Die Revision des Klägers gegen das Urteil
des Finanzgerichts Nürnberg vom 04.05.2023 - 8 K 467/21 =
SIS 24 04 49 wird als
unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der
Kläger zu tragen.
1
|
I. Die Beteiligten streiten um die
Festsetzung von Differenzkindergeld für den Streitzeitraum
August 2018 bis Oktober 2018.
|
|
|
2
|
Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) ist rumänischer Staatsangehöriger und Vater
der Kinder (geboren am xx.xx.2004) - V -, (geboren am xx.xx.2007) -
F - und (geboren am xx.xx.2016) - I - . Seine Ehefrau, die Mutter
der Kinder, erhielt im Streitzeitraum je Kind rumänische
Kindergeldleistungen in Höhe von monatlich 84 RON. Die Ehefrau
und die Kinder lebten in Rumänien.
|
|
|
3
|
Der Kläger war vom 07.08.2018 bis zum
20.12.2018 in der Bundesrepublik Deutschland nichtselbständig
beschäftigt.
|
|
|
4
|
Am 22.05.2019 stellte der Kläger bei
der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) einen Antrag
auf Kindergeld für alle drei Kinder. Mit Bescheid vom
13.10.2020 lehnte die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung
für den Zeitraum von August bis Oktober 2018 ab, weil die
Festsetzung für einen längeren Zeitraum als die letzten
sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf
Kindergeld eingegangen sei, gemäß § 66 Abs. 3 des
Einkommensteuergesetzes i.d.F. des
Steuerumgehungsbekämpfungsgesetzes - StUmgBG - vom 23.06.2017
(BGBl I 2017, 1682 - EStG a.F. - ) ausgeschlossen sei. Gegen den
Ablehnungsbescheid legte der Kläger Einspruch ein und bestritt
die Verfassungsmäßigkeit der angewandten
Vorschrift.
|
|
|
5
|
Mit Einspruchsentscheidung vom 29.03.2021
wies die Familienkasse den Einspruch als unbegründet
zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, der
Bundesfinanzhof (BFH) habe entschieden, dass § 66 Abs. 3 EStG
a.F. das Festsetzungsverfahren betreffe und die Festsetzung von
Kindergeld auf einen Zeitraum von sechs Monaten vor Antragstellung
begrenze (Urteil vom 19.02.2020 - III R 66/18, BFHE 268, 294, BStBl
II 2020, 704 = SIS 20 08 97). Da der Kindergeldantrag erst am
22.05.2019 bei der Familienkasse eingegangen sei, sei eine
Kindergeldfestsetzung für den beantragten Zeitraum
ausgeschlossen. Mit Urteil vom 09.09.2020 - III R 37/19 (BFH/NV
2021, 449 = SIS 21 01 97) habe der BFH zudem klargestellt, dass
§ 66 Abs. 3 EStG a.F. nicht verfassungswidrig sei.
|
|
|
6
|
Während des sich anschließenden
Klageverfahrens hat die Familienkasse zwei Anfragen an den
rumänischen Leistungsträger gestellt. Die rumänische
Verbindungsstelle teilte mit, dass die Kindsmutter in Rumänien
einer Erwerbstätigkeit nachgehe, die in Rumänien
gestellten Anträge auf Familienleistungen für das Kind V
im März 2010 und das Kind I im April 2016 erfolgt seien, und
dass man keine Informationen über die
grenzüberschreitende Situation der Familie erhalten
habe.
|
|
|
7
|
Die Klage blieb erfolglos.
|
|
|
8
|
Mit der Revision rügt der Kläger
die Verletzung materiellen Rechts, des Unionsrechts und des
Verfassungsrechts. Die Entscheidung beinhalte eine Diskriminierung
von Unionsbürgern und verstoße gegen den
Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 des Grundgesetzes (GG), gegen das
Diskriminierungsverbot sowie das Freizügigkeitsrecht nach Art.
18, Art. 21 und Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der
Europäischen Union (AEUV).
|
|
|
9
|
Soweit sich die Familienkasse auf das
zwischenzeitlich ergangene Urteil des Gerichtshofs der
Europäischen Union (EuGH) Chief Appeals Officer u.a. vom
29.09.2022 - C-3/21, EU:C:2022:737 = SIS 24 18 46 berufe, sei
dieser Entscheidung auch zu entnehmen, dass die nationalen
Regelungen den Äquivalenzgrundsatz und den
Effektivitätsgrundsatz zu beachten hätten.
|
|
|
10
|
Der Kläger beantragt,
|
|
|
|
1. das Urteil des Finanzgerichts (FG)
Nürnberg vom 04.05.2023 - 8 K 467/21 und die
Einspruchsentscheidung der Familienkasse vom 29.03.2021 aufzuheben
und unter Abänderung des Bescheides vom 13.10.2020 an den
Kläger Kindergeld für den Zeitraum August bis Oktober
2018 für das Kind V in Höhe von 194 EUR abzüglich
rumänischer Familienleistung von 84 RON, für das Kind F
in Höhe von 194 EUR abzüglich rumänischer
Familienleistung von 84 RON sowie für das Kind I in Höhe
von 200 EUR abzüglich rumänischer Familienleistung von 84
RON zu bezahlen,
|
|
|
|
2. hilfsweise dem EuGH folgende Fragen zur
Vorabentscheidung vorzulegen:
|
|
|
-
|
Sind Art. 18, Art. 21 und Art. 45 AEUV
dahingehend auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung
entgegenstehen, wonach jeder Anspruchsberechtigte nur für
sechs Monate rückwirkend Familienausgleichsleistungen
ausgezahlt erhält?
|
|
|
-
|
Ist diese Frage jedenfalls dann zu bejahen,
wenn dies in der Praxis bedeutet, dass ein inländischer
Anspruchsberechtigter bei Geburt eines Kindes einen einmaligen und
fortwirkenden Antrag auf Familienausgleichsleistungen stellen kann,
während ein Wanderarbeitnehmer für jedes
Beschäftigungsverhältnis erneute und rückwirkende
Anträge stellen muss, um für seine
Beschäftigungszeiten Familienausgleichsleistungen zu erhalten
und damit mit jedem Antrag das Risiko des Verlustes von
Antragszeiten und Leistungsansprüchen trägt (mittelbare
Diskriminierung)?
|
|
|
-
|
Ist, falls diese Fragen bejaht werden,
diese Voraussetzung durch einen zwingenden Grund des
Allgemeininteresses gerechtfertigt, und zwar durch die
Notwendigkeit, Sozialleistungsmissbrauch einzudämmen?
|
|
|
11
|
Die Familienkasse beantragt,
|
|
|
|
die Revision zurückzuweisen.
|
|
|
12
|
II. 1. Die Revision ist unbegründet und
nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO)
zurückzuweisen. Das FG hat zutreffend einen Anspruch des
Klägers auf Festsetzung von Differenzkindergeld für den
Streitzeitraum verneint. Einer Vorlage an den EuGH bedarf es
nicht.
|
|
|
13
|
a) Gemäß § 66 Abs. 3 EStG a.F.
wird das Kindergeld nur für die letzten sechs Monate vor
Beginn des Monats gezahlt, in dem der Antrag (vgl. § 67 des
Einkommensteuergesetzes - EStG - ) auf Kindergeld eingegangen ist.
Diese Vorschrift beschränkt die rückwirkende Festsetzung
von Kindergeld, da sie dem Festsetzungsverfahren und nicht dem
Erhebungsverfahren zuzuordnen ist (Senatsurteile vom 19.02.2020 -
III R 66/18, BFHE 268, 294, BStBl II 2020, 704 = SIS 20 08 97, Rz
18 ff. und vom 19.02.2020 - III R 70/18, BFHE 268, 301, BStBl II
2020, 707 = SIS 20 08 98, Rz 15 f.).
|
|
|
14
|
aa) § 66 Abs. 3 EStG a.F. ist am
01.01.2018 in Kraft getreten (Art. 11 Abs. 2 StUmgBG) und
gemäß § 52 Abs. 49a Satz 7 EStG i.d.F. des Art. 7
Nr. 6 Buchst. c StUmgBG und Art. 9 Nr. 5 Buchst. a Doppelbuchst. bb
des Gesetzes gegen illegale Beschäftigung und
Sozialleistungsmissbrauch auf Anträge anzuwenden, die nach dem
31.12.2017 und vor dem 18.07.2019 eingehen.
|
|
|
15
|
bb) Die Regelung ist damit im Streitfall
anwendbar, da der Antrag des Klägers nach den Feststellungen
des FG erst am 22.05.2019 bei der Familienkasse eingegangen ist.
Insoweit wahrt dieser Antrag die Sechsmonatsfrist des § 66
Abs. 3 EStG a.F. für den Streitzeitraum (August 2018 bis
Oktober 2018) nicht.
|
|
|
16
|
b) Ein die Frist nach § 66 Abs. 3 EStG
a.F. wahrender Antrag liegt auch nicht über das
europäische Recht zur Koordinierung der Systeme der sozialen
Sicherheit vor, welches ein umfassendes Prinzip der europaweiten
Antragsgleichstellung vorsieht.
|
|
|
17
|
aa) In verfahrensrechtlicher Hinsicht sieht
Art. 68 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur
Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der
Europäischen Union - ABlEU - 2004 Nr. L 166, S. 1) - VO Nr.
883/2004 - i.V.m. Art. 60 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur
Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der
Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009, Nr. L 284, S. 1) - VO
Nr. 987/2009 - vor, dass der bei einem Träger eines nachrangig
zuständigen Mitgliedstaats gestellte Kindergeldantrag von
diesem an den Träger des vorrangig zuständigen
Mitgliedstaats weiterzuleiten ist (s.a. Art. 81 der VO Nr.
883/2004, Art. 60 Abs. 3 Satz 1 der VO Nr. 987/2009).
Gemäß Art. 68 Abs. 3 Buchst. b, Art. 81 Satz 3 der VO
Nr. 883/2004 gilt der Tag der Einreichung des Antrags beim
Träger des einen Mitgliedstaats als Tag der Einreichung beim
zuständigen Träger des anderen Mitgliedstaats. Dies
führt zum Prinzip der europaweiten Antragsgleichstellung (s.
hierzu ausführlich Senatsurteile vom 09.12.2020 - III R 73/18,
BFHE 271, 508, BStBl II 2022, 178 = SIS 21 06 73, Rz 16 und vom
14.07.2022 - III R 28/21, BFHE 278, 78, BStBl II 2023, 32 = SIS 22 17 23, Rz 18). Eine Antragsgleichstellung erfolgt hingegen nicht,
wenn der entsprechende Antrag zu einem Zeitpunkt im
Wohnmitgliedstaat gestellt wurde, in dem noch kein Auslandsbezug
vorlag (EuGH-Urteil Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 -
C-3/21, EU:C:2022:737, Rz 31, 36) und der Antragsteller weder der
zuständigen Behörde im Tätigkeitsstaat noch jener im
Wohnstaat eine Mitteilung über den grenzüberschreitenden
Sachverhalt macht. Nur bei Kenntnis des Auslandsbezugs können
die mit dem Antrag befassten Behörden ihren Verpflichtungen
aus Art. 76 und Art. 81 der VO Nr. 883/2004 nachkommen (EuGH-Urteil
Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 - C-3/21, EU:C:2022:737 =
SIS 24 18 46, Rz 35).
|
|
|
18
|
bb) Nach den den Senat bindenden
Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) fehlt es im
vorliegenden Fall an einem bis zum Ablauf der Sechsmonatsfrist
gleichgestellten Antrag auf Familienleistungen bei einem anderen
Träger.
|
|
|
19
|
(1) Soweit für V ein Antrag im
Wohnmitgliedstaat im März 2010 und für F mutmaßlich
bei der Geburt (im Jahr 2007) gestellt wurde, können diese
Anträge schon deshalb nicht unter die Antragsgleichstellung
fallen, weil die VO Nr. 883/2004 erst am 01.05.2010 in Kraft
getreten ist (vgl. Senatsurteil vom 09.09.2020 - III R 37/19,
BFH/NV 2021, 449 = SIS 21 01 97, Rz 19).
|
|
|
20
|
(2) Der für I außerhalb des
Sechsmonatszeitraums nach § 66 Abs. 3 EStG a.F. im April 2016
gestellte Antrag kann nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteile
Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 - C-3/21, EU:C:2022:737 =
SIS 24 18 46 und Familienkasse Sachsen vom 25.04.2024 - C-36/23,
EU:C:2024:355 = SIS 24 08 12)
nicht als ein gleichgestellter Antrag im Sinne von Art. 81 der VO
Nr. 883/2004 gewertet werden. Zu diesem Zeitpunkt wies die
familiäre Situation des Klägers keinen Auslandsbezug auf.
Zudem haben der Kläger und seine Ehefrau im Heimatland nichts
in administrativer Hinsicht unternommen, um der dort
zuständigen Behörde den Auslandsbezug mitzuteilen, so
dass der Umstand, dass die Ehefrau des Klägers wiederkehrende
Familienleistungen erhalten hat, keinen Antrag im Sinne des Art. 81
der VO Nr. 883/2004 darstellt.
|
|
|
21
|
c) § 66 Abs. 3 EStG a.F. i.V.m. § 67
EStG, der die Festsetzung von Differenzkindergeld im Streitzeitraum
ausschließt, verstößt auch nicht gegen
EU-Recht.
|
|
|
22
|
Der Senat erachtet die Unionsrechtslage
angesichts der vorliegenden EuGH-Rechtsprechung (vgl. u.a. Urteile
Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 - C-3/21, EU:C:2022:737 =
SIS 24 18 46; Familienkasse Sachsen vom 25.04.2024 - C-36/23,
EU:C:2024:355 = SIS 24 08 12 und
Alonso-Pérez vom 23.11.1995 - C-394/93, EU:C:1995:400)
für eindeutig, so dass keine Vorlagepflicht an den EuGH
gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht (vgl. EuGH-Urteil
CILFIT vom 06.10.1982 - 283/81, EU:C:1982:335).
|
|
|
23
|
aa) Das Unionsrecht lässt die
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer
Systeme der sozialen Sicherheit unberührt (EuGH-Urteil
Rechtsanwaltskammer Wien vom 15.09.2022 - C-58/21,
EU:C:2022:691,Zeitschrift für europäisches Sozial- und
Arbeitsrecht - ZESAR - 2023, 81 = SIS 23 00 95, Rz 61). Insoweit schafft auch die VO Nr. 883/2004
kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit, sondern lässt
die unterschiedlichen nationalen Systeme bestehen. Es ist daher
Sache des Rechts des jeweiligen Mitgliedstaats, die Voraussetzungen
für die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit,
ihre Höhe, die Dauer ihrer Gewährung sowie die Fristen
zur Beantragung dieser Leistungen zu bestimmen (EuGH-Urteile
Familienkasse Sachsen vom 25.04.2024 - C-36/23, EU:C:2024:355 =
SIS 24 08 12, Rz 55;
Sozialministeriumservice vom 11.04.2024 - C-116/23, EU:C:2024:292,
Rz 61; Xhymshiti vom 18.11.2010 - C-247/09, HFR 2011, 115 = SIS 11 06 23, Rz 43; s.a. Erwägungsgrund 4 der VO Nr. 883/2004). Der
EuGH weist ausdrücklich darauf hin, dass auch bei einer
Antragsgleichstellung gleichwohl „alle anderen formellen und
materiellen Voraussetzungen, die in den Rechtsvorschriften des
vorrangig zuständigen Mitgliedstaats bestimmt sind, zu
erfüllen“ sind, „da zwischen der
Einreichung eines Antrags auf Familienleistungen und dem Anspruch
auf Leistungen zu unterscheiden ist“
(EuGH-Urteil Familienkasse Sachsen vom 25.04.2024 - C-36/23,
EU:C:2024:355 = SIS 24 08 12, Rz
54, m.w.N.).
|
|
|
24
|
Die nationalen Regelungen, wozu auch die hier
vorliegende materiell-rechtliche Ausschlussfrist nach § 66
Abs. 3 EStG a.F. gehört, müssen lediglich das Unionsrecht
beachten und dürfen nicht bewirken, dass Personen, auf die
nach der VO Nr. 883/2004 eine nationale Regelung anwendbar ist, vom
Anwendungsbereich dieser Regelung ausgeschlossen sind (EuGH-Urteil
Chief Appeals Office u.a. vom 29.09.2022 - C-3/21, EU:C:2022:737 =
SIS 24 18 46, Rz 39, m.w.N.).
|
|
|
25
|
bb) Nach der Rechtsprechung des EuGH
führen hingegen angemessene Ausschlussfristen nicht dazu, die
Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte
praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig
zu erschweren (EuGH-Urteil Chief Appeals Officer u.a. vom
29.09.2022 - C-3/21, EU:C:2022:737 = SIS 24 18 46, Rz 45, m.w.N.).
Der EuGH hat bereits entschieden, dass eine nationale Bestimmung,
welche die Rückwirkung von Anträgen und Familienbeihilfen
auf sechs Monate beschränkt, die Ausübung der den
Wanderarbeitnehmern durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht
unmöglich macht (EuGH-Urteil Alonso-Pérez vom
23.11.1995 - C-394/93, EU:C:1995:400, Rz 30, 32, zu § 9 Abs. 2
des Bundeskindergeldgesetzes i.d.F. vom 30.01.1990).
|
|
|
26
|
(1) Auch die in § 66 Abs. 3 EStG a.F.
geregelte materielle Ausschlussfrist schließt einen
Antragsteller aus einem anderen Mitgliedstaat nicht von der
Gewährung von Kindergeld aus, sondern beschränkt
lediglich den Anspruch auf rückwirkende Festsetzung auf die
letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf
Kindergeld eingegangen ist. Diese Frist gilt für alle
Kindergeldberechtigten - unabhängig von ihrer
Staatsangehörigkeit - gleichermaßen.
|
|
|
27
|
(2) Hierbei handelt es sich nicht um eine
unangemessene Frist, da sie - auch unter Berücksichtigung
grenzüberschreitender Sachverhalte innerhalb der EU - die
Inanspruchnahme der Familienleistungen für Wanderarbeitnehmer
nicht unverhältnismäßig erschwert.
|
|
|
28
|
Das ergibt sich insbesondere aus Art. 81 der
VO Nr. 883/2004. Wie dargestellt können Anträge über
Art. 81 der VO Nr. 883/2004, die gemäß den
Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten
Frist bei einer Behörde einzureichen sind, innerhalb der
gleichen Frist auch bei einer entsprechenden Behörde eines
anderen Mitgliedstaats eingereicht werden. Die Zulässigkeit
eines bei einer entsprechenden Stelle im ausländischen
Mitgliedstaat gestellten Antrags bleibt auch dann gegeben, wenn der
Antrag von dieser Stelle erst verspätet an den
zuständigen Träger übermittelt wird (vgl.
EuGH-Urteil Deghillage vom 11.03.1986 - C-28/85, EU:C:1986:113;
vgl. auch Art. 2 Abs. 3 der VO Nr. 987/2009 und Art. 81 Satz 3 der VO Nr. 883/2004). Die
Vorschrift befreit die betreffenden Personen damit von der
Verpflichtung, fristgerechte Anträge unmittelbar bei der
Stelle einzureichen, für die sie bestimmt sind. Art. 81 der VO
Nr. 883/2004 erleichtert damit die Freizügigkeit von
Wanderarbeitnehmern, „indem er ihr Vorgehen angesichts der
Komplexität der Verwaltungsverfahren in den verschiedenen
Mitgliedstaaten vereinfacht, und verhindert, dass die Betroffenen
aus rein formalen Gründen ihre Ansprüche verlieren
können“ (EuGH-Urteil Chief Appeals
Officer u.a. vom 29.09.2022 - C-3/21, EU:C:2022:737 = SIS 24 18 46,
Rz 26). Damit können sich Wanderarbeitnehmer und die ihnen
Gleichgestellten, ohne einen Rechtsverlust aufgrund langer
Postwege, Unkenntnis über den Verwaltungsaufbau im
ausländischen Staat und ähnliche rechtliche und
praktische Schwierigkeiten befürchten zu müssen, direkt
an die entsprechende Stelle ihres Wohnmitgliedstaats wenden
(Senatsurteil vom 14.07.2022 - III R 28/21, BFHE 278, 78, BStBl II
2023, 32 = SIS 22 17 23, Rz 19, m.w.N.). Der in Art. 81 der VO Nr.
883/2004 geregelten Antragsgleichstellung kann aber nicht entnommen
werden, dass sie sich außer auf Verfahrensfragen auch auf die
im Einzelfall anzuwendenden materiell-rechtlichen Vorschriften
bezieht (EuGH-Urteil Camera vom 10.06.1982 - C-92/81, EU:1982:219,
Rz 8). Daher bleibt es bei der Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3
EStG a.F., die der Wanderarbeitnehmer aber durch eine entsprechende
Antragstellung oder Mitteilung bei der für Familienleistungen
zuständigen Behörde seines Heimatstaats leicht wahren
kann.
|
|
|
29
|
cc) § 66 Abs. 3 EStG a.F.
verstößt auch nicht gegen das europarechtliche Verbot
der Diskriminierung.
|
|
|
30
|
Jeder Unionsbürger kann sich in allen
Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des
Unionsrechts fallen, auf das Verbot der Diskriminierung aus
Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 45 Abs. 2 AEUV
berufen, das in Art. 4 der VO Nr. 883/2004 konkretisiert wird
(EuGH-Urteil Kommission/Österreich vom 16.06.2022 - C-328/20,
EU:C:2022:468 = SIS 22 11 88, Rz
98). Nach Art. 4 der VO Nr. 883/2004 haben, sofern in der VO Nr.
883/2004 nichts anderes bestimmt ist, Personen, für die diese
Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der
Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die
Staatsangehörigen dieses Staats.
|
|
|
31
|
(1) Eine offene unmittelbare Diskriminierung
liegt schon deshalb nicht vor, weil die Regelung des § 66 Abs.
3 EStG a.F. nicht an die Staatsangehörigkeit anknüpft.
Die Norm gilt für alle Kindergeldberechtigten, also solche mit
Wohnsitz im Inland oder auch in anderen EU-Mitgliedstaaten, und
zwar unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit.
|
|
|
32
|
(2) Es liegt auch keine verbotene mittelbare
Diskriminierung vor.
|
|
|
33
|
(a) Der Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 4 der
VO Nr. 883/2004 als lex specialis zu Art. 18, Art. 45 AEUV)
verbietet nicht nur offenkundige Diskriminierungen aufgrund der
Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen
der Diskriminierung, die mit Hilfe der Anwendung anderer
Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis
führen (vgl. EuGH-Urteile Pinna vom 15.01.1986 - C-41/84,
EU:C:1986:1, Slg. 1986, 1, Rz 23; Thermalhotel Fontana vom
15.06.2023 - C-411/22, EU:C:2023:490, ZESAR 2023, 443, Rz 37). Nach
ständiger Rechtsprechung des EuGH sind daher Voraussetzungen
des nationalen Rechts als mittelbar diskriminierend anzusehen, die
zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelten, aber
im Wesentlichen oder ganz überwiegend Wanderarbeitnehmer
betreffen, sowie unterschiedslos geltende Voraussetzungen, die von
inländischen Arbeitnehmern leichter zu erfüllen sind als
von Wanderarbeitnehmern, oder auch solche, bei denen die Gefahr
besteht, dass sie sich besonders zum Nachteil von
Wanderarbeitnehmern auswirken (EuGH-Urteile Klöppel vom
21.02.2008 - C-507/06, EU:C:2008:110 = SIS 08 16 68, ZESAR 2008, 518, Rz 18;
Kommission/Vereinigtes Königreich vom 14.06.2016 - C-308/14,
EU:C:2016:436, ZESAR 2017, 37 = SIS 16 14 71, Rz 77), sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt sind
und im angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen
(EuGH-Urteile Krah vom 10.10.2019 - C-703/17, EU:C:2019:850, Rz 24;
Thermalhotel Fontana vom 15.06.2023 - C-411/22, EU:C:2023:490,
ZESAR 2023, 443, Rz 37). Dabei ist es Sache des nationalen
Gerichts, auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen zu
beurteilen, ob die Voraussetzungen einer solchen Rechtfertigung
gegeben sind (vgl. EuGH-Urteile Rechtsanwaltskammer Wien vom
15.09.2022 - C-58/21, EU:C:2022:691, ZESAR 2023, 81 = SIS 23 00 95, Rz 75; Sozialministeriumservice
vom 11.04.2024 - C-116/23, EU:C:2024:292, Rz 64).
|
|
|
34
|
(b) Insoweit ist dem Kläger zwar
zuzugestehen, dass das Antragserfordernis des § 67 Satz 1
EStG, an das die Frist des § 66 Abs. 3 EStG a.F.
anknüpft, die Gruppe der Saisonarbeitnehmer unter den
Wanderarbeitnehmern stärker betrifft als
Kindergeldberechtigte, die ihren Wohnsitz dauerhaft im Inland
haben. Bei Saisonarbeitnehmern ohne dauerhaften Wohnsitz im Inland
entfällt der Kindergeldanspruch mit Beendigung ihrer
inländischen Tätigkeit, so dass eine wiederholte
(fristgebundene) Antragstellung erforderlich ist, wenn der
Berechtigte die Voraussetzungen für die Gewährung des
Kindergeldes zu einem späteren Zeitpunkt (Rückkehr ins
Inland in der nächsten Saison) erneut erfüllt. Dieser den
Wanderarbeitnehmer treffende Nachteil ist hingegen geeignet, die
Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten, und
geht nicht über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels
erforderlich ist.
|
|
|
35
|
(aa) Das Kindergeld dient dazu, einen
Einkommensbetrag in Höhe des Kinderexistenzminimums von der
Besteuerung freizustellen. Soweit es dazu nicht erforderlich ist,
dient es der Förderung der Familie (§ 31 Satz 1 und 2
EStG). Der Gesetzgeber hat in den §§ 62 ff. EStG
geregelt, unter welchen Voraussetzungen ein Kindergeldanspruch
besteht und welcher Person dieser Anspruch zusteht. In Fällen
mit grenzüberschreitenden Bezügen ist bei der
Prüfung des Anspruchs auch das in der VO Nr. 883/2004
vorgesehene Koordinierungsverfahren durchzuführen. Die dabei
anzuwendenden Antikumulierungsvorschriften sollen dem
Empfänger der von mehreren Mitgliedstaaten gezahlten
Leistungen einen Gesamtbetrag an Leistungen garantieren, der gleich
dem Betrag der günstigsten Leistung ist, die ihm nach dem
Recht nur eines dieser Staaten zusteht (EuGH-Urteil Familienkasse
Sachsen vom 25.04.2024 - C-36/23, EU:C:2024:355 = SIS 24 08 12, Rz 65, m.w.N.). Sie sollen aber
zugleich auch sachlich nicht zu rechtfertigende Ergebnisse beim
Zusammentreffen von Leistungen und damit Doppelzahlungen in den
verschiedenen Mitgliedstaaten verhindern (vgl.
Erwägungsgründe 12 und 35 zur VO Nr. 883/2004).
|
|
|
36
|
(bb) Die notwendige Antragstellung innerhalb
der im nationalen Recht normierten Sechsmonatsfrist geht auch nicht
über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels erforderlich
ist.
|
|
|
37
|
Der gemäß § 67 Satz 1 EStG zu
stellende Kindergeldantrag leitet das Verwaltungsverfahren ein, in
dessen Verlauf die Familienkassen unter Mitwirkung des
Antragstellers feststellen, ob, für welchen Zeitraum und in
welcher Höhe ein Anspruch auf Kindergeld (Differenzkindergeld)
besteht. Das Antragserfordernis dient dazu, den Familienkassen
diese Prüfung zu ermöglichen und gegebenenfalls das
maßgebende Koordinierungsverfahren (Art. 67, Art. 68 der VO
Nr. 883/2004 und Art. 60 der VO Nr. 987/2009) zu eröffnen.
|
|
|
38
|
Dem Zweck des Kindergeldes entsprechend ist
der Zugang zum Verfahren niederschwellig ausgestaltet (vgl.
Senatsurteile vom 12.10.2023 - III R 38/21, BStBl II 2024, 517 =
SIS 23 20 87, Rz 34 und vom 30.01.2024 - III R 15/23 = SIS 24 07 30, zur amtlichen
Veröffentlichung bestimmt, Rz 38). So genügt es, wenn
sich die Geltendmachung eines Anspruchs auf Kindergeld aus einem
vom Antragsteller herrührenden Schriftstück, zum Beispiel
auch einer einfachen E-Mail, ergibt; dabei muss die Identität
des Antragstellers feststellbar sein und erkennbar sein, dass und
für welche Kinder er Kindergeld begehrt (Senatsurteile vom
12.10.2023 - III R 38/21, BStBl II 2024, 517 = SIS 23 20 87, Rz 35,
37 und vom 30.01.2024 - III R 15/23 = SIS 24 07 30, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz
24, 27). Für Fälle mit grenzüberschreitendem
Sachverhalt erfährt die nach nationalem Recht erforderliche
Antragstellung gemäß § 67 Satz 1 EStG innerhalb der
Sechsmonatsfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. über das oben
dargestellte „Prinzip der europaweiten
Antragsgleichstellung“ und Art. 81 der VO Nr.
883/2004 eine Erleichterung für Wanderarbeitnehmer, die auch
die erforderliche Wiederholung des Antrags bei Aufnahme einer
Saisonarbeit in einem anderen EU-Mitgliedstaat nicht als
unverhältnismäßig erscheinen lässt. Es reicht
nach Art. 81 der VO Nr. 883/2004 aus, wenn der Saisonarbeitnehmer
den grenzüberschreitenden Sachverhalt der entsprechenden
Behörde im Wohnmitgliedstaat innerhalb der Frist anzeigt (vgl.
Senatsurteil vom 14.07.2022 - III R 28/21, BFHE 278, 78, BStBl II
2023, 32 = SIS 22 17 23, Rz 23). Auch die Sprache begründet in
diesem Fall kein Hindernis. Darüber hinaus sind auch die
inländischen Antragsformulare in allen EU-Sprachen aufgelegt
und können so auch im Tätigkeitsstaat verwendet werden.
Nach Art. 76 Abs. 7 der VO Nr. 883/2004 dürfen die nationalen
Behörden Anträge nicht zurückweisen, wenn sie in
einer Amtssprache eines anderen Mitgliedstaats abgefasst sind. Aus
den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und im
Revisionsverfahren daher bindenden Feststellungen des FG (§
118 Abs. 2 FGO) ergeben sich auch keine Hinweise darauf, dass die
Familienkasse Anträge von Wanderarbeitnehmern nicht diesen
Vorgaben entsprechend bearbeitet.
|
|
|
39
|
Schließlich hindern auch etwaige durch
den Auslandsbezug (Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG) bedingte
zeitliche Verzögerungen in der Beibringung von Nachweisen (zum
Beispiel die tatsächliche einkommensteuerrechtliche Behandlung
des Antragstellers nach § 1 Abs. 3 EStG durch das Finanzamt)
die zeitnahe Antragstellung nicht. Die Beibringung von Nachweisen
oder Unterlagen betrifft nur das laufende Verfahren nach
Antragstellung und löst die Sechsmonatsfrist nicht aus.
|
|
|
40
|
Darüber hinaus sind die
Mitwirkungspflichten des Antragstellers in Art. 76 Abs. 4 Unterabs.
3 der VO Nr. 883/2004 selbst angelegt (vgl. auch Art. 3 Abs. 2,
Art. 16 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009). Nach dieser Vorschrift sind
die Betroffenen im Anwendungsbereich der Verordnung verpflichtet,
die Träger des zuständigen Mitgliedstaats und des
Wohnmitgliedstaats so bald wie möglich über jede
Änderung der persönlichen oder familiären Situation
zu unterrichten, die sich auf ihre Leistungsansprüche nach
dieser Verordnung auswirkt. Dass insoweit bei einem
grenzüberschreitenden Sachverhalt die Mitteilungspflichten bei
Saisonarbeitnehmern aus dem EU-Ausland umfangreicher sein
können als bei einem reinen Inlandsfall, liegt aufgrund der
permanenten Änderungen der Verhältnisse in der Natur der
Sache, führt aber nicht zu einer unangemessenen
Benachteiligung. Der Gleichbehandlungsgrundsatz schließt
nicht aus, dass ein Wanderarbeitnehmer unter Umständen
Nachteile hinnehmen muss, die sich aus der unterschiedlichen
Ausgestaltung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben
(EuGH-Urteil Finanzamt Österreich (Familienleistungen für
Entwicklungshelfer) vom 25.11.2021 - C-372/20, EU:C:2021:962, ZESAR
2022, 181 = SIS 21 19 01, Rz 80;
Albrecht Otting in Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, Art. 4 EGV
883/2004, Rz 4, m.w.N.).
|
|
|
41
|
Vor dem Hintergrund des Ziels einer Vermeidung
von Doppelzahlungen und der Feststellung, ob und in welcher
Höhe ein Anspruch auf (Differenz-)Kindergeld besteht, ist der
„Mehraufwand“ der
Wandersaisonarbeitnehmer gerechtfertigt und geht unter
Berücksichtigung der bestehenden Erleichterungen bei der
grenzüberschreitenden Antragstellung nicht über das
hinaus, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
|
|
|
42
|
dd) Die Regelungen des § 66 Abs. 3 EStG
a.F. i.V.m. § 67 Satz 1 EStG verstoßen nicht gegen den
in Art. 45 Abs. 2 AEUV verankerten und in Art. 7 Abs. 2 der
Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 05.04.2011 über die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer innerhalb der Union konkretisierten Grundsatz der
Gleichbehandlung, wonach ein Arbeitnehmer, der
Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet
der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen
Vergünstigungen genießt wie die inländischen
Arbeitnehmer. Insoweit gelten die Ausführungen unter II.1.c cc
entsprechend.
|
|
|
43
|
ee) § 66 Abs. 3 EStG a.F. ist - entgegen
der Auffassung des Klägers - nicht an Art. 18 AEUV zu messen.
Diese Vorschrift kann in eigenständiger Weise nur auf
unionsrechtlich geregelte Sachverhalte angewendet werden, für
die der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen
Union keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht. Der
Grundsatz der Nichtdiskriminierung wurde für den Bereich der
sozialen Sicherheit jedoch unter anderem durch Art. 45 AEUV und
durch Art. 4 der VO Nr. 883/2004 umgesetzt (EuGH-Urteil
Sozialministeriumservice vom 11.04.2024 - C-116/23, EU:C:2024:292,
Rz 47 f.).
|
|
|
44
|
ff) Mit der Anwendung des Art. 81 der VO Nr.
883/2004 im Rahmen der nationalen Regelung des § 66 Abs. 3
EStG a.F. wird der vom Senat festgestellten Unionsrechtslage auch
in verfahrensrechtlicher Hinsicht vollständig Rechnung
getragen. Insbesondere werden sowohl der
Effektivitätsgrundsatz als auch das Äquivalenzprinzip
gewahrt.
|
|
|
45
|
Mangels einschlägiger Unionsregeln ist es
nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der
innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die
verfahrensrechtlichen Modalitäten festzulegen, vorausgesetzt
allerdings, dass diese bei unter das Unionsrecht fallenden
Sachverhalten nicht ungünstiger sind als diejenigen, die
gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht
unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die
Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht
praktisch unmöglich machen oder übermäßig
erschweren - Effektivitätsgrundsatz - (EuGH-Urteile
Österreichische Post vom 04.05.2023 - C-300/21, EU:C:2023:370,
DB 2023, 1280 = SIS 23 12 27, Rz 53; Pasquini vom 19.06.2003 -
C-34/02, EU:C:2003:366; vgl. auch Art. 76 Abs. 5 Satz 2 der VO Nr.
883/2004).
|
|
|
46
|
Eine Verletzung dieser Grundsätze kann
der Senat nicht erkennen (vgl. EuGH-Urteil Chief Appeals Officer
u.a. vom 29.09.2022 - C-3/21, EU:C:2022:737 = SIS 24 18 46, Rz 45
zum Effektivitätsgrundsatz). Insoweit wird auf die unter
II.1.c bb dargelegten Ausführungen verwiesen.
|
|
|
47
|
d) § 66 Abs. 3 EStG a.F. i.V.m. § 67
EStG ist auch nicht verfassungswidrig.
|
|
|
48
|
aa) Soweit das Kindergeld dem Schutz des
Kinderexistenzminimums (Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Art. 6
Abs. 1 GG) dient (§ 31 Satz 1 EStG), ist zunächst darauf
hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) schon zu
der früher geltenden, durch das Jahressteuergesetz 1996 vom
11.10.1995 (BGBl I 1995, 1250) eingeführten Ausschlussfrist
des § 66 Abs. 3 EStG entschieden hat, dass dieser Schutz vom
Gesetzgeber zulässigerweise primär über die
Freibetragsregelungen des § 32 Abs. 6 EStG gewährleistet
wird (Beschluss vom 06.11.2003 - 2 BvR 1240/02, HFR 2004, 260,
unter III.1.b). Durch die Rechtsprechung des Senats (Urteil vom
26.05.2021 - III R 50/19, BFHE 273, 462, BStBl II 2022, 58 = SIS 21 18 61) ist zudem sichergestellt, dass bei der Prüfung der
Steuerfreistellung und der Hinzurechnung nach § 31 Satz 4 EStG
a.F. (ab 18.07.2019 gesetzlich geregelt in § 31 Satz 5 EStG)
der Anspruch auf Kindergeld für Kalendermonate
unberücksichtigt bleibt beziehungsweise nur in Höhe von 0
EUR angesetzt wird, in denen durch Bescheid der Familienkasse ein
Anspruch auf Kindergeld nach § 66 Abs. 3 EStG a.F.
ausgeschlossen ist. Soweit das Kindergeld der Förderung der
Familien dient (§ 31 Satz 2 EStG), verstößt die
Ausschlussfrist nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, vielmehr liegt die
Einführung einer Ausschlussfrist innerhalb des
Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers (BVerfG-Beschluss vom
06.11.2003 - 2 BvR 1240/02, HFR 2004, 260, unter III.2.;
Senatsbeschluss vom 22.09.2022 - III R 21/21, BFHE 278, 201, BStBl
II 2023, 249 = SIS 22 19 41, Rz 16 f., m.w.N.; Senatsurteil vom
09.09.2020 - III R 37/19, BFH/NV 2021, 449 = SIS 21 01 97, Rz 12
ff.).
|
|
|
49
|
bb) Soweit der Kläger darauf verweist,
dass inländische Eltern im Vergleich zu Personen, die von
ihrem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch machen und
als Saisonarbeiter in einem anderen Mitgliedstaat tätig sind,
unter Verstoß gegen Art. 3 GG ungleich behandelt würden,
da Erstere im Regelfall nur einen Kindergeldantrag bei der Geburt
des Kindes stellen müssten, während Letztere
gegebenenfalls mehrere Anträge pro Jahr einzureichen
hätten, übersieht er, dass die von ihm bezeichneten
Vergleichsgruppen einen wesentlichen Unterschied aufweisen und
daher nicht vergleichbar sind. Dieser Unterschied liegt in der
(gegebenenfalls wiederholten) Änderung der persönlichen
Verhältnisse, die den Kindergeldanspruch beeinflussen.
|
|
|
50
|
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135
Abs. 2 FGO.
|
|
|
|