Die Revision der Klägerin gegen das
Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 09.11.2017 - 6 K 14/17 = SIS 17 25 20 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die
Klägerin zu tragen.
1
|
I. Die Beteiligten streiten über einen
Haftungsbescheid, durch den die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) für Lohnsteuer ihrer
ehemaligen Geschäftsführerin, der Beigeladenen, in
Anspruch genommen wird. Im Streit ist insbesondere die
abkommensrechtliche Behandlung des laufenden Arbeitslohns und einer
Abfindung.
|
|
|
2
|
Die Klägerin, eine inländische
GmbH, bestellte die Beigeladene mit Wirkung ab dem 12.11.2007 bis
zum 31.12.2010 zum Mitglied der Geschäftsführung und
schloss mit ihr am ... 2007 einen entsprechenden Dienstvertrag. Die
Beigeladene war für die Weiterentwicklung der
Geschäftstätigkeit der Klägerin in Osteuropa
zuständig und erfüllte ihre Aufgaben in der Republik
Polen (Polen) sowie in ihrem Zweitbüro im Inland. Ihr stand
ein Dienstwagen zur Verfügung, den sie auch privat nutzen
durfte. Der Dienstvertrag wurde durch den
Geschäftsführer-Anstellungsvertrag vom ... 2010 mit
erhöhten Bezügen bis zum 31.12.2015
verlängert.
|
|
|
3
|
Die Beigeladene hatte ihren Wohnsitz
ausschließlich in Polen. Ihre Tätigkeit übte sie
teilweise in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland), zum
überwiegenden Teil aber in Polen und anderen Staaten
aus.
|
|
|
4
|
Im Juli 2013 wurde die Beigeladene von
ihren Tätigkeiten freigestellt. Ihre Bestellung zur
Geschäftsführerin wurde zum 01.09.2013 widerrufen und am
... 2013 im Handelsregister gelöscht. Auf Grundlage des
Aufhebungsvertrags vom ... 2013 endete der Anstellungsvertrag zum
31.10.2013. Die Beigeladene erhielt für das Jahr 2013 u.a. ihr
anteiliges Festgehalt (Jahresgehalt: ... EUR), eine variable
Vergütung in Höhe von ... EUR sowie einen Betrag in
Höhe von ... EUR zur Abgeltung von Urlaubsansprüchen.
Zudem wurde in dem Aufhebungsvertrag eine Abfindung in Höhe
von insgesamt ... EUR vereinbart. Von dieser Abfindung zahlte die
Klägerin im Jahr 2013 insgesamt ... EUR an die
Beigeladene.
|
|
|
5
|
Soweit die Beigeladene ihre Tätigkeit
in Deutschland ausgeübt hatte, führte die Klägerin
für das Festgehalt und die variable Vergütung
zeitanteilig Lohnsteuer ab. Die Abfindungszahlung sowie der Vorteil
aus der privaten Nutzung des Dienstwagens wurden nicht der
Lohnsteuer unterworfen. Eine Freistellungsbescheinigung lag der
Klägerin nicht vor.
|
|
|
6
|
Im Anschluss an eine
Lohnsteueraußenprüfung nahm der Beklagte und
Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) die Klägerin
hinsichtlich derjenigen Vergütungen und geldwerten Vorteile,
für die bisher keine Lohnsteuer angemeldet und abgeführt
worden war, mit dem Haftungsbescheid vom 25.11.2014
gemäß § 42d des Einkommensteuergesetzes (EStG) in
Anspruch. Der Haftungsbescheid betraf Lohnsteuer der Beigeladenen
für den Zeitraum Januar 2010 bis Dezember 2013 in Höhe
von insgesamt ... EUR zuzüglich Solidaritätszuschlag in
Höhe von insgesamt ... EUR. Dabei berücksichtigte das FA
einen geldwerten Vorteil aus der privaten Nutzung des
Dienstwagens.
|
|
|
7
|
Die gegen den Haftungsbescheid erhobene
Klage wies das Finanzgericht (FG) Hamburg mit Gerichtsbescheid vom
09.11.2017 - 6 K 14/17 (EFG 2018, 258 = SIS 17 25 20) als
unbegründet ab. Die Voraussetzungen für die
Inanspruchnahme der Klägerin durch Haftungsbescheid
gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1 Variante 1 der
Abgabenordnung (AO) i.V.m. § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG seien
erfüllt. Darüber hinaus habe das FA bei der
Inanspruchnahme der Klägerin ermessensfehlerfrei gehandelt
(§ 102 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ). U.a. sei zu
berücksichtigen, dass Deutschland nach Art. 16 Abs. 2 des
Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik
Polen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 14.05.2003 (BGBl II
2004, 1305, BStBl I 2005, 350) - DBA-Polen 2003 - das
Besteuerungsrecht für die gesamte Vergütung der
Beigeladenen (einschließlich geldwerter Vorteile und
Abfindung) gehabt habe.
|
|
|
8
|
Die Klägerin macht mit ihrer Revision
die Verletzung materiellen Rechts geltend und beantragt
sinngemäß, die Vorentscheidung sowie den
Haftungsbescheid vom 25.11.2014 über Lohnsteuer und sonstige
Lohnabzugsbeträge für die Zeit von Januar 2010 bis
Dezember 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.12.2016
aufzuheben.
|
|
|
9
|
Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
|
|
|
10
|
II. Die Entscheidung ergeht gemäß
§ 126a FGO. Der Senat hält einstimmig die Revision
für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht
für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet
worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
|
|
|
11
|
Das FG hat die Klage gegen den
Lohnsteuerhaftungsbescheid für den Zeitraum Januar 2010 bis
Dezember 2013 vom 25.11.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung
vom 23.12.2016 zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hätte
nicht nur für denjenigen Teil der laufenden Vergütungen,
der auf die Tätigkeit der Beigeladenen in Deutschland entfiel,
sondern für sämtliche Vergütungen der Beigeladenen
(einschließlich geldwerter Vorteile und Abfindungszahlungen)
Lohnsteuer i.S. der §§ 38 ff. EStG einbehalten, anmelden
und abführen müssen. In Höhe der pflichtwidrig nicht
einbehaltenen und abgeführten Lohnsteuer haftet sie
gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1 Variante 1 AO i.V.m.
§ 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG. Für den
Solidaritätszuschlag gilt Entsprechendes. Die Inanspruchnahme
der Klägerin durch den Haftungsbescheid war auch frei von
Ermessensfehlern (§ 102 FGO). Insbesondere hat das FG zu Recht
entschieden, dass sich die Klägerin nicht auf eine
abkommensrechtliche Freistellung der bisher nicht der Lohnsteuer
unterworfenen Vergütungen berufen kann.
|
|
|
12
|
1. Der angefochtene Haftungsbescheid
erfüllt die formellen und materiellen
Tatbestandsvoraussetzungen des § 191 Abs. 1 Satz 1 Variante 1
AO i.V.m. § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG.
|
|
|
13
|
Gemäß § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG
haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er nach §
38 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 EStG bei jeder Lohnzahlung für
Rechnung des Arbeitnehmers vom Arbeitslohn einzubehalten und nach
§ 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG abzuführen hat. Dies gilt
auch für den Solidaritätszuschlag (§ 1 Abs. 2 des
Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 in der für den
Haftungszeitraum geltenden Fassung).
|
|
|
14
|
a) Nach zutreffender Auffassung des FG, die
von den Beteiligten nicht angegriffen worden ist, war die
Klägerin lohnsteuerrechtlich Arbeitgeberin der
Beigeladenen.
|
|
|
15
|
b) Im Rahmen ihrer beschränkten
Steuerpflicht (§ 1 Abs. 4 EStG) erzielte die Beigeladene
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die
gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 EStG der Lohnsteuer
unterliegen. Das FG ist zutreffend von inländischen
Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit gemäß
§ 19 EStG i.V.m. § 49 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. c EStG
(hinsichtlich der laufenden Geschäftsführervergütung
einschließlich der geldwerten Vorteile aus der PKW-Nutzung)
und § 49 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. d EStG (hinsichtlich der als
Abfindung geleisteten Zahlungen) ausgegangen.
|
|
|
16
|
Über den Gesamtbetrag der
Vergütungen im Haftungszeitraum und die sich - bei Annahme
einer umfassenden Lohnsteuerpflicht - daraus ergebende Höhe
der Lohnsteuer zuzüglich Solidaritätszuschlag besteht
zwischen den Beteiligten im Revisionsverfahren kein Streit. Dies
gilt auch für die Höhe der dem Haftungsbescheid zugrunde
liegenden Differenz zu der von der Klägerin tatsächlich
einbehaltenen und abgeführten Lohnsteuer zuzüglich
Solidaritätszuschlag. Der Senat sieht keine Anhaltspunkte,
diese vom FG zugrunde gelegten Beträge in Zweifel zu
ziehen.
|
|
|
17
|
c) Die Pflicht der Klägerin zur
Einbehaltung der Lohnsteuer war nicht durch Vorlage einer
Freistellungsbescheinigung gemäß § 39b Abs. 6 EStG
a.F. entfallen.
|
|
|
18
|
Nach dieser Vorschrift erteilt das
Betriebsstättenfinanzamt auf Antrag des Arbeitnehmers oder des
Arbeitgebers eine Bescheinigung, wenn der vom Arbeitgeber gezahlte
Arbeitslohn nach einem Abkommen zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung (DBA) von der Lohnsteuer freizustellen ist. Zwar
wurde § 39b Abs. 6 EStG a.F. (ebenso wie die besonderen
Vorschriften zur Durchführung des Lohnsteuerabzugs für
beschränkt einkommensteuerpflichtige Arbeitnehmer
gemäß § 39d EStG a.F.) durch das Gesetz zur
Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung
steuerlicher Vorschriften (Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz
- BeitrRLUmsG - ) vom 07.12.2011 (BGBl I 2011, 2592, BStBl I 2011,
1171) zum 01.01.2012 gestrichen und durch eine Mitteilung im
Verfahren der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale
gemäß § 39 Abs. 4 Nr. 5 EStG n.F. ersetzt. §
39b Abs. 6 EStG a.F. galt aber gemäß § 52 Abs. 50g
und 51b EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG für den gesamten
Haftungszeitraum weiter fort (vgl. Bundesministerium der Finanzen
vom 08.11.2018, BStBl I 2018, 1137 = SIS 18 17 33, Rz 6 und 89
ff.).
|
|
|
19
|
Nach den bindenden Feststellungen des FG
(§ 118 Abs. 2 FGO) lag eine Freistellungsbescheinigung i.S.
des § 39b Abs. 6 EStG a.F. zum Zeitpunkt der streitigen
Zahlungen weder vor noch war sie beantragt. Unter
Berücksichtigung des Art. 29 DBA-Polen 2003 folgt daraus, dass
die Klägerin die Lohnsteuer für den an die Beigeladene
gezahlten Arbeitslohn auch dann einbehalten und abführen
musste, wenn nach dem DBA-Polen 2003 eine (teilweise) Freistellung
von der inländischen Einkommensteuer vorgesehen war
(Senatsurteil vom 12.06.1997 - I R 72/96, BFHE 183, 30, BStBl II
1997, 660 = SIS 97 22 91 zur vergleichbaren Regelung in Art. 25b
des DBA-Frankreich und in Abgrenzung zum Senatsurteil vom
10.05.1989 - I R 50/85, BFHE 157, 142, BStBl II 1989, 755 = SIS 89 17 59).
|
|
|
20
|
d) Auch die weiteren
Tatbestandsvoraussetzungen einer Inanspruchnahme der Klägerin
durch Haftungsbescheid lagen vor.
|
|
|
21
|
Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass
weder ein Verschulden der Klägerin (vgl. Beschluss des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 19.05.2009 - VI B 8/08, BFH/NV 2009,
1454 = SIS 09 26 84) noch eine Festsetzung der zugrunde liegenden
Steuerschuld (BFH-Urteil vom 15.02.2011 - VII R 66/10, BFHE 232,
313, BStBl II 2011, 534 = SIS 11 13 37 zur Lohnsteuer, m.w.N.; vgl.
auch BFH-Beschluss vom 21.05.2004 - V B 212/03, BFH/NV 2004, 1368 =
SIS 04 35 68, m.w.N.) erforderlich waren.
|
|
|
22
|
§ 191 Abs. 5 Nr. 1 AO stand der
Inanspruchnahme der Klägerin ebenfalls nicht entgegen. Nach
dieser Vorschrift hätte der angefochtene Haftungsbescheid
nicht ergehen dürfen, soweit die Steuer gegen den
Steuerschuldner nicht festgesetzt worden ist und wegen des Ablaufs
der Festsetzungsfrist auch nicht mehr festgesetzt werden kann. Dies
ist Folge des allgemeinen Grundsatzes der Akzessorietät der
Haftungsschuld. Maßgebend ist der Zeitpunkt des Erlasses des
Haftungsbescheids, d.h. eine anschließende
Festsetzungsverjährung der zugrunde liegenden Steuerschuld ist
unschädlich (BFH-Urteil vom 11.07.2001 - VII R 28/99, BFHE
195, 510, BStBl II 2002, 267 = SIS 01 12 55).
|
|
|
23
|
Im Streitfall hat das FA den an die
Klägerin gerichteten Lohnsteuerhaftungsbescheid bereits im
Jahr 2014 erlassen. Zu diesem Zeitpunkt war die vierjährige
Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) für die
Lohnsteuerschulden der Beigeladenen für den Haftungszeitraum
Januar 2010 bis Dezember 2013 - auch ohne Rückgriff auf §
171 Abs. 15 AO - noch nicht abgelaufen. Entsprechendes gilt
für die Einkommensteuerschulden der Beigeladenen, so dass es
nicht darauf ankommt, ob zumindest im Rahmen der tatbestandlichen
Voraussetzungen der Haftung nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG
allein auf die Lohnsteuer abzustellen ist (vgl. BFH-Urteil vom
06.03.2008 - VI R 5/05, BFHE 220, 307, BStBl II 2008, 597 = SIS 08 20 70, und BFH-Beschluss vom 17.03.2016 - VI R 3/15, BFH/NV 2016,
994 = SIS 16 11 24 zur Berechnung der Festsetzungsfristen; auch
BFH-Urteil vom 21.09.2017 - VIII R 59/14, BFHE 259, 411, BStBl II
2018, 163 = SIS 17 22 64 zur Kapitalertragsteuer, und Senatsurteil
vom 07.11.2019 - I R 46/17, BFHE 267, 323, BStBl II 2020, 552 = SIS 20 07 71 zur Bauabzugsteuer) oder ob - und gegebenenfalls unter
welchen Voraussetzungen - (auch) die individuelle
Einkommensteuerschuld Bedeutung erlangt (vgl. FG
Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.10.2018 - 4 K 4263/17 = SIS 18 19 69, Revision BFH VI R 47/18; Gersch in Herrmann/Heuer/Raupach,
§ 42d EStG Rz 22 und 75; Schmidt/Krüger, EStG, 39. Aufl.,
§ 42d Rz 2 und 11, jeweils m.w.N.).
|
|
|
24
|
2. Das FG hat zu Recht entschieden, dass das
FA den angefochtenen Haftungsbescheid ermessenfehlerfrei erlassen
hat (§ 102 FGO). Dies gilt sowohl für das Auswahl- als
auch für das Entschließungsermessen.
|
|
|
25
|
a) Hinsichtlich des Auswahlermessens hat das
FG zutreffend nicht beanstandet, dass das FA von den
Gesamtschuldnern i.S. des § 42d Abs. 3 Satz 1 EStG die
Klägerin als Arbeitgeberin und nicht die Beigeladene als
Arbeitnehmerin in Anspruch genommen hat. Die Erwägung des FA,
wegen des ausländischen Wohnsitzes der Beigeladenen auf die
Klägerin als Haftungsschuldnerin zurückzugreifen, war
frei von Ermessensfehlern (vgl. auch Senatsbeschlüsse vom
03.12.1996 - I B 44/96, BFHE 181, 562, BStBl II 1997, 306 = SIS 97 08 57; vom 08.11.2000 – I B 59/00, juris = SIS 01 58 37;
Senatsurteil vom 19.12.2012 - I R 81/11, BFH/NV 2013, 698 = SIS 13 10 51, jeweils m.w.N.).
|
|
|
26
|
b) Im Rahmen des Entschließungsermessens
hat das FG im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die
Haftungsinanspruchnahme im Streitfall nicht wegen eines
entschuldbaren Rechtsirrtums ausgeschlossen sein kann (vgl. hierzu
BFH-Urteile vom 18.09.1981 - VI R 44/77, BFHE 134, 149, BStBl II
1981, 801 = SIS 82 02 27; vom 24.01.1992 - VI R 177/88, BFHE 167,
359, BStBl II 1992, 696 = SIS 92 13 67; vom 18.08.2005 - VI R
32/03, BFHE 210, 420, BStBl II 2006, 30 = SIS 05 44 58;
Schmidt/Krüger, a.a.O., § 42d Rz 26).
|
|
|
27
|
Dies folgt bereits daraus, dass die
Klägerin nach Aktenlage im Namen der Beigeladenen für
sämtliche Jahre des Haftungszeitraums vor Ablauf der
jeweiligen Kalenderjahre Anträge auf Erteilung einer
Bescheinigung für beschränkt steuerpflichtige
Arbeitnehmer gestellt hat, ohne Angaben in Teil E der
Antragsvordrucke zu machen. Teil E betraf aber gerade die
Möglichkeit, sich abkommensrechtliche Freistellungen durch
eine entsprechende Freistellungsbescheinigung vom
Betriebsstättenfinanzamt bestätigen zu lassen. Da die
Klägerin diese Möglichkeit nicht genutzt hat, geht ein
etwaiger Irrtum über die Anwendbarkeit und Reichweite der
abkommensrechtlichen Freistellungen in jedem Fall zu ihren
Lasten.
|
|
|
28
|
3. Schließlich hat das FG
rechtsfehlerfrei entschieden, dass das DBA-Polen 2003 keine - auch
keine teilweise - Freistellung der
Geschäftsführervergütungen der Beigeladenen von der
inländischen Besteuerung vorsieht. Deutschland hat als
Ansässigkeitsstaat der Klägerin gemäß Art. 16
DBA-Polen 2003 das Besteuerungsrecht für sämtliche
Geschäftsführervergütungen der Beigeladenen
(einschließlich der Abfindung).
|
|
|
29
|
Im Streitfall kann es deshalb dahingestellt
bleiben, ob und inwieweit eine durch abkommensrechtliche
Freistellung niedrigere Einkommensteuerschuld der Beigeladenen im
Rahmen der Prüfung der Ermessensentscheidung (§ 102 FGO)
zu berücksichtigen gewesen wäre. Entsprechendes gilt
für die Frage, welchen Einfluss es hat, dass zum Zeitpunkt der
Lohnzahlungen keine Freistellungsbescheinigung i.S. des § 39b
Abs. 6 EStG a.F. erteilt oder beantragt war, sowie für die
hiermit zusammenhängende Frage, ob und unter welchen
Voraussetzungen eine solche Bescheinigung rückwirkend erteilt
werden könnte.
|
|
|
30
|
a) Nach der deutschen Sprachfassung des Art.
16 Abs. 1 DBA-Polen 2003 können „Aufsichtsrats- oder
Verwaltungsratsvergütungen“ und
ähnliche Zahlungen, die eine in Polen ansässige Person
„in ihrer Eigenschaft als Mitglied des Aufsichts- oder
Verwaltungsrats“ einer in Deutschland
ansässigen Gesellschaft bezieht, in Deutschland besteuert
werden. Art. 16 Abs. 2 DBA-Polen 2003 erweitert diese Regelung auf
Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, die
eine in Polen ansässige Person „in ihrer Eigenschaft
als bevollmächtigter Vertreter“ einer
in Deutschland ansässigen Gesellschaft bezieht.
|
|
|
31
|
Dagegen bezieht sich die polnische
Sprachfassung des Art. 16 Abs. 1 DBA-Polen 2003 (BGBl II 2004,
1305) nicht auf den Verwaltungsrat, sondern auf die
Geschäftsführung bzw. den Vorstand
(„zarzadu“, „zarzadzie
spolki“). Nach der Schlussklausel des
DBA-Polen 2003 sind die deutsche und die polnische Sprachfassung
gleichermaßen verbindlich.
|
|
|
32
|
b) Auch wenn in der deutschen Sprachfassung
des Art. 16 DBA-Polen 2003 Geschäftsführer einer GmbH
nicht ausdrücklich erwähnt werden, sind sie als
„bevollmächtigter Vertreter“
i.S. des Art. 16 Abs. 2 DBA-Polen 2003 anzusehen (Prokisch in
Vogel/Lehner, DBA, 6. Aufl., Art. 16 Rz 23a; Schmidt in Haase,
AStG/DBA, 3. Aufl., Art. 16 MA Rz 44; Bernhardt/Piekielnik, IStR
2005, 366; wohl auch Kahlenberg, Internationale Steuer-Rundschau
2018, 435, 437; a.A. Reith in Wassermeyer, Polen Art. 16 Rz
19).
|
|
|
33
|
aa) Zur Ermittlung des Regelungsgehalts eines
völkerrechtlichen Vertrags ist das Wiener Übereinkommen
über das Recht der Verträge vom 23.05.1969 - WÜRV -
(BGBl II 1985, 927) heranzuziehen, das seit Inkrafttreten des
Zustimmungsgesetzes vom 03.08.1985 (BGBl II 1985, 926) am
20.08.1987 (BGBl II 1987, 757) in innerstaatliches Recht
transformiert ist (Senatsurteile vom 11.07.2018 - I R 44/16, BFHE
262, 354 = SIS 18 19 17; vom 30.05.2018 - I R 62/16, BFHE 262, 54 =
SIS 18 17 17). Danach sind DBA nach Treu und Glauben in
Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen
in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines
Zieles und Zweckes auszulegen (Art. 31 Abs. 1 WÜRV).
Maßgeblich sind insbesondere der Wortlaut des Vertrags (Art.
31 Abs. 2 WÜRV) und die gewöhnliche Bedeutung der
verwendeten Ausdrücke (vgl. Senatsurteil vom 27.02.2019 - I R
73/16, BFHE 263, 525, BStBl II 2019, 394 = SIS 19 05 69).
|
|
|
34
|
Dem entsprechend sind abkommensrechtliche
Begriffe nach der Rechtsprechung des Senats (Urteile vom 25.02.2004
- I R 42/02, BFHE 206, 5, BStBl II 2005, 14 = SIS 04 27 16; vom
26.08.2010 - I R 53/09, BFHE 231, 63, BStBl II 2019, 147 = SIS 10 36 86) zunächst nach dem Wortlaut und den Definitionen des
Abkommens und sodann nach dem Sinn und dem Vorschriftenzusammenhang
innerhalb des Abkommens auszulegen. Auf die Begriffsbestimmungen
des innerstaatlichen Rechts ist grundsätzlich erst auf einer
nachgelagerten Prüfungsebene zurückzugreifen.
|
|
|
35
|
bb) Hiervon ausgehend ist im Streitfall
festzustellen, dass der Begriff „bevollmächtigter
Vertreter“ des Art. 16 Abs. 2 DBA-Polen
2003 nicht in dem Abkommen definiert ist. Außerdem lässt
sich unter Berücksichtigung der gewöhnlichen Bedeutung
dieses Begriffs aus dem Wortlaut keine Beschränkung auf
rechtsgeschäftlich bevollmächtigte Vertreter herleiten.
Vielmehr handelt es sich um eine allgemeine Formulierung, die
grundsätzlich auch diejenigen Vertreter erfassen kann, deren
gesetzliche Vertretungsmacht auf einer organschaftlichen Stellung
beruht.
|
|
|
36
|
Darüber hinaus ist im Rahmen der
abkommensrechtlichen Auslegung entscheidend, dass Art. 16 Abs. 2
DBA-Polen 2003 eine Erweiterung des Art. 16 Abs. 1 DBA-Polen 2003
darstellt, der seinerseits auf Art. 16 des Musterabkommens der
Organisation for Economic Cooperation and Development
(OECD-Musterabkommen - OECD-MustAbk - ) beruht. Art. 16
OECD-MustAbk zielt darauf ab, die Besteuerungsrechte für
Aufsichtsrats- und Verwaltungsratsvergütungen nicht wie in
Art. 15 OECD-MustAbk nach dem Tätigkeitsortsprinzip, sondern
nach dem Ansässigkeitsort der Gesellschaft zuzuordnen.
Hintergrund sind vor allem praktische Schwierigkeiten bei der
Feststellung, wo solche Leistungen erbracht werden (Art. 16 Nr. 1
OECD-Musterkommentar). Teilweise ist diese Sonderregelung in den
von Deutschland abgeschlossenen DBA ausdrücklich auf
Geschäftsführer erweitert worden (Beispiele bei Prokisch
in Vogel/Lehner, a.a.O., Art. 16 Rz 21 ff.). Aus den
ausdrücklichen Regelungen anderer DBA lässt sich aber
nicht der Umkehrschluss ziehen, dass das Fehlen der Bezugnahme auf
Geschäftsführer in Art. 16 Abs. 2 DBA-Polen 2003 gegen
ihre Einbeziehung in den Regelungsbereich dieser Vorschrift
spricht. Vielmehr enthält Art. 16 Abs. 2 DBA-Polen 2003 eine
besonders weitgehende Ergänzung, die (auch)
Generalbevollmächtigte und Prokuristen erfasst. Es bestehen
keine Anhaltspunkte, weshalb bei solch einer umfangreichen
Erweiterung gerade Geschäftsführer ausgenommen sein
sollen.
|
|
|
37
|
Im Übrigen werden polnische Gerichte und
Verwaltungsbehörden wegen der polnischen Sprachfassung des
Art. 16 Abs. 1 DBA-Polen 2003, der sich ausdrücklich auch auf
Geschäftsführer bezieht, zumindest in der Konstellation
des Streitfalls - in Polen ansässige
Geschäftsführerin einer in Deutschland ansässigen
Gesellschaft - ebenfalls von einer Besteuerung der gesamten
Geschäftsführervergütungen in Deutschland ausgehen.
Ob die Beigeladene von sich aus die streitigen Einkünfte in
Polen erklärt und im Wege der Selbstveranlagung der polnischen
Besteuerung unterworfen hat, spielt insofern keine Rolle.
|
|
|
38
|
cc) Art. 3 Abs. 2 DBA-Polen 2003 führt zu
keinem anderen Ergebnis, ohne dass es einer abschließenden
Entscheidung über dessen Verhältnis zu den
Auslegungsgrundsätzen des WÜRV bedarf (vgl. hierzu
Nachweise im Senatsurteil in BFHE 263, 525, BStBl II 2019, 394 =
SIS 19 05 69).
|
|
|
39
|
Nach Art. 3 Abs. 2 DBA-Polen 2003 soll - wenn
der Zusammenhang nichts anderes erfordert - ein nicht im Abkommen
definierter Begriff diejenige Bedeutung haben, die ihm nach dem
Steuerrecht des Anwenderstaates in dem jeweiligen
Anwendungszeitraum zukommt (sog. lex-fori-Klausel). Im Streitfall
weicht das Begriffsverständnis des nationalen Rechts aber
nicht von dem Ergebnis der abkommensrechtlichen Auslegung ab.
|
|
|
40
|
Der Begriff „bevollmächtigter
Vertreter“ wird nur im nationalen
Zivilrecht als Abgrenzung zum organschaftlichen Vertreter
verwendet, dessen Handeln der juristischen Person wie Eigenhandeln
zuzurechnen ist (vgl. Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.05.2017 -
II ZB 7/16, BGHZ 215, 69 = SIS 17 10 00). Im nationalen Steuerrecht
hat der Begriff dagegen keine einschränkende Bedeutung.
Vielmehr kann ein organschaftlich handelnder
Geschäftsführer steuerrechtlich ständiger
„Vertreter“ i.S. des § 13 AO
sein (Senatsurteil vom 23.10.2018 - I R 54/16, BFHE 263, 102, BStBl
II 2019, 365 = SIS 19 03 99). Entsprechendes muss auch für die
Formulierung „bevollmächtigter
Vertreter“ gelten, da die zusätzliche
Voraussetzung einer Bevollmächtigung nicht gleichbedeutend mit
einer Begrenzung auf rechtsgeschäftliche
Bevollmächtigungen ist.
|
|
|
41
|
c) Art. 16 Abs. 2 DBA-Polen 2003 erfasst die
gesamten Geschäftsführervergütungen der Beigeladenen
einschließlich der Abfindung.
|
|
|
42
|
Nach ihrem Wortlaut regelt die Vorschrift ein
Besteuerungsrecht für „Gehälter, Löhne und
ähnliche Vergütungen“, die von
einer Person „in ihrer Eigenschaft als
bevollmächtigter Vertreter einer
Gesellschaft“ bezogen werden.
|
|
|
43
|
Aufgrund dieses Wortlauts ist die
Rechtsprechung des Senats zur Behandlung von Abfindungen nach
abkommensrechtlichen Regelungen, die Art. 15 OECD- MustAbk
nachgebildet sind, nicht entsprechend anwendbar. Zwar hat der Senat
zu solchen abkommensrechtlichen Regelungen wiederholt entschieden,
dass Abfindungen anlässlich der Beendigung eines
Dienstverhältnisses nicht im Tätigkeitsstaat, sondern im
Ansässigkeitsstaat des Arbeitnehmers zu besteuern sind, da es
sich nicht um ein Entgelt für die frühere Tätigkeit,
sondern um ein Entgelt für den Verlust des Arbeitsplatzes
handelt (vgl. Senatsurteile vom 02.09.2009 - I R 111/08, BFHE 226,
276, BStBl II 2010, 387 = SIS 09 33 01; vom 10.06.2015 - I R 79/13,
BFHE 250, 110, BStBl II 2016, 326 = SIS 15 21 48; vom 11.04.2018 -
I R 5/16, BFHE 261, 27, BStBl II 2018, 761 = SIS 18 14 49). Dabei
hat er aber maßgeblich auf die in Art. 15 Abs. 1 Satz 2
OECD-MustAbk geregelte Verknüpfung mit der Tätigkeit
(„dafür“) abgestellt.
|
|
|
44
|
Nach Art. 16 Abs. 2 DBA-Polen 2003 genügt
es dagegen, wenn die Vergütung in der „Eigenschaft
als bevollmächtigter Vertreter“
bezogen wird. Damit knüpft die Vorschrift nicht an die
konkrete Tätigkeit, sondern lediglich an den Status des
Steuerpflichtigen an, im Streitfall also an den Status der
Beigeladenen als Geschäftsführerin der Klägerin.
Deshalb werden auch Abfindungen erfasst, die aufgrund der
Beendigung dieses Status gezahlt werden (s. Senatsurteil vom
24.07.2013 - I R 8/13, BFHE 245, 291, BStBl II 2014, 929 = SIS 14 20 89 zum DBA-Frankreich; vgl. auch Prokisch in Vogel/Lehner,
a.a.O., Art. 16 Rz 4c; Tcherveniachki in Schönfeld/ Ditz, DBA,
2. Aufl., Art. 16 Rz 38). Der konkrete Zeitpunkt der Zahlung ist
dabei unerheblich. Weder die tatsächliche Beendigung der
Geschäftsführertätigkeit noch der Widerruf der
Bestellung, die Löschung der Eintragung im Handelsregister
oder die Beendigung des Anstellungsvertrags ändern etwas
daran, dass die Abfindung aufgrund des (früheren) Status als
Geschäftsführer gezahlt wird.
|
|
|
45
|
Folge des Vorstehenden ist zudem, dass es im
anhängigen Verfahren auf die Anwendbarkeit des § 50d Abs.
12 EStG n.F., der eine Ausweitung des deutschen Besteuerungsrechts
für Abfindungen zur Folge haben soll (BTDrucks 18/10506, S.
78), nicht ankommt.
|
|
|
46
|
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §
135 Abs. 2 FGO.
|