Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil
des Finanzgerichts Düsseldorf vom 12.03.2021 - 14 K 3658/16
H(L) = SIS 21 09 56 insoweit
aufgehoben, als es den Betrag von … EUR übersteigt.
Die Klage wird im Hinblick auf einen
Haftungsbetrag von … EUR abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der
Kläger zu tragen.
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I. Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) wurde durch Beschluss des Amtsgerichts (AG) vom
xx.xx.2014 mit Wirkung vom … zum vorläufigen Sachwalter
im Insolvenzeröffnungsverfahren über das Vermögen
der A-GmbH (GmbH) bestellt. Der Geschäftsführer der GmbH,
H, hatte wegen drohender Zahlungsunfähigkeit am xx.xx.2014 die
Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen
der GmbH in Eigenverwaltung nach den §§ 270 ff. der
Insolvenzordnung in der im Streitfall maßgeblichen Fassung
(InsO) beantragt. Das AG setzte der GmbH in dem vorbenannten
Beschluss gemäß § 270b InsO eine Frist von drei
Monaten, binnen derer ein Insolvenzplan vorzulegen war (sogenanntes
Schutzschirmverfahren). Einen Zustimmungsvorbehalt zugunsten des
vorläufigen Sachwalters ordnete es nicht an. Mit Beschluss vom
xx.xx.2015 eröffnete das AG das Insolvenzverfahren in
Eigenverwaltung und ernannte den Kläger zum
Sachwalter.
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Die GmbH beschäftigte zum ... 2014
mehr als … Arbeitnehmer. Im Monat X 2014, also noch vor
Bestellung des Klägers zum vorläufigen Sachwalter,
veranlasste H die Abrechnung der Löhne für den Monat X
2014. Er meldete am 20.xx.2014 Lohnsteuer in Höhe von …
EUR und Solidaritätszuschlag in Höhe von … EUR,
zusammen … EUR, beim Beklagten und Revisionskläger
(Finanzamt - FA - ) an und zahlte die Nettolöhne den
Arbeitnehmern am 30.xx.2014 in voller Höhe aus.
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Mit Wirkung vom 09.xx.2014 zog der
Kläger als vorläufiger Sachwalter die Kassenführung
gemäß § 275 Abs. 2 InsO an sich. Sämtliche
eingehenden und ausgehenden Zahlungen wurden über ein von ihm
hierfür eingerichtetes Anderkonto bei einer Bank realisiert. H
überwies hierzu am 09.xx.2014 das gesamte Bankguthaben der
GmbH in Höhe von … EUR auf das Anderkonto des
Klägers.
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Da in der Folgezeit für den Monat X
2014 weder Lohnsteuer noch Solidaritätszuschlag entrichtet
wurden, meldete das FA beide Beträge zur Insolvenztabelle an.
Die Beträge wurden zur Tabelle festgestellt und später
auf der Grundlage des Insolvenzplans vom xx.xx.2015 mit einer
Insolvenzquote von gerundet 2,4 % (… EUR) an das FA
ausgezahlt. Mit Beschluss vom xx.xx.2016 hob das AG das
Insolvenzverfahren auf.
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Mit Haftungsbescheid vom 21.04.2016 nahm
das FA den Kläger - und zudem mit gesondertem Bescheid auch
den früheren Geschäftsführer H - wegen Lohnsteuer
und Solidaritätszuschlag für den Monat X 2014 nach §
69 i.V.m. §§ 34, 35 der Abgabenordnung (AO) in Höhe
von … EUR in Haftung. Die zuvor aufgrund der Insolvenzquote
vereinnahmten … EUR berücksichtigte das FA bei der
Berechnung der Haftungssumme nicht mindernd. Es erläuterte,
der Kläger sei als vorläufiger Sachwalter, der die
Kassenführung übernommen habe,
Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO. Indem er die
am 10.xx.2014 fällige Lohnsteuer für den Monat X 2014
nicht beglichen habe, habe er schuldhaft seine Pflichten verletzt.
Dagegen legte der Kläger Einspruch ein, den das FA als
unbegründet zurückwies.
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Das Finanzgericht (FG) gab der daraufhin
vom Kläger erhobenen Klage statt. Zur Begründung
führte es aus, die Voraussetzungen des § 191 AO für
eine Haftungsinanspruchnahme hätten nicht vorgelegen. Der
Kläger habe nicht zum Personenkreis der §§ 34, 35 AO
gehört. Er sei weder gesetzlicher Vertreter der GmbH im Sinne
des § 34 Abs. 1 AO noch Vermögensverwalter im Sinne des
§ 34 Abs. 3 AO gewesen. Der Kläger sei zudem kein
Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO gewesen. Es
habe an der rechtlichen Verfügungsbefugnis gefehlt, mit
Wirksamkeit nach außen selbst und gegebenenfalls gegen den
Willen der GmbH Zahlungen bewirken zu können. Die aus dem
Kassenführungsrecht nach § 275 Abs. 2 InsO resultierende
Vertretungsmacht des Sachwalters beschränke sich auf die
Entgegennahme von Geldern und die Vornahme von Geldzahlungen.
Daraus ergäben sich keine steuerlichen Pflichten. Die
Kassenführung sei für den Sachwalter ein reines
Instrument der Überwachung des Schuldners. Er nehme
Verfügungen über das Vermögen des Schuldners
grundsätzlich nur auf Veranlassung des Schuldners und nicht
aufgrund eigenen Rechts oder gar eigener Pflicht vor. Gegen die
Annahme einer Verfügungsberechtigung im Sinne des § 35 AO
spreche auch, dass der Kläger nicht als
Verfügungsberechtigter für die GmbH nach außen hin
aufgetreten sei. Auch das Einrichten eines Anderkontos reiche nicht
aus, um ein Auftreten als Verfügungsberechtigter anzunehmen,
da der Sachwalter die Verfügungen über das auf dem
Anderkonto vorhandene Guthaben im eigenen Namen und gerade nicht
als Verfügungsberechtigter für den Schuldner treffe.
Zudem sei nicht ersichtlich, dass der Kläger bei
Fälligkeit der Lohnsteuer am 10.xx.2014 nach außen hin
Verfügungen über das Anderkonto vorgenommen
hätte.
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Mit seiner Revision rügt das FA die
Verletzung von Bundesrecht. Das FG habe zu Unrecht eine Haftung des
Klägers als Verfügungsberechtigter gemäß
§ 35 AO abgelehnt.
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Nach Ansicht des FA ist der Kläger als
vorläufiger Sachwalter mit alleiniger
Kassenführungsbefugnis über ein von ihm dafür
eingerichtetes Anderkonto und damit mit alleinigem Zugriff auf die
liquiden Mittel der GmbH in der Eigenverwaltung
Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO. Der
Kläger habe Funktionen übernommen, die über die
gesetzlich beabsichtigten Kontroll- und Überwachungsaufgaben
deutlich hinausgingen. Durch die Überweisung auf das vom
Kläger eingerichtete Anderkonto seien die Gesellschaftsmittel
aus dem Vermögen der GmbH separiert worden, sodass allein der
Kläger zur Verfügung über die Gesellschaftsmittel
befugt gewesen sei. Aufgrund der Einrichtung des Anderkontos habe
der Kläger bei jeder Ausführung und Entgegennahme von
Zahlungen kraft eigenen Rechts Verfügungen getroffen, welche
die GmbH gegen sich habe gelten lassen müssen. Der Kläger
sei nicht nur zu einer „Zahlstelle“ der
Schuldnerin geworden, sondern als Vertreter der Schuldnerin - im
Außenverhältnis - aufgetreten. In der Folge habe er auch
deren Pflichten zur Entrichtung fälliger Steuerforderungen zu
erfüllen. Ähnlich habe der erkennende Senat bereits
entschieden und mit Urteil vom 13.09.1988 - VII R 35/85 (BFH/NV
1989, 139) aus „überschießenden
Rechten“ des dortigen Sachwalters, der zudem
zum Treuhänder bestellt gewesen sei, eine Anwendbarkeit des
§ 35 AO abgeleitet.
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Das FA beantragt,
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die Vorentscheidung insoweit aufzuheben,
als sie den Betrag von … EUR übersteigt, und die Klage
als unbegründet abzuweisen,
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hilfsweise, das Verfahren zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung an das FG
zurückzuverweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Revision als unbegründet
zurückzuweisen.
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Nach seiner Auffassung hat das FG eine
Haftung als Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO
zutreffend abgelehnt. Die vom FA geäußerte
Rechtsauffassung, für die Anwendbarkeit des § 35 AO sei
die tatsächliche Verfügungsbefugnis des vorläufigen
Sachwalters ausreichend, stehe im Widerspruch zu dem
Gesetzeswortlaut. Wer als Verfügungsberechtigter im eigenen
oder fremden Namen auftrete, habe nach § 35 AO die Pflichten
eines gesetzlichen Vertreters nur insoweit, als er sie rechtlich
und tatsächlich erfüllen könne. Der erkennende Senat
habe aus diesem Gesetzeswortlaut in ständiger Rechtsprechung
abgeleitet, dass neben einer wirtschaftlichen auch eine rechtliche
Verfügungsberechtigung vorliegen müsse
(Senatsbeschlüsse vom 27.05.2009 - VII B 156/08, BFH/NV 2009,
1591 = SIS 09 29 17 und vom 08.12.2010 - VII B 102/10 =
SIS 11 12 19). Im Streitfall habe
das FG zutreffend entschieden, dass einem vorläufigen
Sachwalter die rechtliche Verfügungsmacht fehle, auch wenn er
die Kassenführung gemäß § 275 Abs. 2 InsO an
sich gezogen habe. Bei der Kassenführung handle es sich
lediglich um eine interne Kontrollmaßnahme. Daran ändere
weder die Einrichtung eines Anderkontos noch die Umbuchung aller
Gesellschaftsmittel auf dieses Anderkonto etwas. Der
kassenführende vorläufige Sachwalter könne
nämlich - auch in der beschriebenen Konstellation - nicht
uneingeschränkt über die Geldmittel der Schuldnerin
verfügen, da er ähnlich einer Zahlstelle nur auf Weisung
der Schuldnerin Zahlungen auslösen dürfe; ansonsten
würde er sich schadensersatzpflichtig machen. Dementsprechend
habe ein vorläufiger Sachwalter nach der Übernahme der
Kassenführung keine steuerlichen Pflichten der Schuldnerin zu
erfüllen. Schließlich komme eine Haftung des
Klägers auch deshalb nicht in Betracht, weil er als
späterer Sachwalter im Falle einer Abführung der
Lohnsteuer bei Fälligkeit diese Zahlung nach § 130 Abs. 1
Nr. 2 InsO zweifelsfrei angefochten hätte und das FA die
Beträge hätte zurückzahlen müssen.
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II. Die Revision ist begründet (§
126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Die
Vorentscheidung beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§
118 Abs. 1 Satz 1 FGO) und ist daher insoweit aufzuheben, als sie
den Betrag von … EUR übersteigt. Die Klage ist im
Hinblick auf einen Haftungsbetrag von … EUR abzuweisen. Der
angefochtene Haftungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung
ist insoweit rechtmäßig.
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Gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1
Alternative 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen
werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet
(Haftungsschuldner). Nach § 69 Satz 1 AO haften die in den
§§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen, soweit
Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO)
infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung
der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig
festgesetzt oder erfüllt oder soweit infolgedessen
Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen
Grund gezahlt werden.
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1. Der Kläger gehörte zu dem von der
Haftungsnorm des § 69 Satz 1 AO erfassten Personenkreis. Er
war Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO.
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a) Gemäß § 35 AO hat, wer als
Verfügungsberechtigter im eigenen oder fremden Namen auftritt,
die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters (§ 34 Abs. 1 AO),
soweit er sie rechtlich und tatsächlich erfüllen
kann.
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aa) Verfügungsberechtigter im Sinne des
§ 35 AO ist danach jeder, der rechtlich und wirtschaftlich
über Mittel, die einem anderen zuzurechnen sind, verfügen
kann und nach außen hin als Verfügungsberechtigter
auftritt (Senatsurteile vom 16.03.1995 - VII R 38/94, BFHE 177,
209, BStBl II 1995, 859 = SIS 95 10 38, unter 1.a der Gründe
und vom 27.11.1990 - VII R 20/89, BFHE 163, 106, BStBl II 1991, 284
= SIS 91 11 22, unter II.1.a der Gründe; Senatsbeschluss vom
08.12.2010 - VII B 102/10 = SIS 11 12 19, Rz 9). Die Verfügungsmacht kann auf Gesetz,
behördlicher oder gerichtlicher Anordnung oder
Rechtsgeschäft beruhen (Senatsbeschluss vom 08.12.2010 - VII B
102/10 = SIS 11 12 19, Rz 12).
Nach der Rechtsprechung des Senats kann eine Person als
Verfügungsberechtigter nach § 35 AO nur dann angesehen
werden, wenn die Person auch in der Lage ist, die Pflichten eines
gesetzlichen Vertreters rechtlich und tatsächlich zu
erfüllen. Mit dieser Einschränkung soll klargestellt
werden, dass eine tatsächliche Verfügungsmöglichkeit
nicht ausreicht, um die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters zu
begründen. Es bedarf vielmehr auch der Fähigkeit,
aufgrund bürgerlich-rechtlicher Verfügungsmacht im
Außenverhältnis wirksam zu handeln (Senatsurteil vom
21.02.1989 - VII R 165/85, BFHE 156, 46, BStBl II 1989, 491 = SIS 89 16 46; Senatsbeschlüsse vom 27.05.2009 - VII B 156/08,
BFH/NV 2009, 1591 = SIS 09 29 17, unter II.2. der Gründe und
vom 08.12.2010 - VII B 102/10 = SIS 11 12 19, Rz 9; s.a. BT-Drucks. 7/4292, S. 19 zu § 35
AO).
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Dementsprechend hat der Senat einen
„schwachen“ vorläufigen
Insolvenzverwalter mit Zustimmungsvorbehalt (§ 21 Abs. 2 Satz
1 Nr. 2 Alternative 2 InsO) nicht als Verfügungsberechtigten
gemäß § 35 AO angesehen (Senatsbeschluss vom
27.05.2009 - VII B 156/08, BFH/NV 2009, 1591 = SIS 09 29 17, unter
II.3. der Gründe; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler -
HHSp -, § 35 AO Rz 28; Jatzke in Gosch, AO § 35 Rz 17;
Loose in Tipke/Kruse, § 35 AO Rz 5b; Klein/Rüsken, AO,
17. Aufl., § 35 Rz 19), und zwar selbst dann nicht, wenn er
seine Verwaltungsbefugnisse überschreitet (Senatsbeschluss vom
27.05.2009 - VII B 156/08, BFH/NV 2009, 1591 = SIS 09 29 17). Denn
in diesem Fall fehlt es an einer vom Insolvenzgericht
übertragenen Verfügungsbefugnis über das
Vermögen des Schuldners. Der
„schwache“ vorläufige
Insolvenzverwalter ist nicht in der Lage, ohne Mitwirkung des
Insolvenzgerichts seine Verwaltungsbefugnisse beliebig auszudehnen
und sich eine Verfügungsbefugnis über das Vermögen
des Schuldners zu verschaffen.
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bb) Danach ist ein (vorläufiger)
Sachwalter - zumindest ohne Hinzutreten weiterer Umstände -
kein Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO. Im
Falle der Eigenverwaltung hat der Sachwalter die Funktion, den
Schuldner zu beaufsichtigen, der gemäß § 270 Abs. 1
Satz 1 InsO berechtigt ist, die Insolvenzmasse unter der Aufsicht
des Sachwalters zu verwalten und über sie zu verfügen.
Dasselbe gilt, wenn - wie im Streitfall - im
Insolvenzeröffnungsverfahren ein vorläufiger Sachwalter
gemäß § 270a Abs. 1 Satz 2 InsO in der im
Streitfall anwendbaren Fassung des Gesetzes zur weiteren
Erleichterung der Sanierung von Unternehmen vom 07.12.2011 (BGBl I
2011, 2582, im Folgenden: „InsO a.F.“)
bestellt wird.
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Denn der (vorläufige) Sachwalter hat
gemäß § 274 Abs. 2 Satz 1 InsO die wirtschaftliche
Lage des Schuldners zu prüfen und die
Geschäftsführung sowie die Ausgaben für die
Lebensführung zu überwachen. Dabei hat er
grundsätzlich keine eigenen Eingriffsbefugnisse, sondern hat,
wenn er Umstände feststellt, die erwarten lassen, dass die
Fortsetzung der Eigenverwaltung zu Nachteilen für die
Gläubiger führen wird, dies gemäß § 274
Abs. 3 Satz 1 InsO dem Gläubigerausschuss und dem
Insolvenzgericht anzuzeigen. Es fehlt in diesem Grundfall an einer
Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners.
Bei einem Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung gemäß
§ 270 Abs. 1 Satz 1 InsO verbleibt die Verwaltungs- und
Verfügungsbefugnis beim Schuldner (vgl. Urteile des
Bundesgerichtshofs - BGH - vom 26.04.2018 - IX ZR 238/17, BGHZ 218,
290, Rz 12 und vom 09.03.2017 - IX ZR 177/15, Rz 8). Zutreffend
betrachtet daher das Schrifttum den (vorläufigen) Sachwalter
grundsätzlich nicht als Verfügungsberechtigten im Sinne
des § 35 AO, weil der Sachwalter gemäß § 274
InsO nur Kontroll- und Aufsichtspflichten ausübt, ohne dass
dem Schuldner die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis
über sein Vermögen entzogen wird (Boeker in HHSp, §
34 AO Rz 80 und § 35 Rz 29; Jatzke in Gosch, AO § 35 Rz
17; Loose in Tipke/Kruse, § 35 AO Rz 5b; Koenig/Koenig,
Abgabenordnung, 4. Aufl., § 35 Rz 17; BeckOK AO/Rosenke, 27.
Ed. [15.01.2024], AO § 35 Rz 84).
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cc) In Abgrenzung dazu hat der Senat mit
Urteil vom 13.09.1988 - VII R 35/85 (BFH/NV 1989, 139) einen zum
Sachwalter der Vergleichsgläubiger (§ 91 Abs. 1 der
Vergleichsordnung in der bis zum 31.12.1998 geltenden Fassung)
bestellten Treuhänder als Verfügungsberechtigten im Sinne
des § 35 AO angesehen. Die Verfügungsberechtigung hat der
Senat aus einer durch einen Notarvertrag eingeräumten
Berechtigung des Sachwalters abgeleitet, über das Anlage- und
Umlaufvermögen der Schuldnergesellschaft zu verfügen und
alle hierzu erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Durch die so
übertragene Verfügungsbefugnis ging die Stellung des
Sachwalters über diejenige eines mit den gesetzlichen
Befugnissen ausgestatteten Sachwalters hinaus (Senatsurteil vom
13.09.1988 - VII R 35/85, BFH/NV 1989, 139, unter 2. der
Gründe).
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21
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b) Im Streitfall ist der Kläger als
Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO anzusehen.
Dies folgt aus der Besonderheit des Streitfalls, dass der
Kläger auf seinen Namen ein Anderkonto bei einer Bank
eingerichtet und sämtliche eingehenden und ausgehenden
Zahlungen der GmbH hierüber realisiert hat.
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aa) Nach den dargelegten Grundsätzen
wurde dem Kläger nicht bereits durch den Beschluss des AG vom
xx.xx.2014, mit dem der Kläger zum vorläufigen Sachwalter
gemäß § 270a Abs. 1 Satz 2 InsO a.F. im
Insolvenzeröffnungsverfahren über das Vermögen der
GmbH bestellt worden war, die von § 35 AO vorausgesetzte
Verfügungsbefugnis über das Vermögen der GmbH
übertragen.
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bb) Die von § 35 AO vorausgesetzte
tatsächliche Verfügungsmacht ergab sich aber aus dem
Umstand, dass der Kläger als vorläufiger Sachwalter mit
Wirkung vom 09.xx.2014 die Kassenführung an sich gezogen und H
das Geldvermögen der GmbH auf das Anderkonto überwiesen
hatte und dass der Kläger die Kasse fortan über dieses
Anderkonto führte.
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Gemäß § 275 Abs. 2 InsO kann
der Sachwalter vom Schuldner verlangen, dass alle eingehenden
Gelder nur vom Sachwalter entgegengenommen und Zahlungen nur vom
Sachwalter geleistet werden. Dasselbe gilt gemäß §
270a Abs. 1 Satz 2 InsO a.F. für den vorläufigen
Sachwalter, auf den die §§ 274 und 275 InsO entsprechend
anzuwenden sind. Es handelt sich um eine gesetzliche
Ermächtigung, die keiner weiteren gerichtlichen Anordnung
bedarf (Uhlenbruck/Zipperer, Insolvenzordnung, 16. Aufl., §
275 Rz 7; Undritz/Schur, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht -
ZIP - 2016, 549).
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Im Schrifttum ist umstritten, welche Bedeutung
die Übernahme der Kassenführung durch einen Sachwalter
gemäß § 275 Abs. 2 InsO für eine
Verfügungsberechtigung im Sinne des § 35 AO hat.
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(1) Teilweise wird vertreten, der Sachwalter,
der nach § 275 Abs. 2 InsO Zahlungen vornehme, verfüge im
fremden Namen und könne daher als Verfügungsberechtigter
im Sinne des § 35 AO angesehen werden, der nach außen
für den Schuldner auftrete (BeckOK AO/Rosenke, 27. Ed.
[15.01.2024], AO § 35 Rz 84; Thole, DB 2015, 662;
Schmittmann/Dannemann, ZIP 2014, 1405: „spricht einiges
dafür“).
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27
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(2) Nach der Gegenauffassung wird der
Sachwalter durch die Übernahme der Kassenführung
gemäß § 275 Abs. 2 InsO grundsätzlich nicht
zum Verfügungsberechtigten im Sinne des § 35 AO, weil er
Zahlungen nur auf Veranlassung des Schuldners vornehme (Boeker in
HHSp, § 35 AO Rz 29; MüKoInsO/Kern, 4. Aufl., § 275
Rz 25; Uhlenbruck/Zipperer, Insolvenzordnung, 16. Aufl., § 275
Rz 8; Brünkmans in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur
Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023, § 270c Rz 60; Hobelsberger,
DStR 2013, 2545; Sonnleitner/Winkelhog, BB 2015, 88; Undritz/Schur,
ZIP 2016, 549; Richert, Neue Zeitschrift für Insolvenz- und
Sanierungsrecht - NZI - 2021, 694; Witfeld, NZI 2021, 665;
Schädlich, Neue Wirtschafts-Briefe 2021, 1967). Der Schuldner
habe die steuerlichen Pflichten - auch Steuerzahlungen - nach wie
vor selbst zu erfüllen (Boeker in HHSp, § 35 AO Rz 29 und
§ 34 AO Rz 80; MüKoInsO/Kern, 4. Aufl., § 275 Rz
25). Diese Rechtsauffassung stützt sich darauf, dass bei einem
Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung die Verwaltungs- und
Verfügungsbefugnis - auch im Falle der Übernahme der
Kassenführung - beim Schuldner verbleibt (MüKoInsO/Kern,
4. Aufl., § 275 Rz 26; FK-InsO/Oberle, 10. Aufl., § 275
Rz 12; Uhlenbruck/Zipperer, Insolvenzordnung, 16. Aufl., § 275
Rz 8; Holzer in Prütting/Bork/Jacoby, Insolvenzordnung, §
275 Rz 26; Sonnleitner/Winkelhog, BB 2015, 88; Undritz/Schur, ZIP
2016, 549).
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28
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(3) Nach einer vermittelnden Auffassung im
Schrifttum ist ein kassenführender Sachwalter zumindest dann
als Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO
anzusehen, wenn er mit weitergehenden Befugnissen ausgestattet
wird, die ihm eine Rechtsstellung vermitteln, die der eines
Treuhänders vergleichbar ist (Jatzke in Gosch, AO § 35 Rz
17, unter Verweis auf das Senatsurteil vom 13.09.1988 - VII R
35/85, BFH/NV 1989, 139 und auf Frotscher, Besteuerung bei Insolvenz, 9. Aufl.,
Kap. 3.5, 51; ebenso Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 4. Aufl.,
§ 35 Rz 17). Soweit der Sachwalter hierdurch allein berechtigt
ist, Zahlungen zu leisten, ist er nach dieser Auffassung insoweit
Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO (Frotscher,
Besteuerung bei Insolvenz, 9. Aufl., Kap. 3.5, 51).
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29
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cc) Der Senat folgt der letztgenannten
Auffassung mit der Maßgabe, dass ein vorläufiger
Sachwalter zumindest dann als Verfügungsberechtigter im Sinne
des § 35 AO anzusehen ist, wenn er nach Übernahme der
Kassenführung gemäß § 275 Abs. 2 InsO auf
seinen Namen ein Anderkonto bei einer Bank eröffnet und
sämtliche eingehenden und ausgehenden Zahlungen des Schuldners
über dieses Konto abwickelt. Denn durch die Einräumung
derartiger treuhänderischer Befugnisse erlangt der
kassenführende Sachwalter die für eine
Verfügungsberechtigung im Sinne von § 35 AO erforderliche
rechtliche und wirtschaftliche Verfügungsmacht. Im Streitfall
folgen diese treuhänderischen Befugnisse des Klägers aus
der Verwendung des Anderkontos, durch das er zudem als
Verfügungsberechtigter nach außen aufgetreten ist.
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30
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(1) Durch die Einrichtung des auf seinen Namen
lautenden Anderkontos bei einer Bank erhielt der Kläger die
nach der Senatsrechtsprechung (Senatsbeschluss vom 08.12.2010 - VII
B 102/10 = SIS 11 12 19, Rz 9)
erforderliche Fähigkeit, aufgrund bürgerlich-rechtlicher
Verfügungsmacht im Außenverhältnis wirksam zu
handeln.
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31
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Nach den gemäß § 118 Abs. 2
FGO bindenden Feststellungen des FG überwies H am 09.xx.2014
das gesamte Bankguthaben der GmbH in Höhe von … EUR auf
das vom Kläger zuvor bei einer Bank eingerichtete Anderkonto,
über das der Kläger in der Folgezeit sämtliche
eingehenden und ausgehenden Zahlungen der GmbH abwickelte. Daraus
ergaben sich treuhänderische Befugnisse des Klägers.
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32
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Denn bei Anderkonten handelt es sich um offene
Vollrechtstreuhandkonten, aus denen ausschließlich der das
Konto eröffnende Rechtsanwalt persönlich der Bank
gegenüber berechtigt und verpflichtet ist (ständige
Rechtsprechung, BGH-Urteile vom 07.02.2019 - IX ZR 47/18, BGHZ 221,
87, Rz 29; vom 18.12.2008 - IX ZR 192/07, unter II.1. der
Gründe; vom 15.12.1994 - IX ZR 252/93, ZIP 1995, 225, unter
II.1. der Gründe und vom 19.05.1988 - III ZR 38/87, ZIP 1988,
1136, unter II.1. der Gründe; vgl. auch Undritz/Schur, ZIP
2016, 549). Das Kontoguthaben auf einem Anderkonto ist kein
Bestandteil der (späteren) Insolvenzmasse (BGH-Urteile vom
07.02.2019 - IX ZR 47/18, BGHZ 221, 87, Rz 32 und vom 20.09.2007 -
IX ZR 91/06, unter II.1.b der Gründe). Der Inhaber des
Anderkontos besitzt die bürgerlich-rechtliche
Verfügungsmacht über das Konto und über die darauf
befindlichen Mittel. Ein vorläufiger Sachwalter, der - wie im
Streitfall der Kläger - zugleich Inhaber eines solchen
Anderkontos ist, ist dadurch mit Befugnissen ausgestattet, die ihm
durch das Vollrechtstreuhandkonto eine Rechtsstellung als
Treuhänder vermitteln.
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33
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Der Kläger kann sich folglich nicht mit
Erfolg darauf berufen, er habe nicht uneingeschränkt über
die Geldmittel der Schuldnerin verfügen können, da er
ähnlich einer Zahlstelle nur auf Weisung der Schuldnerin
Zahlungen habe auslösen dürfen. Als Inhaber eines
Vollrechtstreuhandkontos war er allein zur Verfügung über
die Geldmittel befugt. Welche Absprachen gegebenenfalls im
Innenverhältnis bestanden, ist dabei nicht erheblich (vgl.
Senatsbeschluss vom 08.12.2010 - VII B 102/10 = SIS 11 12 19, Rz 9).
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(2) Der Kläger hat diese
Verfügungsmacht auch im Außenverhältnis
genutzt.
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35
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Hinsichtlich des zu fordernden Auftretens nach
außen hat es die Rechtsprechung als ausreichend erachtet,
dass der Verfügungsberechtigte gegenüber irgendjemanden -
auch nur gegenüber einer begrenzten Öffentlichkeit -
auftritt (Senatsbeschluss vom 09.01.2013 - VII B 67/12 =
SIS 13 13 82, Rz 7). So kann etwa
die Unterzeichnung eines Vertrags (Senatsbeschluss vom 09.01.2013 -
VII B 67/12 = SIS 13 13 82, Rz 7
und 8) oder die Nutzung einer Kontovollmacht (Senatsbeschluss vom
08.12.2010 - VII B 102/10 = SIS 11 12 19, Rz 9 und 10) genügen. Im Streitfall hat der
Kläger nach den Feststellungen des FG einen Vertrag
geschlossen, indem er bei einer Bank ein Anderkonto auf seinen
Namen und in seiner Funktion als vorläufiger Sachwalter
eingerichtet und verwendet hat. Zudem hat er als Vollrechtsinhaber
auch über dieses Anderkonto verfügt und ab dem 09.xx.2014
sämtliche eingehenden und ausgehenden Zahlungen der GmbH
darüber abgewickelt. Durch beides ist er nach außen hin
aufgetreten.
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Soweit das FG davon abweichend zu dem Ergebnis
gelangt ist, dass der Kläger nicht als
Verfügungsberechtigter für die GmbH nach außen hin
aufgetreten sei, bindet dies den Senat gemäß § 118
Abs. 2 FGO nicht. Denn hierbei handelt es sich um eine rechtliche
Würdigung der vom FG festgestellten Tatsachen. An die
rechtliche Beurteilung des Sachverhalts ist der BFH aber gerade
nicht gebunden.
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Gegen die Annahme einer aus der Einrichtung
und Nutzung des Anderkontos folgenden Verfügungsberechtigung
im Sinne des § 35 AO spricht - entgegen der Auffassung des FG
- nicht, dass der vorläufige Sachwalter Verfügungen
über das Guthaben auf dem Anderkonto im eigenen Namen
getroffen hat. Denn § 35 AO stellt nach seinem
ausdrücklichen Wortlaut die Möglichkeiten einander
gleich, ob der Verfügungsberechtigte im eigenen oder im
fremden Namen auftritt (vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 35 AO Rz
3).
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2. Es ist ein Haftungsschaden im Sinne von
§ 69 Satz 1 AO eingetreten, weil Ansprüche aus dem
Steuerschuldverhältnis nicht erfüllt worden sind.
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Von der beim FA angemeldeten Lohnsteuer
für Monat X 2014 in Höhe von … EUR zuzüglich
Solidaritätszuschlag in Höhe von … EUR, zusammen
… EUR, vereinnahmte das FA nach den nicht mit
Verfahrensrügen angegriffenen und daher gemäß
§ 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG nur einen
Betrag in Höhe von … EUR aufgrund der Insolvenzquote.
Der Differenzbetrag von … EUR stellt den Haftungsschaden
dar.
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3. Im Hinblick auf den Haftungsschaden hat der
Kläger die ihm auferlegten Pflichten verletzt.
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a) Welches die maßgebliche Handlung
beziehungsweise Unterlassung ist, die dem Haftungsschuldner zur
Last gelegt wird, ist dem Haftungsbescheid zu entnehmen, um dessen
Wirksamkeit die Beteiligten streiten (Senatsurteile vom 29.08.2023
- VII R 47/20, BFHE 281, 288 = SIS 23 18 43, Rz 22; vom 14.12.2021
- VII R 14/19 = SIS 22 04 28, Rz
20 und vom 19.01.2021 - VII R 38/19 = SIS 21 09 83, Rz 28).
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Im Streitfall hat das FA im angefochtenen
Haftungsbescheid eine Pflichtverletzung des Klägers darin
gesehen, dass er die am 10.xx.2014 fällige Lohnsteuer für
Monat X 2014 nicht beglichen hat.
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43
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Da der Kläger - wie beschrieben - als
Verfügungsberechtigter aufgetreten ist, hatte er
gemäß § 35 AO die Pflichten eines gesetzlichen
Vertreters (§ 34 Abs. 1 AO), die er auch rechtlich und
tatsächlich erfüllen konnte. Deshalb hatte er dafür
zu sorgen, dass gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 AO die
Steuern aus den Mitteln entrichtet wurden, die er verwaltete. Bei
Fälligkeit der Lohnsteuer und des Solidaritätszuschlags
am 10.xx.2014 (§ 41a Abs. 1 Satz 1 des
Einkommensteuergesetzes) hätte der Kläger daher die
offenen Steuern an das FA abführen müssen. Dies ist nicht
geschehen.
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b) Eine Pflichtverletzung des Klägers ist
auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil die
streitgegenständlichen Steuern erst am 10.xx.2014 fällig
geworden sind und bereits vor diesem Zeitpunkt wegen drohender
Zahlungsunfähigkeit die Eröffnung des Insolvenzverfahrens
über das Vermögen der GmbH in Eigenverwaltung beantragt
worden war. Der Kläger unterlag insofern keiner
Pflichtenkollision.
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aa) Durch einen Antrag auf Eröffnung des
Insolvenzverfahrens entsteht kein rechtliches Hindernis, die
Lohnsteuer abzuführen (vgl. Senatsurteile vom 22.10.2019 - VII
R 30/18 = SIS 20 04 21, Rz 26 und
vom 23.09.2008 - VII R 27/07, BFHE 222, 228, BStBl II 2009, 129 =
SIS 08 44 58, unter II.1.a der Gründe, zu den Pflichten des
Geschäftsführers).
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Für die Pflichten eines
Geschäftsführers hat der Senat bereits mehrfach
entschieden, dass dieser aufgrund der gesellschaftsrechtlichen
Massesicherungspflicht keiner Pflichtenkollision ausgesetzt ist.
Ein organschaftlicher Vertreter, der bei Insolvenzreife der
Gesellschaft seine steuerlichen Zahlungspflichten erfüllt,
handelt mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns im
Sinne von § 64 Satz 2 des Gesetzes betreffend die
Gesellschaften mit beschränkter Haftung in der bis zum
31.12.2020 geltenden Fassung (GmbHG a.F.) und ist nicht nach §
64 Satz 1 GmbHG a.F. gegenüber der Gesellschaft
erstattungspflichtig (Senatsurteile vom 26.09.2017 - VII R 40/16,
BFHE 259, 423, BStBl II 2018, 772 = SIS 17 22 44, Rz 21 und vom
23.09.2008 - VII R 27/07, BFHE 222, 228, BStBl II 2009, 129 = SIS 08 44 58, unter II.1.d der Gründe; Kleindiek in Kayser/Thole,
Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023, §
15b Rz 75). Dasselbe gilt für den vorläufigen Sachwalter,
der die Kontoführung für die Gesellschaft ausübt und
steuerliche Pflichten zu erfüllen hat.
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bb) Nichts anderes ergibt sich im Streitfall
aus § 15b Abs. 8 InsO i.d.F. des Sanierungs- und
Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetzes (SanInsFoG) vom 22.12.2020
(BGBl I 2020, 3256) - InsO n.F. - .
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Nach § 15b Abs. 8 InsO n.F. liegt eine
Verletzung steuerrechtlicher Zahlungspflichten nicht vor, wenn -
wie im Streitfall - zwischen dem Eintritt der
Zahlungsunfähigkeit nach § 17 InsO oder der
Überschuldung nach § 19 InsO und der Entscheidung des
Insolvenzgerichts über den Insolvenzantrag Ansprüche aus
dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig
erfüllt werden, sofern die Antragspflichtigen ihren
Verpflichtungen nach § 15a InsO (Insolvenzantragspflicht)
nachkommen. Diese Neuregelung gilt nach Art. 25 SanInsFoG jedoch
erst ab dem 01.01.2021 und damit nicht im Streitfall (vgl.
Senatsurteil vom 14.12.2021 - VII R 32/20, BFHE 274, 522, BStBl II
2022, 537 = SIS 22 06 32, Rz 46; Kleindiek in Kayser/Thole,
Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023, §
15b Rz 77).
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4. Zwischen der Pflichtverletzung und dem
eingetretenen Haftungsschaden bestand ein adäquater
Kausalzusammenhang.
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Soweit sich der Kläger darauf beruft,
dass er als späterer Sachwalter im Falle einer Abführung
der Lohnsteuer bei Fälligkeit diese Zahlung nach § 130
Abs. 1 Nr. 2 InsO zweifelsfrei angefochten hätte und das FA
die Beträge hätte zurückzahlen müssen, vermag
dies den Kausalzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und dem
Haftungsschaden nicht zu beseitigen. Denn hypothetische
Geschehensläufe sind bei der Beurteilung des
Kausalzusammenhangs zwischen der Pflichtverletzung und dem
Haftungsschaden nach der ständigen Rechtsprechung des Senats
unbeachtlich (Senatsurteile vom 14.12.2021 - VII R 32/20, BFHE 274,
522, BStBl II 2022, 537 = SIS 22 06 32, Rz 41; vom 22.10.2019 - VII
R 30/18 = SIS 20 04 21, Rz 35; vom
26.01.2016 - VII R 3/15 = SIS 16 09 72, Rz 12 ff.; vom 11.11.2008 - VII R 19/08, BFHE 223, 303,
BStBl II 2009, 342 = SIS 09 06 84, unter II.3. der Gründe und
vom 05.06.2007 - VII R 65/05, BFHE 217, 233, BStBl II 2008, 273 =
SIS 07 31 56, unter II.2. der Gründe; Boeker in HHSp, §
69 AO Rz 55; Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz 21; Jatzke in
Gosch, AO § 69 Rz 46.1 und 55). Die Frage, in welcher Weise
der spätere Sachwalter eine Zahlung der Lohnsteuer behandelt
hätte, ist ein hypothetischer Geschehenslauf, da die
streitgegenständliche Lohnsteuer tatsächlich nicht
bezahlt wurde. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern,
auf den der Kläger hingewiesen hat, dass in diesem Fall die
Person des späteren Sachwalters und die Person des
Klägers identisch sind.
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5. Den Kläger trifft auch ein Verschulden
daran, dass die Lohnsteuer für Monat X 2014 bei
Fälligkeit nicht an das FA abgeführt worden ist.
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Nach ständiger Rechtsprechung des
erkennenden Senats stellt die Nichtabführung einzubehaltender
und anzumeldender Lohnsteuer zu den gesetzlichen
Fälligkeitszeitpunkten regelmäßig eine zumindest
grob fahrlässige Pflichtverletzung dar (Senatsurteile vom
14.12.2021 - VII R 32/20, BFHE 274, 522, BStBl II 2022, 537 = SIS 22 06 32, Rz 20; vom 22.10.2019 - VII R 30/18 = SIS 20 04 21, Rz 24 und vom 23.09.2008 - VII R
27/07, BFHE 222, 228, BStBl II 2009, 129 = SIS 08 44 58, unter
II.1.b der Gründe).
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53
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Zudem indiziert nach ständiger
Rechtsprechung des erkennenden Senats die objektive
Pflichtwidrigkeit des Verhaltens das Verschulden im Sinne von
§ 69 Satz 1 AO (Senatsurteile vom 29.08.2023 - VII R 47/20,
BFHE 281, 288 = SIS 23 18 43, Rz 51 und vom 26.09.2017 - VII R
40/16, BFHE 259, 423, BStBl II 2018, 772 = SIS 17 22 44, Rz 20;
Senatsbeschluss vom 15.11.2022 - VII R 23/19, BFHE 278, 392, BStBl
II 2023, 549 = SIS 23 04 13, Rz 33, m.w.N.; Jatzke in Gosch, AO
§ 69 Rz 56). Diese Indizwirkung der Pflichtverletzung
führt im Streitfall dazu, dass den Kläger ein Verschulden
trifft, da die Indizwirkung nicht durch gegenteilige Anhaltspunkte
entkräftet ist.
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Gegenteilige Anhaltspunkte ergeben sich
insbesondere nicht daraus, dass dem Kläger im Haftungszeitraum
die Rechtslage noch nicht hinreichend bekannt gewesen wäre.
Zwar hat sich in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung erst in
jüngerer Zeit - nach dem Haftungszeitraum - die Erkenntnis
verfestigt, dass es für einen Insolvenzverwalter nicht
zulässig ist, ein Anderkonto einzurichten. Nach der
Rechtsprechung des BGH ist die Führung eines Kontos, das nicht
die Masse selbst als materiell berechtigt ausweist, als
Insolvenzkonto unzulässig (BGH-Urteil vom 07.02.2019 - IX ZR
47/18, BGHZ 221, 87, Rz 31). Dies dürfte aufgrund der
erforderlichen Trennung zwischen künftiger Insolvenzmasse und
dem Vermögen des Sachwalters ebenso für einen
vorläufigen Sachwalter gelten (vgl. AG Dresden, Beschluss vom
10.07.2019 - 532 IN 876/19, Zeitschrift für das gesamte
Insolvenz- und Sanierungsrecht 2020, 1261, Rz 7 ff.). Wie oben
beschrieben, beruht die Haftung des Klägers gemäß
§ 69 Satz 1 i.V.m. § 35 AO jedoch nicht darauf, dass er
sich für die Ausübung seiner Funktion als
vorläufiger Sachwalter eines - jedenfalls nach neuerer
Rechtslage - unzulässigen Anderkontos bedient hat, sondern
vielmehr darauf, dass es sich nach der gefestigten und
langjährigen Rechtsprechung des BGH bei einem Anderkonto um
ein offenes Vollrechtstreuhandkonto handelt. Hieraus ist die
für die Stellung als Verfügungsberechtigter im Sinne von
§ 35 AO erforderliche rechtliche und wirtschaftliche
Verfügungsmacht aufgrund der Treuhand abzuleiten. Dafür,
dass die Umstände, die zu dieser Würdigung führen,
dem Kläger im Haftungszeitraum nicht bekannt gewesen
wären, bestehen keine Anhaltspunkte.
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6. Eine Haftung ist auch nicht deshalb zu
verneinen oder in ihrem Umfang zu reduzieren, weil zur Begleichung
der Steuerschulden nicht ausreichende Mittel vorhanden gewesen
wären.
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Stehen zur Begleichung der Schulden insgesamt
keine ausreichenden Mittel zur Verfügung, so bewirkt nach der
höchstrichterlichen Rechtsprechung die durch die schuldhafte
Pflichtverletzung verursachte Nichterfüllung der
Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis die Haftung nur
in dem Umfang, in dem der Verpflichtete das FA gegenüber den
anderen Gläubigern benachteiligt hat (Senatsurteile vom
27.02.2007 - VII R 60/05, BFHE 216, 487, BStBl II 2008, 508 = SIS 07 24 95, unter II.2. der Gründe und vom 01.08.2000 - VII R
110/99, BFHE 192, 249, BStBl II 2001, 271 = SIS 00 14 29,
m.w.N.).
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Diesem sogenannten Grundsatz der anteiligen
Tilgung kommt im Zusammenhang mit der Lohnsteuer allerdings die
eingeschränkte Bedeutung zu, dass lediglich das FA und die
Arbeitnehmer gleichmäßig zu berücksichtigen sind.
Daher sind die für die Lohnsteuerabführung erforderlichen
Beträge bei der Lohnzahlung zurückzubehalten, die
Löhne also entsprechend zu kürzen (Senatsurteil vom
14.12.2021 - VII R 32/20, BFHE 274, 522, BStBl II 2022, 537 = SIS 22 06 32, Rz 22; BFH-Beschluss vom 03.06.2011 - VII B 203/10, Rz 6;
Jatzke in Gosch, AO § 69 Rz 42).
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Ob im Streitfall der Grundsatz der anteiligen
Tilgung aber möglicherweise trotz Vorliegens eines
Lohnsteuerfalls in uneingeschränktem Umfang anzuwenden sein
könnte, weil die Löhne bereits vor der Bestellung des
Klägers zum vorläufigen Sachwalter am xx.xx.2014 durch H
ausgezahlt worden waren und der Kläger daher keine
Möglichkeit hatte, für eine Kürzung der Löhne
zu sorgen, kann der Senat dahinstehen lassen. Denn [es] war ein
Bankguthaben der GmbH in Höhe von … EUR vorhanden,
welches am 09.xx.2014 auf das Anderkonto des Klägers
überwiesen wurde. Dass diese Summe, von der weniger als ein
Zehntel für die offenen Steuerforderungen hätte verwendet
werden müssen, nicht für die Begleichung der offenen
Forderungen ausgereicht hätte, hat der Kläger, den
diesbezüglich die Feststellungslast trifft, nicht belegt.
Für eine gegenteilige Annahme bestehen keine Anhaltspunkte.
Sofern zu einem späteren Zeitpunkt das Vermögen der GmbH
unter Berücksichtigung anderer Gläubiger nicht
ausgereicht haben sollte, worauf die Insolvenzquote von gerundet
2,4 % schließen lässt, gilt dies zumindest nicht
für den insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der
Fälligkeit der Steuerschulden am 10.xx.2014.
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7. Schließlich sind Fehler bei der
Ausübung des Ermessens, welches das FA sowohl im
Haftungsbescheid vom 21.04.2016 als auch in der
Einspruchsentscheidung vom 09.12.2016 ausführlich dargelegt
hat, weder von den Beteiligten des Revisionsverfahrens vorgebracht
noch sonst ersichtlich.
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8. Das FG hat der Klage in Bezug auf einen
Betrag von … EUR zu Recht stattgegeben, weil das FA diesen
Betrag, den es zuvor aufgrund der Insolvenzquote vereinnahmt hatte,
bei der Berechnung der Haftungssumme von … EUR nicht
mindernd berücksichtigt hatte.
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9. Die Kostenentscheidung beruht auf §
136 Abs. 1 Satz 3 FGO. Das FA ist nur zu einem geringen Teil
unterlegen.
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