtlinie 67/228/EWG - ein Fall der fehlenden
Selbständigkeit war. Bei Schaffung der Richtlinie 67/228/EWG
schienen nach Auffassung der Kommission (Begründung zum
Richtlinienvorschlag, KOM (65) 144 endg., S. 7 f., zu Art. 2) keine
größeren Nachteile vorhanden zu sein, wenn bestimmte
Mitgliedstaaten „weiterhin“ die Organschaft als
einen einzigen Steuerpflichtigen ansehen. Anhang A der Richtlinie
67/228/EWG insgesamt scheint dazu gedient zu haben, unter anderem
die Organschaftsregelung Deutschlands unionsrechtlich derart zu
legitimieren, dass Deutschland seine Regelung zur Organschaft
unverändert beibehalten darf. Dies könnte auch heute noch
von Bedeutung sein.
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Schließlich spricht Art. 4 Abs. 4
Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG nicht gegen diese Auslegung;
insbesondere verliert die Regelung nicht ihren Zweck: Zwischen der
darin vorgesehenen modernen Gruppenbesteuerung (gemeinsame
Umsatzbesteuerung gleichgeordneter Gruppenmitglieder) und der
deutschen Organschaft bestehen, wie gezeigt, sowohl tatbestandlich
als auch rechtsfolgentechnisch derart gravierende Unterschiede,
dass es sinnvoll erscheint, den Mitgliedstaaten eine
Möglichkeit zur Einführung dieser modernen
Gruppenbesteuerung im Wege der Option zu eröffnen, ohne ihnen
daneben eine Typisierung des Merkmals der Selbständigkeit zu
verbieten.
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C. Entscheidungserheblichkeit
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Sämtliche Vorlagefragen sind
entscheidungserheblich.
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1. Der Senat benötigt die Antworten auf
die Fragen 1 bis 3, um die ihm nach Rz 46 des EuGH-Urteils Larentia
+ Minerva (EU:C:2015:496, BStBl II 2017, 604 = SIS 15 18 50, Rz 44
f.) obliegende Prüfung vornehmen zu können. Wäre die
bisherige Inhaltsbestimmung der finanziellen Eingliederung nicht
gerechtfertigt, wäre die Revision zurückzuweisen. Ist
dies nicht der Fall, ist die Revision begründet und die Klage
auf der Grundlage des nationalen Rechts abzuweisen.
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2. Die Antwort auf Frage 4 benötigt der
Senat, um unionsrechtlich zweifelsfrei eine alternative
Rechtfertigung der deutschen Organschaft über Art. 4 Abs. 1
der Richtlinie 77/388/EWG (ggf. i.V.m. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1
der Richtlinie 77/388/EWG) prüfen zu können.
Bestünde diese alternative Rechtfertigung, wäre die
Revision begründet und die Klage unabhängig von den
Antworten auf die Fragen 1 bis 3 ohne Prüfung des
Erforderlichkeitskriteriums der Vermeidung von Missbräuchen
und Steuerhinterziehungen oder -umgehungen abzuweisen.
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D. Rechtsgrundlage der Anrufung,
Nebenentscheidungen
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1. Rechtsgrundlage für die Anrufung des
EuGH ist Art. 267 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise
der Europäischen Union.
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2. Die Aussetzung des Verfahrens beruht auf
§ 121 Satz 1 i.V.m. § 74 FGO.
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