Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der
Beschluss des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 28.03.2024
- 9 V 123/23 dahin geändert, dass Aussetzung der Vollziehung
des Bescheids über die Festsetzung von Aussetzungszinsen vom
27.06.2023 betreffend Aussetzungszinsen zur Einkommensteuer
für 2002 und Solidaritätszuschlag für 2002 jeweils
für den Zeitraum vom 01.01.2019 bis 27.03.2023 in Höhe
von 34.956,25 EUR und in Höhe von 1.916,25 EUR gewährt
wird.
Im Übrigen wird die Beschwerde des
Antragstellers als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens haben der
Antragsteller zu 79 Prozent und der Antragsgegner zu 21 Prozent zu
tragen.
1
|
I. Die Beteiligten streiten über die
Rechtmäßigkeit der Festsetzung von
Aussetzungszinsen.
|
|
|
2
|
Der Antragsteller und Beschwerdeführer
(Antragsteller) erzielte in den Jahren 2001 und 2002 aus der
Veräußerung einer Unternehmensbeteiligung Einnahmen in
sechsstelliger Höhe, über deren steuerrechtliche
Einordnung zwischen den Beteiligten Streit bestand.
|
|
|
3
|
Das Einspruchsverfahren betreffend die
Einkommensteuerfestsetzung für 2001 wurde für die Dauer
des gegen den Einkommensteuerbescheid für 2002 unter dem
Aktenzeichen 9 K 174/13 beim Niedersächsischen Finanzgericht
(FG) geführten Klageverfahren ausgesetzt.
|
|
|
4
|
Auf Antrag des Antragstellers gewährte
der Antragsgegner und Beschwerdegegner (Finanzamt - FA - ) mit
Bescheiden vom 08.07.2008, 15.09.2011 und 05.08.2013 Aussetzung der
Vollziehung (AdV) des Einkommensteuerbescheids für
2002.
|
|
|
5
|
Am 27.02.2023 ist in dem Klageverfahren 9 K
174/13 wegen Einkommensteuer 2002 ein Erörterungstermin
durchgeführt worden. In diesem unterbreitete der damalige
Berichterstatter den Beteiligten einen
Verständigungsvorschlag. In dem Sitzungsprotokoll heißt
es hierzu:
|
|
|
|
„Nach eingehender Erörterung der
Sach- und Rechtslage schlägt der Vorsitzende folgende
Verständigung unter Einschluss des nicht im Streit
befindlichen Jahres 2001 vor: Der Kläger nimmt die Klage
für das Streitjahr 2002 zurück. Der Beklagte verpflichtet
sich den geänderten Einkommensteuerbescheid 2001 vom
17.12.2007 dergestalt zu ändern, dass nurmehr die bislang
nicht der Besteuerung unterworfenen Zinsen in Höhe von 17.144
DM versteuert werden.
|
|
|
|
Der Erörterungstermin wurde für
eine Zwischenberatung der Beteiligten um 13:50 Uhr
unterbrochen.
|
|
|
|
Der Erörterungstermin wurde um 14:05
Uhr fortgesetzt.
|
|
|
|
Die Beteiligten erklären sodann, dass
sie den Rechtsstreit und die Gesamtangelegenheit unter Einschluss
des Steuerjahres 2001 einvernehmlich im Sinne des Vorschlags des
Vorsitzenden regeln wollen.
|
|
|
|
Die Vertreterin des Beklagten
erklärt:
|
|
|
|
Hiermit verpflichte ich mich, den
geänderten Einkommensteuerbescheid 2001 vom 17.12.2007
dergestalt zu ändern, dass nur noch die Kapitaleinkünfte,
die nacherklärt worden sind, in Höhe von 17.144 DM
steuerlich erfasst werden.
|
|
|
|
Im Hinblick auf diese Verpflichtung
erklärt der Kläger:
|
|
|
|
Hiermit nehme ich die Klage in Sachen 9 K
174/13 zurück.“
|
|
|
6
|
In ihrem Ergebnisprotokoll des
Erörterungstermins notierte die Vertreterin des FA unter
anderem zu den Aussetzungszinsen: „Es wurde sodann noch
über die Festsetzung der Zinsen nach § 233a und der
zukünftigen Festsetzung der Aussetzungszinsen gesprochen. [Der
Prozessbevollmächtigte] erklärte, dass man über
einen Erlass nachdenken könnte. Diesem widersprachen wir
vehement. Es gibt keinen Grund an der Festsetzung von AdV-Zinsen
nicht festzuhalten. Der Kläger wurde mehrmals auf die
Problematik hingewiesen. Der Kläger und seine Berater zogen
sich zur Beratung zurück. Nach Wiedereröffnung
erklärte der Kläger, dass er der vorgeschlagenen Regelung
zustimme.“
|
|
|
7
|
Am 23.03.2023 erließ das FA einen
geänderten Einkommensteuerbescheid für 2001, der
ausweislich des Erläuterungsteils des Bescheids die
„Vereinbarungen laut
Erörterungstermin“ umsetzen
sollte.
|
|
|
8
|
Unter Hinweis auf die vom Antragsteller im
Erörterungstermin erklärte Klagerücknahme
hinsichtlich des Einkommensteuerbescheids 2002 setzte das FA mit
Bescheid vom 27.06.2023 Aussetzungszinsen nach § 237 der
Abgabenordnung (AO) zur Einkommensteuer 2002 und zum
Solidaritätszuschlag 2002 jeweils nach dem Zinssatz von
einhalb Prozent je vollem Monat für die Zeit vom 22.01.2008
bis zum 26.10.2011 für 45 Monate in Höhe von 35.673,75
EUR (für Einkommensteuer) und 1.957,50 EUR (für
Solidaritätszuschlag), für die Zeit vom 27.10.2011 bis
zum 15.08.2013 für 21 Monate in Höhe von 16.553,25 EUR
(für Einkommensteuer) und 908,25 EUR (für
Solidaritätszuschlag) sowie für die Zeit vom 16.08.2008
bis zum 27.03.2023 für 115 Monate in Höhe von 114.856,25
EUR (für Einkommensteuer) und 6.296,25 EUR (für
Solidaritätszuschlag) und damit in Höhe von insgesamt
176.245,25 EUR fest.
|
|
|
9
|
Gegen diesen Bescheid legte der
Antragsteller Einspruch ein und begehrte AdV. Das FA lehnte den
Antrag auf AdV mit Bescheid vom 21.08.2023 ab; über den
Einspruch ist noch nicht entschieden.
|
|
|
10
|
Den daraufhin gemäß § 69
der Finanzgerichtsordnung (FGO) erhobenen Antrag auf gerichtliche
AdV hat das FG mit Beschluss vom 28.03.2024 - 9 V 123/23
abgelehnt.
|
|
|
11
|
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit
der vom FG zugelassenen Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen
hat.
|
|
|
12
|
Er beantragt
(sinngemäß),
|
|
unter Aufhebung des Beschlusses des FG den
Bescheid vom 27.06.2023 betreffend die Festsetzung von
Aussetzungszinsen in voller Höhe von der Vollziehung
auszusetzen.
|
|
|
13
|
Das FA beantragt,
|
|
die Beschwerde zurückzuweisen.
|
|
|
14
|
II. Die gemäß § 128 Abs. 3 FGO
zulässige Beschwerde des Antragstellers ist (lediglich)
insoweit begründet, als AdV hinsichtlich der für den
Zeitraum vom 01.01.2019 bis 27.03.2023 festgesetzten
Aussetzungszinsen betreffend die Einkommensteuer für 2002 und
Solidaritätszuschlag für 2002 in Höhe eines
Differenzzinssatzes von 0,35 Prozent je Monat zu gewähren ist.
Der Beschluss des FG, das die AdV des Bescheids über die
Festsetzung von Aussetzungszinsen vom 27.06.2023 abgelehnt hat, ist
deshalb in dem tenorierten Umfang zu ändern. Im Übrigen
ist die Beschwerde des Antragstellers unbegründet.
|
|
|
15
|
1. Nach § 128 Abs. 3 i.V.m. § 69
Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines
angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise auszusetzen, wenn
ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen
oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige
Härte zur Folge hätte.
|
|
|
16
|
Ernstliche Zweifel im Sinne von § 69 Abs.
2 Satz 2 FGO liegen bereits dann vor, wenn bei summarischer
Prüfung des angefochtenen Bescheids neben für seine
Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige
Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit
in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der
Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken. Die
Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren
gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der
sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt. Zur
Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für
die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer
Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen. Ernstliche Zweifel
können auch verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich einer
dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein
(ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom 28.10.2022
- VI B 15/22 (AdV), BFHE 278, 27, BStBl II 2023, 12 = SIS 22 19 76,
m.w.N.).
|
|
|
17
|
2. Nach § 237 Abs. 1 Satz 1 AO ist,
soweit ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage gegen einen
Steuerbescheid, eine Steueranmeldung oder einen Verwaltungsakt, der
einen Steuervergütungsbescheid aufhebt oder ändert, oder
gegen eine Einspruchsentscheidung über einen dieser
Verwaltungsakte endgültig keinen Erfolg gehabt hat, der
geschuldete Betrag, hinsichtlich dessen die Vollziehung des
angefochtenen Verwaltungsakts ausgesetzt wurde, zu verzinsen.
Für den Zinslauf bestimmt § 237 Abs. 2 AO, dass Zinsen
vom Tag des Eingangs des außergerichtlichen Rechtsbehelfs bei
der Behörde, deren Verwaltungsakt angefochten wird, oder vom
Tag der Rechtshängigkeit beim Gericht an bis zum Tag, an dem
die AdV endet, erhoben werden. Ist die Vollziehung erst nach dem
Eingang des außergerichtlichen Rechtsbehelfs oder erst nach
der Rechtshängigkeit ausgesetzt worden, so beginnt die
Verzinsung mit dem Tag, an dem die Wirkung der AdV beginnt. Die
Zinsen betragen für jeden Monat einhalb Prozent (§ 238
Abs. 1 Satz 1 AO). Sie sind von dem Tag an, an dem der Zinslauf
beginnt, nur für volle Monate zu zahlen; angefangene Monate
bleiben außer Ansatz (§ 238 Abs. 1 Satz 2 AO).
|
|
|
18
|
3. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall
bei der gebotenen summarischen Prüfung vor. Durch die
Klagerücknahme in dem Verfahren 9 K 174/13 wegen
Einkommensteuer für 2002, dessen Bescheid von der Vollziehung
ausgesetzt war, ist die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage
endgültig erfolglos geblieben. Die für 2002 geschuldete
Einkommensteuer nebst Solidaritätszuschlag war daher zu
verzinsen.
|
|
|
19
|
a) Entgegen der Auffassung des Antragstellers
hat das FG zu Recht entschieden, dass der vorliegende „innere
Zusammenhang mit dem Steuerjahr 2001“ im
Hinblick auf die Festsetzung von Aussetzungszinsen keine
Gesamtbetrachtung der Jahre 2001 und 2002 verlangt. Eine solche
Vorgehensweise ist im Gesetz nicht angelegt. Vielmehr knüpft
der Gesetzesbefehl des § 237 Abs. 1 und 2 AO nach seinem
Wortlaut eindeutig an den konkret von der Vollziehung ausgesetzten
Verwaltungsakt - hier den im Verfahren 9 K 174/13 erfolglos
angefochtenen Einkommensteuerbescheid für 2002 - an.
|
|
|
20
|
b) Ob der „innere tatsächliche
Zusammenhang zwischen den Steuerjahren 2001 und
2002“ gegebenenfalls in einem
Billigkeitsverfahren über den Zinsverzicht zu
berücksichtigen ist, bleibt diesem Verfahren vorbehalten. Die
Frage konnte daher im finanzgerichtlichen Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes nach § 69 FGO, wie das FG
ebenfalls zu Recht ausgeführt hat, dahinstehen. Entsprechendes
gilt im vorliegenden Beschwerdeverfahren.
|
|
|
21
|
c) Schließlich ist auch die
Würdigung des FG, nach der die Beteiligten im
Erörterungstermin weder einen Verzicht auf die
streitgegenständlichen Aussetzungszinsen nach § 237 Abs.
4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO noch einen dahingehenden
(synallagmatischen) „Vertrag“ vereinbart
haben, nicht zu beanstanden. Gleiches gilt, soweit das FG darauf
erkannt hat, dass das FA keine entsprechende
Billigkeitsmaßnahme zugesagt oder sich zu einer solchen auf
andere Art und Weise (zum Beispiel nach Treu und Glauben)
verpflichtet hat oder die Beteiligten eine anderweitige Regelung
über die streitgegenständlichen Aussetzungszinsen
getroffen haben.
|
|
|
22
|
4. Gleichwohl ist die Vollziehung des
Bescheids über die Festsetzung von Aussetzungszinsen vom
27.06.2023 - wenn auch nur - in dem tenorierten Umfang
auszusetzen.
|
|
|
23
|
a) Dies ist dem Umstand geschuldet, dass der
VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) dem Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) mit - zur amtlichen Veröffentlichung bestimmten -
Beschluss vom 08.05.2024 - VIII R 9/23 = SIS 24 13 45 die Frage zur Entscheidung
vorgelegt hat, ob § 237 i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO
seit dem 01.01.2019 bis zum 15.04.2021 insoweit mit dem Grundgesetz
(GG) vereinbar ist, als der Zinsberechnung für die Zinsen bei
AdV ein Zinssatz von einhalb Prozent pro Monat zugrunde gelegt
wird.
|
|
|
24
|
Allerdings rechtfertigt dieser Beschluss die
AdV des angefochtenen Zinsbescheids nur in dem vorgenannten
(tenorierten) Umfang. Denn die vom VIII. Senat des BFH
angeführten Argumente im Hinblick auf die
Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe
(Niedrigzinsphase/Ungleichbehandlung im Vergleich zu den
Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO in Höhe von
nur noch 0,15 Prozent pro Monat) greifen letztlich nur im Hinblick
auf die gesetzliche Spreizung der Zinssätze bei AdV-Zinsen und
Nachzahlungszinsen und damit in Höhe von 0,35 Prozent für
jeden Monat. Zugleich zielen sie zeitlich jedoch über die
Zinsfestsetzung bis zum 15.04.2021 hinaus, so dass die AdV
jedenfalls vorliegend - unabhängig von der Frage, zu welchem
Zeitpunkt genau die Niedrigzinsphase geendet hat - vom 01.01.2019
bis zum Ende des streitigen Zinszeitraums - hier 27.03.2023 - zu
gewähren ist.
|
|
|
25
|
b) Ob AdV bei ernstlichen Zweifeln an der
Verfassungsmäßigkeit eines formell
ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes
grundsätzlich nur gewährt werden kann, wenn der
Antragsteller hieran ein besonderes berechtigtes
(Aussetzungs-)Interesse hat (z.B. BFH-Beschlüsse vom
10.02.1984 - III B 40/83, BFHE 140, 396, BStBl II 1984, 454 = SIS 84 04 01; vom 01.04.2010 - II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II
2010, 558 = SIS 10 08 14; vom 09.03.2012 - VII B 171/11, BFHE 236,
206, BStBl II 2012, 418 = SIS 12 07 39 sowie vom 15.04.2014 - II B
71/13 = SIS 14 32 49), bedarf im
Streitfall keiner Entscheidung. Denn das Vorliegen eines solchen
wird insbesondere bejaht, wenn - wie vorliegend - der BFH die vom
Antragsteller als verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits
dem BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung der
Verfassungsmäßigkeit vorgelegt hat (z.B. BFH-Beschluss
vom 01.04.2010 - II B 168/09; BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558 =
SIS 10 08 14, Rz 10, m.w.N.).
|
|
|
26
|
c) Danach ermittelt sich der auszusetzende
Betrag wie folgt:
|