Die Revision des Beklagten gegen das Urteil
des Hessischen Finanzgerichts vom 17.09.2019 - 6 K 174/19 = SIS 19 19 79 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der
Beklagte zu tragen.
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I. Streitig ist, in welcher Höhe ein
durch die Frist des § 66 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes
(EStG) ausgeschlossener Anspruch auf Kindergeld die tarifliche
Einkommensteuer erhöht.
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Die Kläger und Revisionsbeklagten
(Kläger) sind Ehegatten und wurden im Streitjahr 2017 zusammen
zur Einkommensteuer veranlagt. Sie sind die Eltern eines 1995
geborenen Sohnes, der im Streitjahr 2017 ein Studium
absolvierte.
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Am 23.05.2018 beantragte der Kläger
rückwirkend ab Januar 2017 Kindergeld für seinen Sohn.
Die Familienkasse setzte mit Bescheid vom 02.07.2018 unter Hinweis
auf die Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG jedoch nur
Kindergeld ab November 2017 fest und zahlte entsprechend auch nur
das Kindergeld für November und Dezember 2017 in Höhe von
384 EUR an den Kläger aus.
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In ihrer Einkommensteuererklärung
für 2017 beantragten die Kläger, den Kindergeldanspruch
nur in Höhe von 384 EUR zu berücksichtigen. Der Beklagte
und Revisionskläger (das Finanzamt - FA - ) folgte dem nicht,
sondern berücksichtigte im Bescheid vom 24.07.2018 die
kindbedingten Freibeträge in Höhe von 7.356 EUR und den
Kindergeldanspruch in Höhe von 2.304 EUR. Aus anderen -
unstreitigen - Gründen wurde die Einkommensteuer durch
Bescheid vom 06.08.2018 auf 96.818 EUR erhöht. Den gegen die
volle Hinzurechnung des Kindergeldanspruchs gerichteten Einspruch
wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 14.01.2019 als
unbegründet zurück und hob den bis dahin geltenden
Vorbehalt der Nachprüfung auf.
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Der dagegen gerichteten Klage gab das
Finanzgericht (FG) mit den in EFG 2019, 1983 = SIS 19 19 79
veröffentlichten Gründen statt. Die Einkommensteuer wurde
auf den Betrag herabgesetzt, der sich bei einer Hinzurechnung eines
Kindergeldanspruchs in Höhe von 384 EUR anstatt 2.304 EUR
ergibt.
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Mit der dagegen gerichteten Revision
rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
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Das FA beantragt,
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das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Klage abzuweisen.
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Die Kläger beantragen
sinngemäß,
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die Revision als unbegründet
zurückzuweisen.
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II. Die Revision ist unbegründet und war
daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FG hat § 31 Satz 4 EStG
zutreffend ausgelegt (dazu unter 1. bis 3.) und in
revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise auf den
festgestellten Sachverhalt angewendet (dazu unter 4.).
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1. Das FG hat § 31 Satz 4 EStG in der im
Streitjahr 2017 geltenden Fassung zutreffend und in
Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundesfinanzhofs (BFH)
ausgelegt.
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a) Das FG ist in revisionsrechtlich nicht zu
beanstandender Weise davon ausgegangen, dass bei der
Günstigerrechnung nach § 31 Satz 4 EStG auf den
Kindergeldanspruch abzustellen ist.
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aa) § 31 EStG verklammert als Grundnorm
des sogenannten Familienleistungsausgleichs die Vorschriften
über die kindbedingten Freibeträge nach § 32 Abs. 6
EStG mit den Vorschriften über das steuerliche Kindergeld nach
§§ 62 ff. EStG. Danach wird die steuerliche Freistellung
eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums eines
Kindes einschließlich der Bedarfe für Betreuung und
Erziehung oder Ausbildung im gesamten Veranlagungszeitraum entweder
durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG oder durch
Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG bewirkt (§ 31 Satz 1
EStG). Soweit das Kindergeld dafür nicht erforderlich ist,
dient es der Förderung der Familie (§ 31 Satz 2 EStG). Im
laufenden Kalenderjahr wird Kindergeld als Steuervergütung
monatlich gezahlt (§ 31 Satz 3 EStG). Bewirkt der Anspruch auf
Kindergeld für den gesamten Veranlagungszeitraum die nach
§ 31 Satz 1 EStG gebotene steuerliche Freistellung nicht
vollständig und werden deshalb bei der Veranlagung zur
Einkommensteuer die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG vom
Einkommen abgezogen, erhöht sich die unter Abzug dieser
Freibeträge ermittelte tarifliche Einkommensteuer um den
Anspruch auf Kindergeld für den gesamten Veranlagungszeitraum
(§ 31 Satz 4 Halbsatz 1 EStG).
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bb) Im Gegensatz zur früheren Rechtslage
(§ 31 Satz 6 i.V.m. § 36 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 EStG in
der bis zum Veranlagungszeitraum 2003 geltenden Fassung) wird nach
der seit dem Veranlagungszeitraum 2004 geltenden Fassung des §
31 Satz 4 EStG nicht mehr auf das gezahlte Kindergeld, sondern auf
den Kindergeldanspruch abgestellt.
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cc) Zur Begründung dieser
Gesetzesänderung verwies der Gesetzgeber darauf, dass die
Günstigerrechnung auf der Basis des Anspruchs auf Kindergeld
der Verwaltungsvereinfachung dienen soll (BT-Drucks. 15/1798, S. 2;
BT-Drucks. 15/1945, S. 8 f.). Der Vereinfachungseffekt wurde zum
einen darin gesehen, dass geänderte Steuerfestsetzungen im
Fall der nachträglichen Kindergeldgewährung entbehrlich
werden. Zum anderen sollte bei Eltern mit mehreren Kindern (auch
mit Zählkindern) ein fehlerträchtiger Ermittlungsschritt
beim richtigen Ausfüllen der Steuererklärungsvordrucke
vermieden werden, da das Kindergeld üblicherweise auch beim
Vorhandensein mehrerer Kinder in einer Summe gezahlt wird, die
steuerliche Günstigerrechnung dagegen einen auf das einzelne
Kind bezogenen Nachweis des Kindergeldbezugs notwendig macht.
Für gerechtfertigt hielt der Gesetzgeber diese Änderung
insbesondere deshalb, weil die frühere sechsmonatige
Antragsfrist für das Kindergeld in § 66 EStG durch das
Erste Gesetz zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze vom 16.12.1997 (BGBl I 1997, 2970) entfallen
war und der Kindergeldantrag daher bis zur Grenze der
Verjährung gestellt werden konnte (BT-Drucks. 15/1798, S. 2;
BT-Drucks. 15/1945, S. 8 f.).
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dd) Einfachrechtliche Konsequenz dieser
gesetzlichen Änderung ist nach der Rechtsprechung des BFH,
dass für die Hinzurechnung von Kindergeld nach § 31 Satz
4 EStG der ursprüngliche, vor Erlöschen (z.B. durch
Erfüllung) bestehende materiell-rechtliche Kindergeldanspruch
maßgebend ist (Senatsurteile vom 15.03.2012 - III R 82/09,
BFHE 236, 539, BStBl II 2013, 226 = SIS 12 13 78, Rz 12, und vom
20.12.2012 - III R 29/12, BFH/NV 2013, 723 = SIS 13 10 64, Rz 13;
BFH-Urteil vom 13.09.2012 - V R 59/10, BFHE 239, 59, BStBl II 2013,
228 = SIS 12 27 96, Rz 17). Wegen der vom Gesetzgeber
ausdrücklich gewollten Abkoppelung der Steuer- von der
Kindergeldfestsetzung ist nicht entscheidend, ob der Anspruch
tatsächlich durch Zahlung erfüllt worden ist. Der
Kindergeldanspruch ist seit dem Veranlagungszeitraum 2004
unabhängig von der kindergeldrechtlichen Beurteilung durch die
Familienkasse hinzuzurechnen, wenn die Berücksichtigung von
Freibeträgen nach § 32 Abs. 6 EStG rechnerisch
günstiger ist als der Kindergeldanspruch (Senatsurteil in BFHE
236, 539, BStBl II 2013, 226 = SIS 12 13 78, Rz 12). Da die
Familienkasse im Verhältnis zum FA keine ressortfremde
Behörde ist, hat der Senat eine Tatbestandswirkung des
Kindergeldbescheids für die Steuerfestsetzung verneint
(Senatsurteile in BFHE 236, 539, BStBl II 2013, 226 = SIS 12 13 78,
Rz 13, und in BFH/NV 2013, 723 = SIS 13 10 64, Rz 14).
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ee) In verfassungsrechtlicher Hinsicht ist der
BFH davon ausgegangen, dass § 31 Satz 4 EStG mit dem
allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -
), dem verfassungsrechtlichen Gebot der steuerlichen Freistellung
des Kinderexistenzminimums (Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1, Art. 6
Abs. 1 GG) und mit der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1
GG) vereinbar ist.
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(1) Dabei stellte der BFH mit Blick auf den
allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zum einen darauf ab,
dass eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist, wenn der
Steuerpflichtige diese durch Stellung eines Kindergeldantrags
selbst hätte vermeiden können (BFH-Urteil in BFHE 239,
59, BStBl II 2013, 228 = SIS 12 27 96, Rz 20; Senatsurteil in
BFH/NV 2013, 723 = SIS 13 10 64, Rz 26). Zum anderen wurde die mit
der Änderung des § 31 Satz 4 EStG angestrebte
Verwaltungsvereinfachung, mit der die Einkommensteuerfestsetzung
von Detailfragen der Kindergeldfestsetzung - wie z.B. dem Ablauf
der Festsetzungsfrist für das Kindergeld - freigehalten werden
soll, als nachvollziehbarer sachlicher Grund für eine etwaige
Ungleichbehandlung gewertet (BFH-Urteil in BFHE 239, 59, BStBl II
2013, 228 = SIS 12 27 96, Rz 20; Senatsurteil in BFH/NV 2013, 723 =
SIS 13 10 64, Rz 27). Außerdem griff der BFH auf die
Rechtsprechung des BVerfG zur früheren Methode des
Familienleistungsausgleichs zurück. Danach wird dem
einkommensteuerrechtlichen Prinzip der Besteuerung nach
individueller Leistungsfähigkeit durch § 31 Satz 5,
§ 36 Abs. 2 EStG a.F. hinreichend Rechnung getragen, wenn
gezahltes Kindergeld der Einkommensteuer nur dann hinzugerechnet
wird, wenn es dem Steuerpflichtigen zugeflossen ist, wobei ein
Zufluss im Wege eines zivilrechtlichen Ausgleichsanspruchs
ausreicht (BVerfG-Beschluss vom 13.10.2009 - 2 BvL 3/05, BVerfGE
124, 282 = SIS 10 02 76, BGBl I 2009, 3785, unter B.II.1.a). Diese
Wertung hielt der BFH auch auf den Fall für übertragbar,
dass dem Steuerpflichtigen die Obliegenheit übertragen wird,
für den Zufluss selbst Sorge zu tragen. Grundlage dieser
Überlegung war jedoch, dass der Steuerpflichtige noch bis zum
Ablauf der Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer einen
entsprechenden Antrag mit den für die Bewilligung des
Kindergeldes erforderlichen Angaben stellen kann (BFH-Urteil in
BFHE 239, 59, BStBl II 2013, 228 = SIS 12 27 96, Rz 21).
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(2) Hinsichtlich der Vereinbarkeit des §
31 Satz 4 EStG mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der
steuerlichen Freistellung des Kinderexistenzminimums (Art. 1 i.V.m.
Art. 20 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG) berücksichtigte der Senat,
dass die kindbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit im
Umfang des Kindergeldanspruchs ausschließlich als
Steuervergütung beansprucht werden kann und sich bei der
Einkommensteuerveranlagung im Ergebnis nur noch die Differenz
zwischen der Steuerminderung durch die Freibeträge nach §
32 Abs. 6 EStG und dem Kindergeldanspruch auswirken kann
(Senatsurteil in BFH/NV 2013, 723 = SIS 13 10 64, Rz 22). Das
Kindergeld stellt dabei in seiner steuerrechtlichen Funktion einen
- von der Mitwirkung des Berechtigten abhängigen - Abschlag
auf das steuerlich zu verschonende Existenzminimum eines Kindes
dar. Dabei sah der Senat die vom Gesetzgeber aufgestellte Erwartung
als gerechtfertigt an, dass der Steuerpflichtige seinem
mutmaßlichen Interesse folgt und den im laufenden Jahr
bestehenden Anspruch auf Kindergeld auch tatsächlich
realisiert. Diese Überlegung basierte aber wiederum auf der
Grundannahme, dass der Steuerpflichtige nicht mit strukturellen -
dem Gesetzgeber zuzurechnenden - Problemen bei der Durchsetzung
seines Anspruchs auf Kindergeld konfrontiert wird, wobei
ausdrücklich auf die Abschaffung des § 66 Abs. 3 EStG
a.F. und die damit einhergehende Maßgeblichkeit der
vierjährigen Festsetzungsfrist abgehoben wurde (Senatsurteil
in BFH/NV 2013, 723 = SIS 13 10 64, Rz 23).
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(3) Hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der
allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) stellte der BFH
(Urteil in BFHE 239, 59, BStBl II 2013, 228 = SIS 12 27 96, Rz 24
f.) darauf ab, dass es dem Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des
BVerfG zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Antragsfrist
nach § 66 Abs. 3 EStG a.F. (BVerfG-Beschluss vom 06.11.2003 -
2 BvR 1240/02, HFR 2004, 260, unter III.1.a, m.w.N.)
grundsätzlich frei steht, die kindbedingte Minderung der
Leistungsfähigkeit entweder im Steuerrecht zu
berücksichtigen oder ihr stattdessen im Sozialrecht durch die
Gewährung eines dafür ausreichenden Kindergeldes Rechnung
zu tragen oder auch eine Entlastung im Steuerrecht und eine solche
durch das Kindergeld miteinander zu kombinieren. Danach besteht
kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf ein Wahlrecht zwischen
Kindergeld und Kinderfreibetrag. Auch insoweit betonte der BFH
jedoch, dass die Kombination von Steuervergütung in Form eines
Kindergeldanspruchs und der lediglich ergänzenden
Berücksichtigung einer dadurch nicht vollständig
bewirkten kindbedingten Minderung der Leistungsfähigkeit durch
die Freibeträge in § 32 Abs. 6 EStG deshalb keinen
verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, weil der Anspruch auf
Kindergeld - anders als nach § 66 Abs. 3 EStG a.F. - nicht
mehr durch die Antragsfrist von sechs Monaten begrenzt ist, sondern
bis zur Grenze der Festsetzungsfrist (s. dazu Senatsbeschluss vom
31.01.2007 - III B 167/06, BFH/NV 2007, 865 = SIS 07 61 41) geltend
gemacht werden kann (BFH-Urteil in BFHE 239, 59, BStBl II 2013, 228
= SIS 12 27 96, Rz 24).
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b) Zutreffend hat das FG weiter angenommen,
dass die sechsmonatige Ausschlussfrist nach § 66 Abs. 3 EStG
i.d.F. des Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur
Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften
(Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz - StUmgBG - ) vom 23.06.2017
(BGBl I 2017, 1682, BStBl I 2017, 865) dem Festsetzungsverfahren
zuzuordnen ist.
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aa) Nach § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des
StUmgBG wird das Kindergeld rückwirkend nur für die
letzten sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt, in dem der
Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Die Regelung ist
gemäß Art. 11 Abs. 2 StUmgBG am 01.01.2018 in Kraft
getreten und gemäß § 52 Abs. 49a Satz 7 EStG i.d.F.
des Art. 7 Nr. 6 Buchst. c StUmgBG nur auf Anträge anzuwenden,
die nach dem 31.12.2017 eingehen. Durch das Gesetz gegen illegale
Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch (SozialMissbrG)
vom 11.07.2019 (BGBl I 2019, 1066, BStBl I 2019, 814) wurde §
66 Abs. 3 EStG mit Wirkung ab 18.07.2019 aufgehoben. Die Vorschrift
ist deshalb nach § 52 Abs. 49a Satz 7 EStG i.d.F. des
SozialMissbrG auf Kindergeldanträge anzuwenden, die nach dem
31.12.2017 und vor dem 18.07.2019 eingehen.
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bb) Wie der Senat in dem mittlerweile auch im
BStBl veröffentlichten Urteil vom 19.02.2020 - III R 66/18
(BFHE 268, 294, BStBl II 2020, 704 = SIS 20 08 97) entschieden hat,
ist die Vorschrift nicht im Erhebungsverfahren, sondern bereits im
Festsetzungsverfahren anzuwenden. Wegen der insoweit
maßgeblichen Gründe verweist der Senat zur Vermeidung
von Wiederholungen auf die Ausführungen unter Rz 18 ff. des
genannten Senatsurteils.
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c) Weiter hält auch die Annahme des FG,
dass ein durch die Frist des § 66 Abs. 3 EStG ausgeschlossener
Anspruch bei der Günstigerrechnung und Hinzurechnung nach
§ 31 Satz 4 EStG in Höhe von 0 EUR zu
berücksichtigen ist, revisionsrechtlicher Nachprüfung
stand.
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aa) Zutreffend hat das FG angenommen, dass bei
Anwendung des § 31 Satz 4 EStG auch in den Fällen des
Eingreifens der Ausschlussfrist nach § 66 Abs. 3 EStG dem
Grunde nach auf den Kindergeldanspruch und nicht etwa auf das
gezahlte Kindergeld abzustellen ist. Dies folgt bereits aus dem
Wortlaut der Norm, wird aber auch durch den mit der
Gesetzesänderung verfolgten Zweck der Vereinfachung der
Steuererklärung und -festsetzung gefordert.
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bb) Was die Höhe des anzusetzenden
Anspruchs anbelangt, ist jedoch bei verfassungskonformer Auslegung
des § 31 Satz 4 EStG die materiell-rechtliche Wirkung der
Ausschlussfrist auf den Kindergeldanspruch zu berücksichtigen
und ein derart ausgeschlossener Kindergeldanspruch bei der
Vergleichsrechnung und bei der Hinzurechnung nur in Höhe von 0
EUR zu berücksichtigen.
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(1) Die Regelungen des
Familienleistungsausgleichs sind unterschiedlichen Sach- und
Regelungsbereichen zuzuordnen. Zum einen geht es um die
verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Verschonung des
Familienexistenzminimums (§ 31 Satz 1 EStG), zum anderen
dienen die Regelungen zum Kindergeld, soweit dieses für die
steuerliche Freistellung nicht erforderlich ist, der Förderung
der Familie (§ 31 Satz 2 EStG). Je nachdem, welcher dieser
Bereiche betroffen ist, kommen unterschiedliche Maßstäbe
für die verfassungsrechtliche Prüfung der Norm zur
Anwendung (BVerfG-Beschluss vom 08.06.2004 - 2 BvL 5/00, BVerfGE
110, 412 = SIS 04 36 31, Rz 64 ff., m.w.N.).
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Insoweit ist der im Streitfall anzuwendende
§ 31 Satz 4 EStG dem Regelungsbereich der steuerlichen
Verschonung des Familienexistenzminimums zuzuordnen. Denn die Norm
soll sicherstellen, dass auch bei Beziehern von höheren
Einkommen, bei denen die Berücksichtigung der Freibeträge
zu einer höheren steuerlichen Entlastung führt als sie
durch den Anspruch auf Kindergeld bewirkt würde, jedenfalls
die volle steuerliche Entlastung des Familienexistenzminimums (seit
den Jahren 2000 bzw. 2002 einschließlich der Bedarfe für
Betreuung und Erziehung oder Ausbildung) gewährleistet
ist.
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Deshalb ist zu beachten, dass der Gesetzgeber
bei der verfassungsrechtlich gebotenen einkommensteuerrechtlichen
Freistellung des Familienexistenzminimums sowie bei der
grundsätzlichen Ausrichtung der Steuerbelastung an der
wirtschaftlichen bzw. finanziellen Leistungsfähigkeit
tendenziell strikteren Bindungen unterliegt als bei
sozialrechtlichen Regelungen zur Förderung der Familie
(BVerfG-Beschluss vom 11.01.2005 - 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164 =
SIS 05 30 28, Rz 34, m.w.N.). Auch wenn es dem Gesetzgeber
freigestellt ist, wie in § 31 EStG geschehen, eine Entlastung
im Steuerrecht und eine solche durch das Kindergeld miteinander zu
kombinieren, muss doch im Ergebnis das sozialhilferechtlich
definierte Existenzminimum für alle Steuerpflichtigen -
unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz - in voller
Höhe von der Einkommensteuer freigestellt werden
(BVerfG-Beschluss in BVerfGE 110, 412 = SIS 04 36 31, Rz 69,
m.w.N.). Ferner ist zu berücksichtigen, dass strukturelle, dem
Gesetzgeber zuzurechnende Hindernisse bei der Durchsetzung des
Steuer(vergütungs)anspruchs die Gleichheit im Belastungserfolg
nicht gefährden dürfen (Senatsurteil in BFH/NV 2013, 723
= SIS 13 10 64, Rz 23; vgl. auch BVerfG-Beschluss vom 27.06.1991 -
2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654 = SIS 91 14 01,
Rz 108 ff.).
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(2) Die verfassungskonforme Auslegung einer
Norm ist dann geboten, wenn unter Berücksichtigung von
Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Zweck
mehrere Deutungen möglich sind, von denen nicht alle, aber
zumindest eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis
führt (BVerfG-Beschluss in BVerfGE 112, 164 = SIS 05 30 28, Rz
50, m.w.N.). Durch die Entstehungsgeschichte und den Gesetzeszweck
werden der verfassungskonformen Auslegung Grenzen gezogen. Ein
Normverständnis, das in Widerspruch zu dem klar erkennbar
geäußerten Willen des Gesetzgebers treten würde,
kann auch im Wege verfassungskonformer Auslegung nicht
begründet werden (BVerfG-Beschluss in BVerfGE 112, 164 = SIS 05 30 28, Rz 50, m.w.N.).
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(3) Dies zugrunde gelegt, bietet § 31
Satz 4 EStG Raum für eine verfassungskonforme Auslegung.
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Nach dem Wortlaut der Norm ist sowohl
hinsichtlich der Günstigerrechnung als auch der Hinzurechnung
im Falle der Freibetragslösung auf den „Anspruch auf
Kindergeld“ abzustellen. Zur Frage, wie
dieser Anspruch ermittelt wird und in welcher Höhe der
Anspruch anzusetzen ist, enthält § 31 Satz 4 EStG keine
Aussage. Vielmehr ist insoweit, wie sich auch aus § 31 Satz 1
EStG ergibt, auf die materiell-rechtlichen Regelungen der
§§ 62 ff. EStG zurückzugreifen. Wie der Senat
bereits entschieden hat, gehört zu diesen
materiell-rechtlichen Regelungen auch die bereits im
Festsetzungsverfahren zu berücksichtigende Ausschlussfrist des
§ 66 Abs. 3 EStG (Senatsurteil in BFHE 268, 294, BStBl II
2020, 704 = SIS 20 08 97, Rz 18 ff.). Diese Regelung ist zwar
gemäß Art. 11 Abs. 2 StUmgBG erst am 01.01.2018 und
mithin nach dem hier streitigen Veranlagungszeitraum in Kraft
getreten. Da sie aber auf alle Anträge anzuwenden ist, die
nach dem 31.12.2017 und vor dem 18.07.2019 eingehen, entfaltet sie
ihre materiell-rechtliche Wirkung auch für
Kindergeldansprüche des Veranlagungszeitraums 2017, die bei
Geltung der regulären vierjährigen Festsetzungsfrist
(§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung - AO - ) noch
nicht ausgeschlossen wären. Würde man dagegen, wie das FG
Köln im Urteil vom 05.02.2020 - 14 K 1612/19 = SIS 20 13 39
(juris, Rz 15), materiell-rechtliche Regelungen nur insoweit
berücksichtigen, als sie im betreffenden Veranlagungszeitraum
bereits in Kraft waren, stünde es dem Gesetzgeber frei, den
Kindergeldanspruch für einen Veranlagungszeitraum durch eine
nach dessen Ablauf in Kraft tretende Regelung wieder zu entziehen,
ohne dass sich dies auf die Günstigerrechnung und die
Hinzurechnung auswirken würde.
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Auch die Entstehungsgeschichte des § 31
Satz 4 EStG lässt keine durchgreifenden Bedenken erkennen. Wie
unter II.1.a cc ausgeführt wurde, beruhte die Umstellung der
Regelungen zur Günstigerrechnung und Hinzurechnung des
Kindergeldes vom „gezahlten
Kindergeld“ zum
„Kindergeldanspruch“
maßgeblich auf dem angestrebten Vereinfachungseffekt. Diese
Vereinfachung kann auch bei Berücksichtigung der
Ausschlussfrist erreicht werden. Denn auch in diesen Fällen
muss die Einkommensteuerfestsetzung nicht von der - gegebenenfalls
später wieder geänderten - Kindergeldfestsetzung
abhängig gemacht werden. Vielmehr kann das FA
selbstständig und unabhängig von der rechtlichen Wertung
der Familienkasse die Wirkung der Ausschlussfrist beurteilen, wenn
es Kenntnis über den Zeitpunkt des Eingangs des
Kindergeldantrags erlangt hat. Dass das FA insoweit nähere
Angaben des Steuerpflichtigen zum Zeitpunkt der Stellung des
Kindergeldantrags braucht oder hierzu im Rahmen der
Amtsermittlungspflicht eigene Ermittlungen anstellen muss, stellt
zwar eine Verfahrenskomplizierung dar. Diese ist aber notwendige
Konsequenz der vom späteren Gesetzgeber getroffenen
Entscheidung, mit der Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG
eine zusätzliche materiell-rechtliche Voraussetzung für
den Kindergeldanspruch einzuführen. Insoweit stellt sich die
Lage nicht anders dar als in den Fällen, in denen der
Gesetzgeber beispielsweise durch das Gesetz zur Änderung des
Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften vom
02.12.2014 (BGBl I 2014, 1922; BStBl I 2015, 54) in § 62 Abs.
1 Satz 2 EStG oder durch das SozialMissbrG vom 11.07.2019 (BGBl I
2019, 1066; BStBl I 2019, 814) in § 62 Abs. 1a EStG neue
materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzungen eingefügt hat.
Auch muss der Steuerpflichtige im Rahmen seiner
Steuererklärung nicht selbst berechnen, welcher
Kindergeldbetrag für welches Kind gezahlt wurde, sondern nur
angeben, ob und wann er für welches Kind einen
Kindergeldantrag gestellt hat. Zudem wurde im
Gesetzgebungsverfahren zur Schaffung des § 31 Satz 4 EStG
gerade vorausgesetzt, dass es dem Steuerpflichtigen nach
Abschaffung des § 66 Abs. 3 EStG in der bis zum Kalenderjahr
1997 geltenden Fassung möglich ist, das Kindergeld bis zur
Grenze der Festsetzungsverjährung zu beantragen. Dann
entspricht es aber auch dem im Gesetzgebungsverfahren zum Ausdruck
gekommenen Willen, ein nachträglich eingeführtes
materielles Kriterium zu berücksichtigen, das diese
Möglichkeit des Steuerpflichtigen massiv einschränkt.
Nichts Gegenteiliges ergibt sich auch aus dem
Gesetzgebungsverfahren zur Einführung des § 66 Abs. 3
EStG. Denn insoweit hat sich der Gesetzgeber mit dem
Verhältnis des § 66 Abs. 3 EStG zu § 31 Satz 4 EStG
nicht näher auseinandergesetzt. Vielmehr hat er nur
festgestellt, dass zur steuerlichen Freistellung des
Existenzminimums eines Kindes eine mehrjährige
Rückwirkung nicht erforderlich sei, da Anträge auf
Kindergeld regelmäßig zeitnah gestellt werden. Zu der
Frage, was in den Fällen zu geschehen habe, in denen der
Kindergeldantrag nicht zeitnah, aber noch innerhalb der
Festsetzungsfrist gestellt wurde, findet sich keine Aussage
(BT-Drucks. 18/12127, S. 62).
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Schließlich entspricht es dem Sinn und
Zweck des § 31 Satz 4 EStG, durch § 66 Abs. 3 EStG
ausgeschlossene Kindergeldansprüche in Höhe von 0 EUR zu
berücksichtigen. Wie unter II.1.a ee ausgeführt wurde,
hat der BFH den mit der Norm verfolgten Vereinfachungszweck mit
Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)
insoweit für gerechtfertigt gehalten, als der Steuerpflichtige
der ihm auferlegten Obliegenheit zur Beantragung des Kindergeldes
innerhalb der regulären Festsetzungsfrist genügen kann.
Gleiches gilt, soweit der mit § 31 Satz 4 EStG bezweckte
Vereinfachungseffekt das verfassungsrechtliche Gebot der
steuerlichen Freistellung des Kinderexistenzminimums (Art. 1 i.V.m.
Art. 20 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG) berührt. Obgleich der
Kindergeldanspruch nach § 66 Abs. 2 EStG dem Monatsprinzip
folgt, ist er vielfach von Voraussetzungen abhängig, die eine
Betrachtung eines mehrmonatigen Zeitraums erfordern oder erst mit
erheblichem zeitlichen Abstand zum Anspruchsmonat beurteilt werden
können. So verlangt bereits der von § 62 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 EStG vorausgesetzte Wohnsitz oder gewöhnliche Aufenthalt
nach § 8 und § 9 AO regelmäßig die Betrachtung
eines mehrmonatigen Zeitraums. Ebenso lässt sich die Frage, ob
der Anspruchsteller nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b
EStG nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig behandelt wird, abschließend erst
nach Ablauf des Veranlagungszeitraums und nach Durchführung
des Veranlagungsverfahrens beurteilen. Gleiches gilt etwa für
die Frage, ob die maximal viermonatige Übergangszeit des
§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2
Buchst. b EStG eingehalten wurde, ob einer längerdauernden
Erkrankung des Kindes bereits Behinderungscharakter i.S. des §
63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG
zukommt oder ob der vorübergehende Aufenthalt des Kindes bei
einem Elternteil eine Haushaltsaufnahme i.S. des § 63 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 und 3 EStG begründet. Insoweit stellt es ein
strukturelles - dem Gesetzgeber zuzurechnendes - Hindernis bei der
Durchsetzung des Anspruchs auf Kindergeld dar, wenn der Anspruch
innerhalb eines sechsmonatigen Zeitraums geltend gemacht werden
muss. Daher erfordert es das verfassungsrechtliche Gebot der
steuerlichen Freistellung des Kinderexistenzminimums, dass durch
die Ausschlussfrist betroffene Kindergeldansprüche mit 0 EUR
berücksichtigt werden, wenn sich bei der Festsetzung der
Einkommensteuer herausstellt, dass die Voraussetzungen für die
Gewährung der kindbedingten Freibeträge vorliegen.
Schließlich hat der BFH auch die Vereinbarkeit des
Vereinfachungszwecks des § 31 Satz 4 EStG mit der allgemeinen
Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) mit Rücksicht darauf
bejaht, dass der Anspruch auf Kindergeld bis zur Grenze der
Festsetzungsfrist geltend gemacht werden kann (BFH-Urteil in BFHE
239, 59, BStBl II 2013, 228 = SIS 12 27 96, Rz 24).
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2. Die hiergegen vom FA mit der Revision
vorgetragenen Argumente führen zu keiner anderen
Beurteilung.
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a) Soweit das FA meint, für die vom FG
vertretene Gesetzesauslegung bestehe erst ab dem 19.07.2019 durch
den neu eingefügten § 31 Satz 5 EStG eine gesetzliche
Grundlage, ist zwar zu berücksichtigen, dass diese Regelung
erst durch das SozialMissbrG vom 11.07.2019 (BGBl I 2019, 1066,
BStBl I 2019, 814) eingefügt wurde, am 18.07.2019 in Kraft
getreten und somit nach § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG erstmals im
Veranlagungszeitraum 2019 anzuwenden ist. Auch betrifft diese
Regelung nach ihrem klaren Wortlaut nur die ebenfalls neu
eingefügte Ausschlussfrist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG.
Allerdings ergibt sich daraus kein Hindernis für die vom Senat
und der Vorinstanz vertretene Auslegung des § 31 Satz 4 EStG.
Diese Auslegung stützt sich - anders als auch das FG Köln
im Urteil vom 05.02.2020 - 14 K 1612/19 = SIS 20 13 39 (juris, Rz
19) meint - nicht auf eine Lückenfüllung, die durch eine
Analogie zu § 31 Satz 5 EStG erfolgt. Vielmehr geht es um eine
verfassungskonforme Auslegung des in § 31 Satz 4 EStG
verwendeten Begriffes „Anspruch auf
Kindergeld“. Allerdings lässt sich
die Entwurfsbegründung zur Einführung des § 31 Satz
5 EStG durchaus als Bestätigung der vom Senat vertretenen
Auslegung verstehen. Denn insoweit erkennt der Gesetzgeber
ausdrücklich an, dass das Gebot der steuerlichen Verschonung
des Kinderexistenzminimums es erfordert, die neu geregelte
Ausschlussfrist bei der Günstigerrechnung zu
berücksichtigen. Die Revision lässt dagegen
unbeantwortet, weshalb dieser verfassungsrechtliche Maßstab
in Bezug auf § 66 Abs. 3 EStG nicht zur Anwendung gelangen
soll oder eines besonderen einfachrechtlichen Anwendungsbefehls
bedarf.
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b) Die vom FA geforderte Abkoppelung des
Besteuerungsverfahrens vom Kindergeldfestsetzungsverfahren ist nach
der hier vertretenen Auslegung gewährleistet, weil das FA
nicht an das tatsächlich ausgezahlte Kindergeld
anzuknüpfen, sondern die Wirkung der Ausschlussfrist unter
Berücksichtigung des Zeitpunkts des Antragseingangs selbst zu
beurteilen hat.
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c) Nicht zuzustimmen vermag der Senat der vom
FA vertretenen These, dass sich aus der Aufzählungsreihenfolge
des § 31 Satz 4 EStG die Nachrangigkeit der kindbedingten
Freibeträge gegenüber dem Kindergeld ergebe. Vielmehr
folgt aus § 31 Satz 4 EStG, dass den kindbedingten
Freibeträgen mit Blick auf die steuerliche Freistellung des
Kinderexistenzminimums die ausschlaggebende Bedeutung zukommt.
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d) Soweit das FA meint, die von der Vorinstanz
und vom Senat gebilligte Auslegung des § 31 Satz 4 EStG
bewirke selbst eine Ungleichbehandlung, da einkommensschwache
Eltern die Entlastung nur durch die rechtzeitige Beantragung des
Kindergeldes erhalten könnten, während einkommensstarke
Eltern bis zu sieben Jahre Zeit hätten, die steuerliche
Entlastung geltend zu machen, ist dem ebenfalls nicht zuzustimmen.
Hinsichtlich der steuerlichen Entlastung des Kinderexistenzminimums
werden beide Gruppen gleich behandelt. Sie können die
letztlich ausschlaggebenden kindbedingten Freibeträge -
vorbehaltlich einer bestandskräftigen
Einkommensteuerfestsetzung - bis zur Grenze der
Festsetzungsverjährung geltend machen. Der Kindergeldanspruch
wird nach § 31 Satz 4 EStG bei beiden Gruppen in gleicher
Weise berücksichtigt, unabhängig davon, ob er von der
Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG betroffen ist oder nicht.
Unterschiede zwischen beiden Gruppen gibt es nur, soweit die
Sozialleistungsfunktion des Kindergeldes betroffen ist. Insoweit
müssen einkommensschwache Eltern ihren Kindergeldanspruch in
der Tat innerhalb der Ausschlussfrist geltend machen. Dadurch
werden sie aber gegenüber einkommensstarken Eltern nicht
benachteiligt, weil diese schon gar nicht in den Genuss der
Sozialleistungsfunktion des Kindergeldes kommen.
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e) Es ist zutreffend, dass der BFH die bis zum
Kalenderjahr 1997 geltende Ausschlussfrist in § 66 Abs. 3 EStG
im Urteil vom 14.05.2002 - VIII R 68/00 (BFH/NV 2002, 1293 = SIS 02 93 83) und zuvor schon das Bundessozialgericht (Urteil vom
22.11.1979 - 8b RKg 3/79, BSGE 49, 154) entsprechende
Ausschlussfristen im Bundeskindergeldgesetz als
verfassungsgemäß beurteilt haben. Im vorliegenden
Verfahren geht es aber nicht um die Verfassungsmäßigkeit
des § 66 Abs. 3 EStG, sondern um die Frage, inwieweit ein von
dieser Ausschlussfrist betroffener Kindergeldanspruch im Rahmen des
§ 31 Satz 4 EStG zu berücksichtigen ist. Ebenso geht der
Hinweis auf den Nichtannahmebeschluss des BVerfG in HFR 2004, 260
fehl. Denn in diesem Beschluss hat das BVerfG ausdrücklich
betont, dass der Schutz vor einem einkommensteuerlichen Zugriff auf
das Familienexistenzminimum bereits durch die Freibetragsregelungen
gewährleistet wird und es in diesem Verfahren
ausschließlich um die Sozialleistungsfunktion des
Kindergeldes ging. Ebenso hat das BVerfG darauf hingewiesen, dass
der Gesetzgeber bei der Gewährung einer staatlichen
Sozialleistung eine größere Gestaltungsfreiheit hat als
bei der steuerlichen Berücksichtigung von
Unterhaltsleistungen. Im vorliegenden Verfahren geht es aber nicht
um eine Sozialleistung, sondern darum, dass die
Freibetragsregelungen ihre existenzsichernde Wirkung entfalten
können. Deshalb kommt es auch nicht darauf an, ob es auch bei
anderen Sozialleistungen Ausschlussfristen gibt.
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f) Schließlich reicht es auch nicht aus,
dass die Kläger durch die vom FA vorgenommene
Berechnungsmethode eine Teilverschonung des Kinderexistenzminimums
in Höhe von 1.168 EUR erhalten haben. Bereits aus § 31
Satz 4 Halbsatz 1 EStG ergibt sich, dass das Gesetz eine
vollständige Entlastung des durch das Kinderexistenzminimum
gebundenen Einkommens fordert. Zudem wurde bereits ausgeführt,
dass es dem Gesetzgeber zwar freigestellt ist, wie in § 31
EStG geschehen, eine Entlastung im Steuerrecht und eine solche
durch das Kindergeld miteinander zu kombinieren. Jedenfalls muss
aber im Ergebnis das sozialhilferechtlich definierte
Existenzminimum für alle Steuerpflichtigen - unabhängig
von ihrem individuellen Grenzsteuersatz - in voller Höhe von
der Einkommensteuer freigestellt werden (BVerfG-Beschluss in
BVerfGE 110, 412 = SIS 04 36 31, Rz 69, m.w.N.).
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3. Die vom Senat vorgenommene Auslegung
entspricht im Übrigen auch der herrschenden Meinung in der
Literatur (Avvento in Kirchhof, 18. Aufl., § 66 Rz 11;
Schmidt/Loschelder, EStG, 40. Aufl., § 31 Rz 11; Pust in
Littmann/ Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 66
Rz 73; Hildesheim in Bordewin/Brandt, § 66 EStG Rz 42;
ähnlich Blümich/Selder, § 31 EStG Rz 54; BeckOK
EStG/Mutschler, 9. Ed. [01.01.2021], EStG § 66 Rz 58;
verfassungsrechtliche Bedenken in Bezug auf das Verhältnis
zwischen § 66 Abs. 3 EStG und § 31 Satz 4 EStG auch bei
Bauhaus in Korn, § 66 EStG Rz 15).
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4. Bei Anwendung der vorgenannten
Rechtsgrundsätze auf den Streitfall ist das FG zu Recht davon
ausgegangen, dass der Kindergeldanspruch der Kläger bei der
Günstigerrechnung und der Hinzurechnung nur in Höhe von
384 EUR zu berücksichtigen ist.
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a) Der Kläger erfüllte die
Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, §
63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs.
4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG, da sich der volljährige Sohn
während des gesamten Streitjahres 2017 in einer
Berufsausbildung befand.
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b) Da der Kläger den Kindergeldantrag
erst am 23.05.2018 und somit nach dem 31.12.2017, aber noch vor dem
18.07.2019 stellte, wird sein Kindergeldanspruch durch die
Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG begrenzt. Ein
Kindergeldanspruch besteht daher rückwirkend nur für die
letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf
Kindergeld eingegangen ist. Für den Veranlagungszeitraum 2017
besteht der Kindergeldanspruch daher nur für die Monate
November und Dezember und mithin in Höhe von 384 EUR.
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c) Bei der Günstigerrechnung nach §
31 Satz 4 Halbsatz 1 EStG ist der durch § 66 Abs. 3 EStG
für die Monate Januar bis Oktober 2017 ausgeschlossene
Kindergeldanspruch in Höhe von 0 EUR anzusetzen, da er noch
innerhalb der regulären Festsetzungsfrist des § 169 Abs.
2 Satz 1 Nr. 2 AO geltend gemacht wurde. Nachdem die im
Einkommensteuerbescheid 2017 vom 24.07.2018 durchgeführte
Günstigerrechnung bereits unter Ansatz eines
Kindergeldanspruchs in Höhe von 2.304 EUR ergab, dass die
kindbedingten Freibeträge günstiger sind als der Anspruch
auf Kindergeld, gilt dies erst recht bei Ansatz eines
Kindergeldanspruchs in Höhe von 384 EUR.
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d) Das FG hat daher dem FA zu Recht
aufgegeben, bei der Hinzurechnung nach § 31 Satz 4 Halbsatz 1
EStG den Kindergeldanspruch nur in Höhe von 384 EUR zu
berücksichtigen.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf §
135 Abs. 2 FGO.
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