Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den
Beschluss des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 23.11.2023 - 4 V
1295/23 = SIS 23 19 87 wird als
unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der
Antragsgegner zu tragen.
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A. Die Antragstellerin und
Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) ist Eigentümerin des
Grundbesitzes in X, X-Straße 123, Gemarkung X, Flur 456,
Flurstück 789/10. Der Bodenrichtwert für das 351 qm
große und mit einem Einfamilienhaus bebaute Grundstück
betrug zum 01.01.2022.125 EUR pro qm.
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In ihrer Erklärung zur Feststellung
des Grundsteuerwerts vom 04.09.2022 gab die Antragstellerin als Art
des Grundstücks „Einfamilienhaus“
an, das erstmals vor 1949 bezugsfertig gewesen sei und über
eine Wohnung mit einer Wohnfläche von 72 qm
verfüge.
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Mit Bescheid vom 28.12.2022 stellte der
Antragsgegner und Beschwerdeführer (Finanzamt - FA - ) den
Grundsteuerwert der wirtschaftlichen Einheit zum 01.01.2022 auf
91.600 EUR fest. Diesen Betrag ermittelte das FA gemäß
§ 250 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1, § 252 Satz 1, § 230
des Bewertungsgesetzes (BewG) aus der Summe des kapitalisierten
Reinertrags des Grundstücks und des abgezinsten
Bodenwerts.
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Bei der Bestimmung des kapitalisierten
Reinertrags des Grundstücks nach § 253 Abs. 1 BewG setzte
es als monatliche Nettokaltmiete gemäß Anlage 39 zum
BewG den für Einfamilienhäuser mit Baujahr bis 1948 und
einer Wohnfläche von 60 qm bis unter 100 qm geltenden Wert von
6,23 EUR pro qm an und nahm hiervon gemäß § 254
BewG i.V.m. Anlage 39 zum BewG einen Abschlag in Höhe von 10 %
aufgrund der Mietniveaustufe 2 vor. Da die Restnutzungsdauer des
vor dem Jahr 1949 bezugsfertigen Gebäudes gemäß
Anlage 38 zum BewG weniger als sieben Jahre betrug, ging das FA von
einer gemäß § 253 Abs. 2 Satz 5 BewG i.V.m. Anlage
38 zum BewG fingierten Restnutzungsdauer des Gebäudes von 24
Jahren (30 % von 80 Jahren) aus. Hieraus ergab sich ein Reinertrag
des Grundstücks gemäß §§ 253, 254 BewG
i.V.m. Anlage 39 zum BewG in Höhe von 3.635,28 EUR (= 5,61 EUR
pro qm x 72 qm x 12 abzüglich Bewirtschaftungskosten in
Höhe von 25 %) und ein kapitalisierter Reinertrag des
Grundstücks gemäß § 253 BewG i.V.m. Anlage 37
zum BewG in Höhe von 64.998,81 EUR (= 3.635,28 EUR x
17,88).
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Bei der Bestimmung des Bodenwerts legte das
FA gemäß § 257 Abs. 1 Satz 1, § 247 BewG den
erklärten Bodenrichtwert sowie gemäß § 257
Abs. 1 Satz 2 BewG i.V.m. Anlage 36 zum BewG einen
Umrechnungskoeffizienten in Höhe von 1,10 für
Grundstücke mit einer Größe von größer
gleich 350 qm zugrunde. Ausgehend von einem Liegenschaftszins von
2,5 % für Einfamilienhäuser gemäß § 256
Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG ermittelte es den abgezinsten Bodenwert
mit 26.684,34 EUR, indem es gemäß § 257 Abs. 2 BewG
den Bodenwert in Höhe von 48.262,50 EUR (= 351 qm x 125 EUR
pro qm x 1,10) mit dem Abzinsungsfaktor gemäß Anlage 41
zum BewG in Höhe von 0,5529 multiplizierte.
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Gegen den Bescheid vom 28.12.2022 legte die
Antragstellerin Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der
Vollziehung (AdV). Den Antrag auf AdV lehnte das FA am 27.01.2023
ab. Den gegen die Ablehnung der AdV eingelegten Einspruch wies es
mit Einspruchsentscheidung vom 25.04.2023 als unbegründet
zurück, da der festgestellte Grundsteuerwert und der
Grundsteuermessbetrag zutreffend nach den gesetzlichen Regelungen
ermittelt worden seien. Bei der Bewertung für
Grundsteuerzwecke handele es sich um eine typisierte Bewertung, die
keine individuelle Verkehrswertermittlung in Bezug auf das Objekt
darstelle.
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Die Antragstellerin stellte daraufhin einen
Antrag auf AdV beim Finanzgericht (FG), den sie im Wesentlichen
damit begründete, dass seit dem Baujahr des Einfamilienhauses
im Jahr 1880 keine wesentlichen Renovierungen vorgenommen worden
seien. Der festgestellte Grundsteuerwert sei daher gemessen am Wert
des Hauses zu hoch.
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Das FG hat mit Beschluss vom 23.11.2023 - 4
V 1295/23 die Vollziehung des Grundsteuerwertbescheids ausgesetzt
und die Beschwerde zugelassen. Die Gründe sind in EFG 2024, 93
= SIS 23 19 87 mitgeteilt.
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Gegen die vom FG gewährte AdV wendet
sich das FA mit seiner Beschwerde.
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Das FA beantragt, den Beschluss des FG vom
23.11.2023 - 4 V 1295/23 aufzuheben und den Antrag der
Antragstellerin auf AdV abzulehnen.
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Die Antragstellerin beantragt, die
Beschwerde des FA als unbegründet zurückzuweisen.
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B. Die nach § 128 Abs. 3 Satz 1 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässige Beschwerde ist
unbegründet. Zu Recht hat das FG den angefochtenen
Feststellungsbescheid über den Grundsteuerwert von der
Vollziehung ausgesetzt.
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I. Zutreffend ist das FG von der
Zulässigkeit des AdV-Antrags der Antragstellerin
ausgegangen.
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1. Zu Recht hat das FG insbesondere
entschieden, dass der Finanzrechtsweg nach § 33 Abs. 1 Nr. 1
FGO eröffnet ist, da der Rechtsstreit eine
öffentlich-rechtliche Streitigkeit über eine
Abgabenangelegenheit betrifft, die der Gesetzgebung des Bundes und
der Verwaltung durch die Landesfinanzbehörden unterliegt.
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a) Der vorliegende Streit über die
Feststellung des Grundsteuerwerts betrifft eine
Abgabenangelegenheit im Sinne des § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO (vgl.
hierzu Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., §
33 Rz 19). Dies gilt auch, soweit sich die von der Antragstellerin
erhobenen Einwände auf den für das
streitgegenständliche Grundstück ermittelten
Bodenrichtwert beziehen. Denn die Antragstellerin wendet sich nicht
isoliert gegen den Bodenrichtwert als solchen, sondern begehrt die
AdV des gegen sie ergangenen Wertfeststellungsbescheids, in den der
Bodenrichtwert lediglich als eine Feststellungsgrundlage Eingang
gefunden hat. Dem Rechtsstreit liegt daher, wie das FG zu Recht
ausgeführt hat, bereits in formell-rechtlicher Hinsicht ein in
einer Abgabenangelegenheit ergangener Bescheid zugrunde.
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Für die Eröffnung des
Finanzrechtswegs spielt es keine Rolle, ob die erhobenen
Einwendungen gegen den Wertfeststellungsbescheid und dessen
Feststellungsgrundlagen im Ergebnis durchgreifen oder nicht. Das
gilt auch für die vom FG in diesem Zusammenhang geprüfte
Frage, ob und wenn ja welche Einwendungen gegen die vom
Gutachterausschuss festgestellten Bodenrichtwerte im
finanzgerichtlichen Verfahren erhoben werden können. Denn dies
betrifft nicht die Zulässigkeit des Rechtswegs, sondern ist
eine Frage der Begründetheit des AdV-Antrags oder der
Anfechtungsklage.
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b) Die streitige Abgabenangelegenheit
unterfällt auch der Gesetzgebung des Bundes im Sinne des
§ 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO. Dem Bund steht nach Art. 105 Abs. 2
Satz 1 des Grundgesetzes (GG) die konkurrierende
Gesetzgebungskompetenz für die Grundsteuer zu, ohne dass dies
an die weiteren Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG geknüpft
ist (vgl. BT-Drucks. 19/11084, S. 6).
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Art. 105 Abs. 2 Satz 1 GG ist durch das Gesetz
zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 72, 105 und 125b) vom
15.11.2019 (BGBl I 2019, 1546) mit Wirkung zum 21.11.2019 und damit
noch vor Inkrafttreten des Grundsteuer-Reformgesetzes vom 26.11.2019 (BGBl I
2019, 1794) eingefügt worden. Unerheblich ist in diesem
Zusammenhang, dass sich der Gesetzgeber für die Neuregelungen
des Grundsteuer-Reformgesetzes in der Begründung zum
Gesetzentwurf auch auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 125a
Abs. 2 Satz 1 GG gestützt hat, weil seiner Ansicht nach mit
dem Gesetzentwurf fortgeltendes Bundesrecht lediglich
fortgeschrieben werde und keine grundlegende Neukonzeption des
Grundsteuerrechts beabsichtigt sei (vgl. BT-Drucks. 19/11085, S.
90).
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Ebenso wenig steht es der
Gesetzgebungskompetenz des Bundes im vorliegenden Fall entgegen,
dass der Bund den Ländern in Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 GG
das Recht zur Abweichungsgesetzgebung eingeräumt hat. Dabei
kann dahinstehen, ob § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO auch dann
eingreift, wenn ein Land auf der Grundlage von Art. 72 Abs. 3 Satz
1 Nr. 7 GG abweichende landesgesetzliche Regelungen geschaffen hat
(vgl. hierzu Krumm in Tipke/Kruse, § 33 FGO Rz 19a und 19b,
m.w.N.). Denn der rheinland-pfälzische Landesgesetzgeber hat
von seiner Abweichungsbefugnis in Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 GG
keinen Gebrauch gemacht, sondern legt der Berechnung der
Grundsteuer vielmehr das sogenannte Bundesmodell zugrunde.
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c) Die streitige Abgabenangelegenheit
unterliegt auch der Verwaltung durch die Landesfinanzbehörden
im Sinne des § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO. Zwar hat der
rheinland-pfälzische Landesgesetzgeber auf der Grundlage von
Art. 108 Abs. 4 Satz 2 GG in § 5 Abs. 1 Halbsatz 1 des
Kommunalabgabengesetzes (KAG) geregelt, dass die Verwaltung der
Grundsteuer den Gemeinden obliegt. Dies gilt jedoch nach § 5
Abs. 1 Halbsatz 2 KAG nicht für die Festsetzung und Zerlegung
der Steuermessbeträge. Damit verbleibt es hinsichtlich der
Festsetzung des Grundsteuermessbetrags und der dieser vorgelagerten
Feststellung des Grundsteuerwerts bei der Verwaltungskompetenz der
Landesfinanzbehörden gemäß Art. 108 Abs. 2 Satz 1
GG.
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2. Der Zulässigkeit des Antrags auf AdV
steht auch nicht ein fehlendes Rechtschutzbedürfnis der
Antragstellerin entgegen.
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Die Gewährung der AdV ist insbesondere
nicht deshalb ausgeschlossen, weil der angefochtene
Grundsteuerwertbescheid nach § 266 Abs. 1 BewG i.V.m. §
36 Abs. 1 des Grundsteuergesetzes erst für die Grundsteuer des
Jahres 2025 von Bedeutung ist. Einwendungen gegen den
Grundsteuerwert können nur durch einen Rechtsbehelf gegen den
Grundsteuerwertbescheid geltend gemacht werden. Dies ergibt sich
daraus, dass für das Feststellungsverfahren nach § 219
Abs. 1 BewG die Vorschriften über die Durchführung der
Besteuerung sinngemäß gelten (§ 181 Abs. 1 Satz 1
der Abgabenordnung - AO -, vgl. auch Krumm/Paeßens, BewG
§ 219 Rz 5). Feststellungsbescheide sind nach § 182 Abs.
1 Satz 1 AO, auch wenn sie noch nicht unanfechtbar sind, für
andere Feststellungsbescheide, für Steuermessbescheide,
für Steuerbescheide und für Steueranmeldungen
(Folgebescheide) bindend, soweit die in den Feststellungsbescheiden
getroffenen Feststellungen für diese Folgebescheide von
Bedeutung sind. Die Antragstellerin kann ihre Einwendungen, die
sich auf die gesonderte Wertfeststellung beziehen, daher nicht im
Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen den Grundsteuerbescheid als
Folgebescheid geltend machen (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs -
BFH - vom 25.09.2018 - II B 13/18, BFH/NV 2019, 25 = SIS 18 16 98,
Rz 8). Ein Sachverhalt, über den im Feststellungsverfahren
entschieden worden ist, kann im Folgeverfahren nicht einer hiervon
abweichenden Beurteilung unterworfen werden (vgl. BFH-Urteil vom
14.11.2018 - I R 47/16, BFHE 263, 393, BStBl II 2019, 419 = SIS 19 06 37, Rz 14).
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II. Der Antrag der Antragstellerin auf AdV des
Grundsteuerwertbescheids ist, wie vom FG erkannt, auch
begründet.
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1. Nach § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 FGO
kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen
Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen. Die Aussetzung soll
erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die
Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch
überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte
zur Folge hätte.
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Ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts sind
zu bejahen, wenn bei einer summarischen Überprüfung des
Bescheids neben für die Rechtmäßigkeit sprechende
Umstände, gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit
sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder
Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheiten
in der Beurteilung der Tatfragen bewirken. Die Entscheidung hierüber ergeht bei der
im Verfahren der AdV gebotenen summarischen Prüfung aufgrund
des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der
Aktenlage ergibt. Zur Gewährung der AdV ist es nicht
erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden
Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit
überwiegen (ständige Rechtsprechung seit dem
BFH-Beschluss vom 10.02.1967 - III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III
1967, 182 = SIS 67 01 06, unter II.3.; vgl. auch
BFH-Beschlüsse vom 18.06.1997 - II B 33/97, BFHE 182, 379,
BStBl II 1997, 515 = SIS 97 14 04, unter II.1., m.w.N. und vom
11.08.2014 - II B 131/13, BFH/NV 2015, 5 = SIS 14 32 48, Rz
10).
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2. Der Senat hat einfachrechtliche Zweifel an
der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 28.12.2022 in Bezug
auf die Höhe des festgestellten Grundsteuerwerts.
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a) Die Zweifel ergeben sich daraus, dass dem
Steuerpflichtigen bei verfassungskonformer Auslegung der
Bewertungsvorschriften die Möglichkeit eingeräumt werden
muss, bei einer Verletzung des Übermaßverbots einen
niedrigeren gemeinen Wert nachzuweisen.
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aa) Der angefochtene Grundsteuerwertbescheid
vom 28.12.2022 beruht auf den mit dem Grundsteuer-Reformgesetz im Siebenten Abschnitt
des Bewertungsgesetzes neu eingefügten §§ 218 ff.
BewG. Die Neuregelung der Bewertung für Zwecke der Grundsteuer
war erforderlich, nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit
seinem Urteil vom 10.04.2018 - 1 BvL 11/14, 1 BvL 12/24, 1 BvL 1/15, 1 BvR 639/11, 1 BvR
889/12 (BVerfGE 148, 147 = SIS 18 04 71) die Einheitsbewertung
nach dem Ersten Abschnitt des Bewertungsgesetzes für die
Bemessung der Grundsteuer für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG
erklärt und den Gesetzgeber bis zum 31.12.2019 zum Erlass
einer Neuregelung aufgefordert hatte. Die als unvereinbar mit Art.
3 Abs. 1 GG festgestellten Regeln über die Einheitsbewertung
durften nach der Entscheidung des BVerfG bis zu diesem Zeitpunkt,
nach Verkündung einer Neuregelung für weitere fünf
Jahre ab der Verkündung, längstens aber bis zum
31.12.2024 weiter angewandt werden (sogenannte
Fortgeltungsanordnung).
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bb) Die vom Gesetzgeber erlassenen
Neuregelungen enthalten aus Gründen der Automatisierung und
Bewältigung der Neubewertung von über 36 Millionen
wirtschaftlichen Einheiten auf einen einheitlichen
Hauptfeststellungsstichtag eine Vielzahl von Typisierungen und
Pauschalierungen (vgl. BT-Drucks. 19/11085). Das BVerfG hat dem
Gesetzgeber bei der Wahl der Bemessungsgrundlage und bei der
Ausgestaltung der Bewertungsregelungen einen weiten
Gestaltungsspielraum zugestanden, solange sie geeignet sind, den
mit der Steuer verfolgten Belastungsgrund zu erfassen und dabei die
Relation der Wirtschaftsgüter zueinander realitäts- und
gleichheitsgerecht abzubilden. Der Gesetzgeber verfügt gerade
in Massenverfahren der vorliegenden Art über einen
großen Typisierungs- und Pauschalierungsspielraum (vgl.
BVerfG-Urteil vom 10.04.2018 - 1 BvL 11/14, 1 BvL 12/24, 1 BvL
1/15, 1 BvR 639/11, 1 BvR 889/12, BVerfGE 148, 147 = SIS 18 04 71,
Rz 168, m.w.N.).
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cc) Bei der Neuregelung der Grundsteuer hat
der Gesetzgeber allein an das Innehaben von Grundbesitz und die
damit verbundene (abstrakte) Leistungskraft angeknüpft, ohne
dass es auf die persönlichen Verhältnisse des
Steuerpflichtigen, die Ausdruck seiner subjektiven
Leistungsfähigkeit sein können, ankommt. Belastungsgrund
ist nach der gesetzgeberischen Vorstellung die durch den
Grundbesitz vermittelte Möglichkeit einer ertragsbringenden
Nutzung, die sich im Sollertrag widerspiegelt und eine objektive
Leistungsfähigkeit vermittelt (BT-Drucks. 19/11085, S.
84).
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dd) Eine dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügende und
das daraus folgende Übermaßverbot beachtende Besteuerung
ist wegen dieser Belastungsgrundentscheidung des Gesetzgebers daher
grundsätzlich nur dann gewährleistet, wenn sich das
Gesetz auf der Bewertungsebene am gemeinen Wert als dem
maßgeblichen Bewertungsziel orientiert und den Sollertrag
mittels einer verkehrswertorientierten Bemessungsgrundlage bestimmt
(vgl. auch BT-Drucks. 19/11085, S. 90). Soweit sich im Einzelfall
ein Unterschied zwischen dem gemäß §§ 218 ff.
BewG ermittelten Wert und dem gemeinen Wert ergibt, ist dies
aufgrund der typisierenden und pauschalierenden Wertermittlung des
Bewertungsgesetzes, die notwendigerweise mit Ungenauigkeiten
verbunden ist, grundsätzlich hinzunehmen.
Verfassungsgemäß ist solch eine typisierende Regelung
aber nur solange, wie ein Verstoß gegen das
Übermaßverbot im Einzelfall entweder durch
verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift oder durch eine
Billigkeitsmaßnahme abgewendet werden kann (vgl. BFH-Urteil
vom 02.07.2004 - II R 22/02, BFH/NV 2004, 1519 = SIS 04 38 59,
unter II.3.a, m.w.N.). Das Übermaßverbot kann
insbesondere dann verletzt sein, wenn sich der festgestellte Wert
als erheblich über das normale Maß hinausgehend erweist.
Nach der bisherigen Senatsrechtsprechung setzt dies
regelmäßig voraus, dass der vom Finanzamt festgestellte
Wert den nachgewiesenen niedrigeren gemeinen Wert um 40 % oder mehr
übersteigt (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 16.11.2022 - II R 39/20,
BFHE 279, 201, BStBl II 2024, 246 = SIS 23 03 03, Rz 27 zu §
166 BewG).
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ee) Der Senat hat zu verschiedenen
typisierenden Bewertungsnormen entschieden, dass bei Ausschluss von
Billigkeitsmaßnahmen in verfassungskonformer Auslegung der
betreffenden Vorschriften der Nachweis eines niedrigeren gemeinen
Werts zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das
grundgesetzliche Übermaßverbot zuzulassen ist, wenn der
Gesetzgeber einen solchen Nachweis nicht ausdrücklich geregelt
hat (vgl. BFH-Urteile vom 05.05.2004 - II R 45/01, BFHE 204, 570,
BStBl II 2004, 1036 = SIS 04 23 46, unter II.4.; vom 02.07.2004 -
II R 22/02, BFH/NV 2004, 1519 = SIS 04 38 59, unter II.3.a; vom
29.09.2004 - II R 57/02, BFHE 207, 52, BStBl II 2004, 1041 = SIS 04 40 17, unter II.; vom 08.06.2005 - II R 8/03, BFH/NV 2005, 2170 =
SIS 05 48 11, unter II.2.; vom 17.05.2006 - II R 58/02, BFH/NV
2006, 1804 = SIS 06 38 11, unter II.2.; vom 22.01.2009 - II R 9/07,
BFH/NV 2009, 1096 = SIS 09 18 89, unter II.2.b; vom 22.01.2009 - II
R 10/07, juris, unter II.2.b und vom 11.12.2013 - II R 22/11,
BFH/NV 2014, 1086 = SIS 14 16 14, Rz 13, jeweils zu § 148
BewG; BFH-Urteile vom 30.01.2019 - II R 9/16, BFHE 263, 267, BStBl
II 2019, 599 = SIS 19 03 77, Rz 19 ff. und vom 16.11.2022 - II R
39/20, BFHE 279, 201, BStBl II 2024, 246 = SIS 23 03 03, Rz 22,
jeweils zu § 166 BewG; BFH-Urteil vom 17.06.2020 - II R 43/17,
BFHE 269, 364, BStBl II 2022, 13 = SIS 20 18 07, Rz 21 zu § 97
BewG).
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33
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Besteht die Möglichkeit einer solchen
verfassungskonformen Auslegung, sind die pauschalierenden und
typisierenden Bewertungsvorschriften nicht verfassungswidrig.
Vielmehr ist dem Einwand möglicher verfassungswidriger
Überbewertungen durch Anwendung dieser Vorschriften
grundsätzlich der Boden entzogen (BFH-Urteile vom 22.01.2009 -
II R 9/07, BFH/NV 2009, 1096 = SIS 09 18 89, unter II.2.b und vom
08.06.2005 - II R 8/03, BFH/NV 2005, 2170 = SIS 05 48 11, unter
II.2.).
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b) Diese Rechtsprechungsgrundsätze sind
bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen und zugleich
ausreichenden summarischen Prüfung auf die Bewertung nach dem
Siebenten Abschnitt des Bewertungsgesetzes, die eine abweichende Wertfeststellung aus
Billigkeitsgründen nicht vorsieht (vgl. § 220 Satz 2
BewG), zu übertragen, sodass ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen. Es
ist nicht ausgeschlossen, dass zur Vermeidung einer
Übermaßbesteuerung im konkreten Einzelfall der Nachweis
eines niedrigeren gemeinen Werts in verfassungskonformer Auslegung
der §§ 218 ff. BewG im Hauptsacheverfahren gelingt.
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aa) Die Antragstellerin hat konkrete
Umstände des Einzelfalls vorgetragen, die den erfolgreichen
Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts für die gesamte
wirtschaftliche Einheit mit der erforderlichen Abweichung zu dem im
typisierten Verfahren festgestellten Grundsteuerwert im
Hauptsacheverfahren möglich erscheinen lassen (vgl. auch
BFH-Beschluss vom 23.10.2002 - II B 153/01, BFHE 200, 393, BStBl II
2003, 118 = SIS 03 07 71, unter II.3.).
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36
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bb) Nach ihren Ausführungen könnte
aufgrund des durch das Baujahr 1880 bedingten erheblichen Alters
des Gebäudes und dessen schlechten Instandhaltungszustands
infolge der nach dem Vorbringen der Antragstellerin seit der
Erbauung unterbliebenen jeglichen Renovierungen im Rahmen der
Ermittlung des Verkehrswerts der gesamten wirtschaftlichen Einheit
dem Gebäude kein erheblicher Mehrwert beizumessen und die
wirtschaftliche Einheit lediglich mit dem Bodenwert gegebenenfalls
abzüglich etwaiger Freilegungskosten zu bewerten sein
(sogenanntes Liquidationsobjekt). Die Ausführungen
begründen auch Zweifel daran, dass sich mit einem
Gebäude, das sich in dem von der Antragstellerin geschilderten
Zustand befindet, die gesetzlich typisierten Mieterträge
erzielen lassen. Es kann deshalb nicht ohne weiteres davon
ausgegangen werden, dass der vom FA in Ansatz gebrachte gesetzlich
typisierte Reinertrag in Höhe von 3.635,28 EUR beziehungsweise
der kapitalisierte Reinertrag in Höhe von 64.998,81 EUR den
tatsächlich erzielbaren Reinerträgen entspricht.
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cc) Vor diesem Hintergrund erscheint es bei
summarischer Prüfung im Streitfall zumindest möglich,
dass der im angefochtenen Grundsteuerwertbescheid nach dem
typisierten Bewertungsverfahren festgestellte Wert erheblich von
dem gemeinen Wert der wirtschaftlichen Einheit abweicht und ein
entsprechender Nachweis dieser Abweichung - beispielsweise durch
ein Sachverständigengutachten - geführt werden kann.
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3. Da nach den oben dargestellten
Grundsätzen bereits ernstliche Zweifel an der
einfach-rechtlichen Rechtmäßigkeit des angefochtenen
Feststellungsbescheids im konkreten Einzelfall bestehen, war nicht
mehr zu prüfen, ob die AdV auch wegen der vom FG
geäußerten weiteren verfassungsrechtlichen Zweifel an
der Gültigkeit der dem Bescheid zugrunde liegenden
Bewertungsvorschriften zu gewähren ist.
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39
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Das gilt insbesondere, soweit das FG ein
strukturelles Vollzugsdefizit mit der Begründung bejaht hat,
es sei nicht gewährleistet, dass die Gutachterausschüsse
bei der Ermittlung der Bodenrichtwerte sämtliche
wertbeeinflussenden Grundstücksmerkmale berücksichtigen
würden. Denn da die Antragstellerin die Möglichkeit hat,
den Nachweis eines geringeren gemeinen Werts der gesamten
wirtschaftlichen Einheit zu führen, ist die Frage, ob im
Bereich der Bodenrichtwertermittlung in tatsächlicher Hinsicht
ein Vollzugsdefizit besteht, für das vorliegende Verfahren
nicht weiter entscheidungserheblich.
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40
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Ebenfalls offenbleiben kann, ob
verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich einer
gleichheitsgerechten Bewertung bestehen, weil nach der Ansicht des
FG im typisierten Ertragswertverfahren der §§ 252 ff.
BewG nur eine unzureichende Differenzierung nach der Lage der
Gebäude und der Größe des Grundstücks erfolgt,
denn die Antragstellerin rügt vorliegend keine lage- oder
größenbedingt unzutreffende Wertfeststellung, sondern
macht vielmehr geltend, dass ihrem Gebäude aufgrund des
tatsächlichen Instandhaltungszustands kein erheblicher
Mehrwert beizumessen sei. Ob die Nichtberücksichtigung
lagebedingter Mietpreisunterschiede zu einer etwaigen
Gleichheitswidrigkeit führt, ist daher auf der Grundlage des
Vorbringens der Antragstellerin, auf dessen Prüfung der Senat
im Aussetzungsverfahren grundsätzlich beschränkt ist,
nicht entscheidungserheblich. Es bedarf deshalb auch keiner
Entscheidung des Senats zu der Frage, ob ein besonderes
berechtigtes Interesse der Antragstellerin an der Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes besteht, dem der Vorrang
gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des
Gesetzes einzuräumen ist (vgl. hierzu BFH-Beschlüsse vom
18.01.2023 - II B 53/22 (AdV), BFH/NV 2023, 382 = SIS 23 03 01, Rz
9; vom 20.09.2022 - II B 3/22 (AdV), BFH/NV 2022, 1328 = SIS 22 17 18, Rz 9 und vom 19.02.2018 - II B 75/16, BFH/NV 2018, 706 = SIS 18 06 94, Rz 33, m.w.N.).
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf §
135 Abs. 2 FGO.
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