Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil
des Finanzgerichts Münster vom 23.03.2023 - 5 K 232/18 U =
SIS 23 08 32 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht
Münster zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die
Kosten des Verfahrens übertragen.
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I. Unternehmensgegenstand der
Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin), einer GmbH &
Co. KG, ist der Handel sowie das Erwerben, Verwalten und Vermieten
von Geräten aller Art. Gesellschafter der Klägerin waren
im Jahr 2016 (Streitjahr) als Komplementärin die BVB-GmbH, die
ab 17.10.2016 als TLVB-GmbH firmierte, und als einzige
Kommanditistin die JB-GmbH & Co. KG. Alleingesellschafter der
BVB-GmbH - der späteren TLVB-GmbH - war BS, der neben BJ und
MB auch einzelvertretungsberechtigter Geschäftsführer
dieser GmbH war.
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Mit Vertrag vom 26.02.2016
veräußerten die Kommanditisten der JB-KG ihre
Gesellschaftsanteile an die BS-GmbH. Zudem beschloss die
Gesellschafterversammlung der JB-KG am 27.02.2016, dass deren
Komplementär-GmbH aus der JB-KG austrat, so dass das
Vermögen der JB-KG im Wege der Anwachsung auf die BS-GmbH
überging. Die Gesellschafterversammlung der BS-GmbH beschloss
am 13.10.2016 die Umfirmierung in TL-GmbH. Gesellschafter der
BS-GmbH - der späteren TL-GmbH - waren im Streitjahr BS mit
einer Beteiligung am Stammkapital von 90 % sowie BJ und MB mit
einer Beteiligung von jeweils 5 %. Einzelvertretungsberechtigte
Geschäftsführer der TL-GmbH waren BJ und MB. Im Jahr 2017
wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der
TL-GmbH eröffnet.
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Aufgrund eines Vertrags vom 12.06.2016
erwarb die Klägerin von der BS-GmbH - der späteren
TL-GmbH - Fahrzeuge zu einem Gesamtkaufpreis in Höhe von
4.061.720,31 EUR, zuzüglich Umsatzsteuer in Höhe von
771.726,86 EUR, zahlbar in 28 gleichen jährlichen Raten.
Hierüber erteilte die BS-GmbH - die spätere TL-GmbH - der
Klägerin eine Rechnung vom 13.06.2016, die Umsatzsteuer in
Höhe von 771.726,86 EUR auswies.
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In ihrer Umsatzsteuer-Voranmeldung für
das zweite Kalendervierteljahr 2016 erklärte die Klägerin
Umsätze aus dem Verkauf von zwei Fahrzeugen und machte als
Vorsteuer nur den in der Rechnung vom 13.06.2016 ausgewiesenen
Vorsteuerbetrag geltend, was zu einem Überschuss zu ihren
Gunsten führte. Im Anschluss an eine
Umsatzsteuer-Sonderprüfung erließ der Beklagte und
Revisionskläger (Finanzamt - FA - ) einen
Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheid für das zweite
Kalendervierteljahr 2016, in dem er die Umsatzsteuer auf 16.150 EUR
festsetzte. Den geltend gemachten Vorsteuerabzug erkannte es nicht
an, weil das zugrunde liegende Rechtsgeschäft
rechtsmissbräuchlich zustande gekommen sei. Den hiergegen
eingelegten Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom
23.01.2017 als unbegründet zurück.
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Mit dem Umsatzsteuerjahresbescheid 2016 vom
06.10.2017 schätzte das FA die Bemessungsgrundlage für
regelbesteuerte Umsätze der Klägerin auf 450.000 EUR und
setzte demgemäß Umsatzsteuer in Höhe von 85.500 EUR
fest. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Einspruch ein
und gab zugleich eine Jahressteuererklärung ab, in der sie
Umsätze in Höhe von 636.450 EUR zum Regelsteuersatz
erklärte und erneut einen Vorsteuerbetrag in Höhe von
771.726,86 EUR geltend machte. Der Einspruch gegen den
Umsatzsteuerjahresbescheid 2016 blieb erfolglos.
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Während des gegen den
Umsatzsteuerjahresbescheid 2016 gerichteten Klageverfahrens lud das
Finanzgericht (FG) den damaligen Insolvenzverwalter der TL-GmbH zu
dem Verfahren bei. Nachdem dieser die Rechnung vom 13.06.2016
storniert hatte, machte die Klägerin unter Bezugnahme auf das
Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH)
Finanzamt für Körperschaften Berlin vom 15.04.2021 -
C-868/19, EU:C:2021:285 = SIS 21 05 99 geltend, der Umsatzsteuerjahresbescheid 2016 sei
ersatzlos aufzuheben, da zwischen ihr als Organgesellschaft und der
TL-GmbH als Organträgerin im Streitjahr eine Organschaft
bestanden habe.
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Mit dem in EFG 2023, 873 = SIS 23 08 32 veröffentlichten Urteil gab
das FG der Klage, die zunächst auf die Festsetzung eines zu
vergütenden Steuerbetrags gerichtet war und sodann auf die
Aufhebung des Umsatzsteuerjahresbescheids 2016 beschränkt
wurde, statt, da die Klägerin Organgesellschaft der TL-GmbH
als Organträgerin gewesen sei. Die Voraussetzungen einer
Organschaft im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 des
Umsatzsteuergesetzes (UStG) lägen vor. Auf der Grundlage des
EuGH-Urteils Finanzamt für Körperschaften Berlin vom
15.04.2021 - C-868/19, EU:C:2021:285 = SIS 21 05 99 sei die Klägerin trotz ihrer
Rechtsform als KG finanziell in das Unternehmen der TL-GmbH
eingegliedert. Ihre wirtschaftliche Eingliederung ergebe sich
daraus, dass sie im Streitjahr „im Rahmen des Handels mit den
Fahrzeugen/der Veräußerung der
Fahrzeuge“ eingebunden gewesen und damit im
Rahmen des „Gesamtunternehmens“ in einem
engen wirtschaftlichen Zusammenhang mit der TL-GmbH tätig
geworden sei. Auch die Voraussetzungen der organisatorischen
Eingliederung lägen vor.
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Hiergegen wendet sich das FA mit seiner
Revision, die es auf die Verletzung materiellen Rechts stützt.
Nach Maßgabe des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom
02.12.2015 - V R 25/13 (BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547 = SIS 16 00 91) sei das Vorliegen einer Organschaft zu verneinen.
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Das FA beantragt,
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das Urteil des FG aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Revision als unbegründet
zurückzuweisen.
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Sie verteidigt die Entscheidung der
Vorinstanz. Der BFH habe mit Urteil vom 16.03.2023 - V R 14/21 (V R
45/19) (BFHE 280, 89 = SIS 23 05 84) sein früheres Urteil vom
02.12.2015 - V R 25/13 (BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547 = SIS 16 00 91) aufgegeben. Das sich aus dem BFH-Urteil vom 16.03.2023 - V R
14/21 (V R 45/19) (BFHE 280, 89 = SIS 23 05 84) ergebende
Erfordernis einer Antragstellung durch den Insolvenzverwalter sei
unbeachtlich, da der angefochtene Steuerbescheid - anders als in
der vom BFH entschiedenen Fallgestaltung - nie formell
bestandskräftig geworden sei. Der Klägerin könne
auch im Hinblick auf die seit langer Zeit bekannte
Unionsrechtswidrigkeit der nationalen Regelung zur Organschaft
nicht entgegengehalten werden, sie hätte die TL-GmbH zur
Stellung eines Änderungsantrags
„motivieren“ müssen. Im
Übrigen führe das Antragserfordernis zu einer
Ungleichbehandlung von Personen- und Kapitalgesellschaften, die -
genau wie die fehlende Erkennbarkeit des Antragserfordernisses -
unionsrechtliche Fragen aufwerfe, die nur durch eine EuGH-Vorlage
geklärt werden könnten.
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Während des Revisionsverfahrens hat
der Senat den Beschluss über die Beiladung des während
des Revisionsverfahrens verstorbenen Insolvenzverwalters aufgehoben
und die für das Insolvenzverfahren der TL-GmbH neu bestellte
Insolvenzverwalterin zum Verfahren beigeladen. Diese hat - wie der
zuvor beigeladene Insolvenzverwalter - keinen Antrag
gestellt.
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Am 29.08.2024 hat die Klägerin nach
dem Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz vom
22.12.2020 - StaRUG - (BGBl I 2020, 3256) für die
Inanspruchnahme der Instrumente des Stabilisierungs- und
Restrukturierungsrahmens das Restrukturierungsvorhaben beim
Restrukturierungsgericht angezeigt und diesem am 03.09.2024 einen
Restrukturierungsplan übermittelt.
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II. Die Revision des FA ist
begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und die Sache zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG
zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FG, das das bei seiner
Entscheidung noch nicht veröffentlichte BFH-Urteil vom
16.03.2023 - V R 14/21 (V R 45/19) (BFHE 280, 89 = SIS 23 05 84)
nicht berücksichtigen konnte, hat entgegen dieser Entscheidung
zu Unrecht einen Anspruch auf Aufhebung der gegenüber der
Klägerin ergangenen Steuerfestsetzung im Hinblick auf deren
Stellung als Organgesellschaft bejaht. Die Sache ist nicht
spruchreif.
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1. Der Rechtsstreit wurde nicht
gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 38 Satz 1
StaRUG und § 240 Satz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) durch
die Anzeige des Restrukturierungsvorhabens der Klägerin
gemäß § 31 Abs. 1 StaRUG, mit der die
Restrukturierungssache beim Restrukturierungsgericht
rechtshängig wurde (§ 31 Abs. 3 StaRUG), unterbrochen.
§ 240 Satz 2 ZPO ist nicht entsprechend auf Maßnahmen
nach dem Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz
anwendbar (Blankenburg in Morgen, StaRUG, 2. Aufl., § 38 Rz
47; Zöller/Greger, ZPO, 35. Aufl., § 240 Rz 5; BeckOK
StaRUG/Kramer, 6. Ed. [01.10.2022], StaRUG § 38 Rz 36). Da die
Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache lediglich die
Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Instrumente des
Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens ist (§ 31 Abs. 1
StaRUG) und im Übrigen Sorgfalts- (§ 32 Abs. 1 StaRUG),
Unterlassungs- (§ 22 Abs. 1 StaRUG) und Anzeigepflichten
(§ 32 Abs. 2 bis 4, § 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG) beim
Schuldner auslöst, führt sie zu keiner mit § 240
Satz 2 ZPO vergleichbaren Lage, die durch den Übergang der
Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das zur
Insolvenzmasse gehörende Vermögen (§ 21 Abs. 1 der
Insolvenzordnung - InsO - ) gekennzeichnet ist. Da im Streitfall
keine Stabilisierungsmaßnahme (§ 29 Abs. 2 Nr. 3 StaRUG)
in Form der Vollstreckungssperre (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG)
angeordnet wurde, kann offenbleiben, ob die Richtlinie (EU)
2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
20.06.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen,
über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie
über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von
Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur
Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Amtsblatt der
Europäischen Union Nr. L 172 vom 26.06.2019, S. 18) die
Anwendung von § 240 Satz 2 ZPO auf Vollstreckungssperren
verlangt (so Skauradszun, Zeitschrift für Restrukturierung und
Insolvenz 2020, 404, 404 ff.; Schönfelder in Flöther,
Sanierungsrecht, 2019, F. Rz 64; a.A. Boss/Luttmann in Morgen,
StaRUG, 2. Aufl., § 49 Rz 38; Riggert in Braun, StaRUG, 2021,
§ 49 Rz 3; Schönen/Bender in Seibt/Westpfahl, StaRUG,
2022, § 49 Rz 4; Undritz/Knof in HambKomm/RestruktR, 3. Aufl.,
§ 49 StaRUG Rz 44).
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2. Ist eine KG entsprechend dem Urteil des FG
aufgrund geänderter BFH-Rechtsprechung als Organgesellschaft
anzusehen, setzt die Aufhebung einer gegenüber der KG
ergangenen Steuerfestsetzung voraus, dass der Organträger zur
Vermeidung eines widersprüchlichen Verhaltens in Bezug auf
§ 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO) einen Antrag
auf Änderung der für ihn vorliegenden Steuerfestsetzung
stellt (BFH-Urteil vom 16.03.2023 - V R 14/21 (V R 45/19), BFHE
280, 89 = SIS 23 05 84, Rz 20; zustimmend z.B. Jacobs, UR 2023,
409).
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a) Der Senat hat dies mit dem im jeweiligen
„Steuerrechtsverhältnis“ zu
beachtenden Grundsatz von Treu und Glauben begründet, wobei
dieses bei Bejahung von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG zum
Organträger als Steuerschuldner und Steuerpflichtigen besteht
und sich auf die Organgesellschaft als Bestandteil dieses
Steuerrechtsverhältnisses erstreckt (BFH-Urteil vom 16.03.2023
- V R 14/21 (V R 45/19), BFHE 280, 89 = SIS 23 05 84, Rz 20
ff.).
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b) Der Senat hält hieran weiter fest.
Zwar wird hierzu eingewendet, dass es für die Bestimmung des
maßgeblichen Steuerrechtsverhältnisses auf ein
Steuerschuldverhältnis im Sinne von § 33 Abs. 1 AO
ankomme, wobei dieses nicht „mit einem materiell-rechtlichen
Steuersubjekt [i.S. des] § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG
gleichzusetzen“ sei (Luther/von Cölln,
Zeitschrift für das gesamte Mehrwertsteuerrecht 2023, 674,
677). Allerdings ist gemäß § 33 Abs. 1 AO
Steuerpflichtiger, wer eine Steuer schuldet, was sich nach den
Einzelsteuergesetzen richtet (§ 43 Satz 1 AO; BFH-Urteil vom
26.08.2021 - V R 13/20, BFHE 273, 364 = SIS 21 15 89, Rz 16; vgl.
auch Drüen in Tipke/Kruse, § 33 AO Rz 4 und Schindler in
Gosch, AO § 33 Rz 9). Nach dem damit bei Bestehen einer
umsatzsteuerlichen Organschaft maßgeblichen § 2 Abs. 2
Nr. 2 UStG kommt der Organgesellschaft - anders als im
Körperschaftsteuerrecht - gerade keine
Steuerrechtsfähigkeit zu (BFH-Urteil vom 11.12.2019 - XI R
16/18, BFHE 268, 240 = SIS 20 02 82, Rz 47; BFH-Beschluss vom
07.05.2020 - V R 40/19, BFHE 270, 166 = SIS 20 06 63, Rz 17; vgl.
auch Schindler in Gosch, AO § 33 Rz 41).
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Selbst wenn Steuerschuldner (auch) derjenige
wäre, gegen den eine Steuer zu Unrecht festgesetzt worden ist
(Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 33 AO Rz 3b und
Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 33 Rz 25, die
hierfür auf das BFH-Urteil vom 26.08.2021 - V R 13/20, BFHE
273, 364 = SIS 21 15 89, Rz 17, zur allerdings anders gelagerten
Problematik bei § 166 AO verweisen), ist - vorbehaltlich des
im Streitfall nicht einschlägigen Falls der unanfechtbaren
rechtswidrigen Festsetzung (vgl. hierzu BeckOK AO/Hennigfeld, 28.
Ed. [15.04.2024], AO § 43 Rz 22) - zu beachten, dass sich die
vorliegend geltend gemachte - und sich aus dem Fehlen eines
eigenständigen Steuerrechtsverhältnisses ergebende -
Rechtswidrigkeit der gegenüber der Organgesellschaft
ergangenen Steuerfestsetzung ausschließlich aus dem mit dem
Organträger bestehenden Steuerrechtsverhältnis ableitet,
das sich seinerseits auf die Organgesellschaft - als dessen
Bestandteil - erstreckt (BFH-Urteil vom 16.03.2023 - V R 14/21 (V R
45/19), BFHE 280, 89 = SIS 23 05 84, Rz 23). Diese auf dasselbe
Steuerrechtsverhältnis bezogene Spiegelbildlichkeit erfordert
eine sowohl auf Organträger als auch auf Organgesellschaft
bezogene Betrachtung von Treu und Glauben.
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Bestätigt wird das Antragserfordernis
durch die in § 73 Satz 1 AO angeordnete Haftung, die entgegen
der vorstehenden Kritik bei Verzicht auf ein Antragserfordernis
leerliefe, da sie zwar - wie sich aus § 191 Abs. 5 Satz 1 Nr.
1 AO ergibt - keine Steuerfestsetzung gegenüber dem
Organträger, aber eine diesem gegenüber zumindest
festsetzbare Steuerschuld voraussetzt, an der es grundsätzlich
fehlen würde, wenn dieser sich auf Vertrauensschutz in Bezug
auf eine aufgegebene höchstrichterliche Rechtsprechung berufen
könnte. Da der Haftungsschuldner höchstens die Steuer
schuldet, die gegen den Steuerschuldner festgesetzt worden ist oder
werden kann (Klein/Rüsken, AO, 17. Aufl., § 191 Rz 170),
sind dem in dieser Vorschrift ausdrücklich geregelten Fall,
dass eine Steuer wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist nicht mehr
festgesetzt werden kann, andersartige Hindernisse gleichzusetzen,
die - wie vorliegend eine Berufung auf Vertrauensschutz - einer
Festsetzung gegen den Organträger als Steuerschuldner
dauerhaft entgegenstehen. Denn könnte der Organträger -
ohne Antragserfordernis - bei seiner Besteuerung eine Beurteilung
entsprechend der alten, aufgegebenen Rechtsprechung verlangen,
würde die auf die Umsätze der Organgesellschaft
geschuldete Steuer bei ihm nicht festgesetzt, so dass es bei einer
- wie vorliegend dargelegt - zu bejahenden Anwendung von § 191
Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AO nicht zum Erlass eines Haftungsbescheids
gegen die Organgesellschaft - in Bezug auf deren Umsätze -
kommen könnte.
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c) Auch unter Berücksichtigung neuerer
EuGH-Rechtsprechung steht das Antragserfordernis im Einklang mit
dem Unionsrecht, selbst wenn man es nicht lediglich am
Maßstab der Äquivalenz und Effektivität (hierzu
BFH-Urteil vom 16.03.2023 - V R 14/21 (V R 45/19), BFHE 280, 89 =
SIS 23 05 84, Rz 27) misst.
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aa) Das Antragserfordernis dient der Umsetzung
von Art. 11 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006
über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL), der
verlangt, dass die mitgliedstaatliche Umsetzungsregelung einen
einzigen Steuerpflichtigen vorsieht (EuGH-Urteil Finanzamt T II vom
11.07.2024 - C-184/23, EU:C:2024:599 = SIS 24 12 81, Rz 39). Durch das
Antragserfordernis werden ferner Haftungslücken bei der
Anwendung von § 73 AO geschlossen, so dass die im Widerspruch
zu Art. 11 MwStSystRL stehende Gefahr von Steuerverlusten vermieden
wird (BFH-Urteile vom 18.01.2023 - XI R 29/22 (XI R 16/18), BFHE
279, 320 = SIS 23 04 64, Rz 28; vom 16.03.2023 - V R 14/21 (V R
45/19), BFHE 280, 89 = SIS 23 05 84, Rz 28).
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bb) Das Antragserfordernis verstößt
auch nicht in anderer Hinsicht gegen Unionsrecht. Denn das Verbot
des Rechtsmissbrauchs, dessen Ausprägung das Verbot
widersprüchlichen Verhaltens ist, stellt einen allgemeinen
Grundsatz des Unionsrechts dar (EuGH-Urteile Kofoed vom 05.07.2007
- C-321/05, EU:C:2007:408 = SIS 07 28 59, Rz 38; N Luxembourg 1 u.a. vom 26.02.2019 - C-115/16,
C-118/16, C-119/16, C-299/16, EU:C:2019:134 = SIS 19 01 84, Rz 111) und ist im
Mehrwertsteuerrecht als Auslegungsgrundsatz anerkannt (vgl.
EuGH-Urteil Halifax u.a. vom 21.02.2006 - C-255/02, EU:C:2006:121 =
SIS 06 12 87, Rz 85; vgl.
EuGH-Urteil N Luxembourg 1 u.a. vom 26.02.2019 - C-115/16,
C-118/16, C-119/16, C-299/16, EU:C:2019:134 = SIS 19 01 84, Rz 111).
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24
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d) Entgegen der Auffassung der Klägerin
gilt dies nicht nur für den Fall, dass die KG - wie im
BFH-Urteil vom 16.03.2023 - V R 14/21 (V R 45/19) (BFHE 280, 89 =
SIS 23 05 84) - einen Änderungsantrag nach § 164 Abs. 2
AO stellt, sondern auch für die - hier gegebene - Anfechtung
einer Steuerfestsetzung. Dass Organträger und
Organgesellschaft nicht beanspruchen können, im selben
Besteuerungszeitraum für den einen Unternehmensteil (hier:
Organträger) auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung
und für den anderen Unternehmensteil (hier: Organgesellschaft)
nach der geänderten Rechtsprechung besteuert zu werden, folgt
aus der materiell-rechtlichen Auslegung des § 2 Abs. 2 Nr. 2
UStG und der dabei erforderlichen Berücksichtigung des
Grundsatzes von Treu und Glauben, so dass es auf die
verfahrensrechtliche Unterscheidung, ob der Steuerbescheid aufgrund
eines Einspruchs oder aufgrund eines Änderungsantrags zu
überprüfen ist, unerheblich ist.
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25
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Soweit die Klägerin weiter darauf
verweist, dass es nicht darauf ankommen könne, dass sie
„andere zu irgendwelchen Anträgen
motivieren“ müsse, lässt sie
außer Betracht, dass bei der von ihr bejahten Anwendung von
§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG nur ein Steuerrechtsverhältnis zum
Organträger als Steuerschuldner besteht und die
Organgesellschaft Bestandteil dieses Steuerrechtsverhältnisses
ist (BFH-Urteil vom 16.03.2023 - V R 14/21 (V R 45/19), BFHE 280,
89 = SIS 23 05 84, Rz 23).
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3. Die weiteren Einwendungen der Klägerin
greifen nicht durch.
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a) Das BFH-Urteil vom 17.01.1995 - VII R 28/94
(BFH/NV 1995, 580, unter 1.) zur Verpflichtung der Anpassung von
Umsatzsteuerbescheiden an eine nachträglich erkannte
Organschaft betrifft den Fall, dass die Organschaft aus
tatsächlichen Gründen verkannt wurde, während das
Antragserfordernis entsprechend dem BFH-Urteil vom 16.03.2023 - V R
14/21 (V R 45/19) (BFHE 280, 89 = SIS 23 05 84) auf den
Besonderheiten beruht, die sich aus der Anwendung von § 176
Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO auf Organschaften ergeben.
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28
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b) Aus dem Antragserfordernis entsprechend dem
BFH-Urteil vom 16.03.2023 - V R 14/21 (V R 45/19) (BFHE 280, 89 =
SIS 23 05 84) folgt - entgegen der Auffassung der Klägerin -
keine Ungleichbehandlung zwischen Kapitalgesellschaften und
Personengesellschaften, da das Antragserfordernis
gleichermaßen für Rechtsprechungsänderungen gilt,
die sich auf die Voraussetzungen der Organschaft zwischen
Kapitalgesellschaften (vgl. BFH-Urteil vom 01.12.2010 - XI R 43/08,
BFHE 232, 550, BStBl II 2011, 600 = SIS 11 09 25 zur mittelbaren
finanziellen Eingliederung einer GmbH) beziehen.
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c) Zu keiner anderen Beurteilung führt
schließlich der Einwand der Klägerin, dass das
Antragserfordernis für sie nicht erkennbar gewesen sei. So
ergibt sich das Antragserfordernis aus einer Berücksichtigung
von Treu und Glauben im Anwendungsbereich des § 176 AO und
geht damit auf das BFH-Urteil vom 08.02.1995 - I R 127/93 (BFHE
177, 332, BStBl II 1995, 764 = SIS 95 16 51, unter II.C.4.) - einer
vor dem Streitjahr ergangenen Rechtsprechung - zurück. Zudem
hat sich die Rechtsposition der Klägerin im Vergleich zur
früheren Auslegung von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG nicht zu
ihren Ungunsten verändert. Nach der früheren
höchstrichterlichen Rechtsprechung konnte die Klägerin
mangels finanzieller Eingliederung in die TL-GmbH keine
Organgesellschaft sein, so dass sie auf dieser Grundlage - bei
Abgabe der Jahressteuererklärung für das Streitjahr -
zutreffend davon ausging, ihre Umsätze selbst versteuern zu
müssen. Erst die geänderte Rechtsprechung eröffnete
der Klägerin die Möglichkeit, eine für sie
günstigere Rechtsposition zu erlangen. Dass sich der BFH im
Urteil vom 16.03.2023 - V R 14/21 (V R 45/19) (BFHE 280, 89 = SIS 23 05 84) nicht nur dieser Rechtsprechung angeschlossen, sondern
gleichzeitig die Änderung einer Steuerfestsetzung
gegenüber einem (vermeintlichen) Steuerschuldner, der bis
dahin die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG als
Organgesellschaft nicht erfüllen konnte, davon abhängig
gemacht hat, dass der Organträger einen zu seinen Lasten
wirkenden Antrag auf Änderung der gegenüber ihm
ergangenen Steuerfestsetzung stellt, ändert nichts daran, dass
die Beurteilungsmöglichkeiten der Klägerin durch die
Änderung der Rechtsprechung unter den mit der Neubeurteilung
verbundenen Bedingungen im Ergebnis erweitert wurden.
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4. Die Sache ist nicht spruchreif.
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a) Für die Aufhebung der gegenüber
der Klägerin ergangenen Steuerfestsetzung, die mit einer
geänderten BFH-Rechtsprechung begründet wird, nach der
ein Mehrheitsgesellschafter geltend machen kann, dass er
Organträger auch in Bezug auf eine Tochter-KG als
Organgesellschaft ist, ohne dass dabei die Verhältnisse in
Bezug auf die Mitgesellschafter bei der KG zu betrachten sind
(BFH-Urteile vom 19.01.2016 - XI R 38/12, BFHE 252, 516, BStBl II
2017, 567 = SIS 16 04 58, Leitsatz 3 und vom 01.06.2016 - XI R
17/11, BFHE 254, 164, BStBl II 2017, 581 = SIS 16 14 50, Leitsatz
2), kommt es auf einen Antrag der Beigeladenen auf Änderung
der für die TL-GmbH vorliegenden Steuerfestsetzung an. Hierzu
hat das FG keine Feststellungen getroffen, die in einem zweiten
Rechtsgang nachzuholen sind.
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b) Für das Verfahren im zweiten
Rechtsgang weist der Senat ergänzend auf Folgendes hin:
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aa) Das FG konnte zutreffend davon ausgehen,
dass es für die Frage, ob eine KG als Organgesellschaft eines
Organträgers anzusehen ist, nicht darauf ankommt, ob die
Personen, die neben dem Organträger Gesellschafter der KG
sind, finanziell in den Organträger eingliedert sind. Soweit
der Senat dies für erforderlich gehalten hat (BFH-Urteil vom
02.12.2015 - V R 25/13, BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547 = SIS 16 00 91, Leitsatz), hat er diese Rechtsprechung aufgegeben
(BFH-Urteil vom 16.03.2023 - V R 14/21 (V R 45/19), BFHE 280, 89 =
SIS 23 05 84, Leitsatz 1).
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bb) Einer weitergehenden Prüfung im
zweiten Rechtsgang bedarf hingegen das Vorhandensein einer
wirtschaftlichen Eingliederung und hierbei insbesondere die Frage,
ob mehr als nur unerhebliche Beziehungen zwischen den
Unternehmensbereichen vorlagen (BFH-Urteil vom 01.02.2022 - V R
23/21, BFHE 276, 362, BStBl II 2023, 148 = SIS 22 15 86, Leitsatz
1). Hierzu fehlen bislang hinreichende Feststellungen.
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5. Ein Vorabentscheidungsersuchen
gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise
der Europäischen Union ist nicht veranlasst (vgl. zu den
Voraussetzungen EuGH-Urteile CILFIT u.a. vom 06.10.1982 - C-283/81,
EU:C:1982:335, Rz 21 und Consorzio Italian Management und Catania
Multiservizi vom 06.10.2021 - C-561/19, EU:C:2021:799, Rz 66).
Für den Senat steht - wie dargelegt - zweifelsfrei fest, dass
das Erfordernis einer Antragstellung durch den Organträger im
Einklang mit dem Unionsrecht steht.
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6. Die Übertragung der Kostenentscheidung
auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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