Auf die Revision des Klägers wird das
Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 16.06.2021 - 5 K
2710/17 U = SIS 21 14 75
aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht
Düsseldorf zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die
Kosten des Verfahrens übertragen.
1
|
I. Die Beteiligten streiten über die
Frage, inwieweit autologe Haarwurzeltransplantationen bei Patienten
mit Alopezie (Haarausfall) umsatzsteuerbefreit sind.
|
|
|
2
|
Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) ist niedergelassener Facharzt für Chirurgie. Er
betreibt eine Praxis, die sich auf die Behandlung von Haarausfall
spezialisiert hat. Seine ärztliche Tätigkeit besteht
darin, die Patienten zunächst dahingehend zu untersuchen,
welche Erscheinungsform des Haarausfalls vorliegt. Bei
androgenetischer, hereditärer und vernarbender Alopezie
beiderlei Geschlechts nimmt er anschließend Transplantationen
patienteneigener Haarwurzeln vor.
|
|
|
3
|
Für die Jahre 2010 bis 2012
(Streitjahre) erklärte der Kläger im Anschluss an eine
tatsächliche Verständigung für die
Besteuerungszeiträume bis einschließlich 2009 in den
abgegebenen Umsatzsteuererklärungen, die Steuerfestsetzungen
unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichstanden (§ 168
der Abgabenordnung), 90 % seiner Umsätze als steuerfrei; es
handele sich um Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin im
Sinne des § 4 Nr. 14 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes
(UStG), die er in Ausübung seiner Tätigkeit als Arzt
durchgeführt habe.
|
|
|
4
|
Nach einer Außenprüfung nahm der
Prüfer an, dass die vom Kläger in den Streitjahren
erbrachten Haarverpflanzungen nur insoweit steuerfrei seien, als
sie auf Patienten mit sogenannter narbiger Alopezie entfielen. Nur
insoweit sei eine Krankheit im Sinne des § 27 Satz 1 Nr. 1 des
Fünften Buches Sozialgesetzbuch ersichtlich. Die übrigen
Umsätze seien hingegen steuerpflichtig. Eine ärztliche
Heilbehandlung sei insoweit nicht gegeben.
|
|
|
5
|
Dem folgte der Beklagte und
Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) in den
Umsatzsteuerbescheiden für 2010 vom 24.11.2014, für 2011
vom 05.12.2014 und für 2012 vom 26.11.2014. Es erhöhte
die Umsatzsteuer entsprechend.
|
|
|
6
|
Hiergegen legte der Kläger jeweils
Einspruch ein. Er machte unter Vorlage von Gutachten,
Behandlungsrichtlinien und medizinischer Fachliteratur geltend, die
Transplantationen seien medizinisch indiziert, dienten der
Behandlung oder Vorbeugung von Krankheiten oder anderen
Gesundheitsstörungen und verfolgten einen therapeutischen
Zweck. Die androgenetische Alopezie werde durch pathologische
Abweichungen im Sexualhormonstoffwechsel oder durch
immunpathologische Vorgänge verursacht; sie gehe mit
bestimmten Begleiterkrankungen einher. Eine Indikation zur
Haarwurzeltransplantation im Sinne einer Heilbehandlung hänge
von der Ausprägung und der Lokalisation der androgenetischen
Alopezie ab. Bei Männern sei eine Indikation zu bejahen
für die Ausprägungen M3, C2-3, V3 sowie U1-3 nach der
sogenannten BASP-Klassifikation, bei Frauen mit den
Ausprägungen I-III nach der sogenannten Ludwig-Klassifikation
beziehungsweise F1-3 nach der BASP-Klassifikation. Soweit eine
medizinische Indikation vorliege, seien die Umsätze
steuerfrei.
|
|
|
7
|
Im Laufe des Einspruchsverfahrens
erließ das FA am 06.03.2015 aus hier nicht streitigen
Gründen Umsatzsteuer-Änderungsbescheide für die
Jahre 2011 und 2012, die zu keiner Änderung der
Steuerfestsetzung führten.
|
|
|
8
|
Mit Einspruchsentscheidung vom 22.09.2017
wies das FA die Einsprüche als unbegründet zurück.
Es führte im Wesentlichen aus: Eine Steuerbefreiung komme -
über die vernarbende Alopezie hinaus - nur insoweit in
Betracht, als die medizinische Indikation im Einzelfall
nachgewiesen werde. Dies sei schon mangels Vorlage anonymisierter
Patientenakten nicht geschehen. Es sei davon auszugehen, dass die
Transplantationen kosmetischen Zwecken gedient hätten. Die
bloße Aufstellung der Behandlungsfälle, in denen der
Kläger selbst die medizinische Notwendigkeit der
Haarwurzeltransplantationen bescheinige, reiche als Nachweis nicht
aus. Den Entscheidungen des behandelnden Arztes komme keine
Bindungswirkung für das Besteuerungsverfahren zu. Soweit die
Maßnahme auf den Schutz und die Prävention von
Erkrankungen der Kopfhaut abziele, könne dies auch durch
andere Maßnahmen erreicht werden, die weniger kostenintensiv
seien.
|
|
|
9
|
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit
seinem in EFG 2021, 1680 = SIS 21 14 75 veröffentlichten Urteil nur zu einem geringen Teil
statt, indem es die Diagnosetätigkeit des Klägers als
steuerfrei ansah; im Übrigen wies es die Klage ab. Das FG
ließ dabei offen, ob es sich bei der androgenetischen
Alopezie um eine Krankheit oder um einen körperlichen Mangel
handele. Denn es fehle der Haarwurzeltransplantation jedenfalls an
einer therapeutischen Zielsetzung, weil sie weder der Heilung noch
der Behandlung der Ursachen der androgenetischen Alopezie diene.
Der Auffassung, dass es sich um eine rekonstruktive Maßnahme
handele, die dazu führe, dass eine erneute und dauerhafte
Abdeckung der Kopfhaut erfolge, folge das FG nicht. Die
Behandlungen hätten in erster Linie zu einem
kosmetisch-ästhetischen Ergebnis geführt. Allenfalls
nachrangig, nicht als Hauptzweck, könne ihnen eine gewisse
vorbeugende Funktion zum Schutz der Kopfhaut zugemessen
werden.
|
|
|
10
|
Jenseits des pauschalen Abstellens auf den
Grad der Ausprägung des Haarausfalls habe der Kläger
weder dargelegt noch nachgewiesen, dass die Behandlungen im
jeweiligen Einzelfall medizinisch erforderlich gewesen seien. Die
Ausführungen zur androgenetischen Alopezie gälten auch
für die hereditäre Alopezie. Auch bei ihr werde durch die
Haarwurzeltransplantation weder auf die Ursachen des Haarausfalls
eingewirkt noch liege der Hauptzweck der Maßnahme im Schutz
der Gesundheit.
|
|
|
11
|
Mit der Revision rügt der Kläger
die Verletzung materiellen und formellen Rechts.
|
|
|
12
|
Er bringt im Wesentlichen vor, das FG habe
zu Unrecht angenommen, eine Behandlung im Sinne von § 4 Nr. 14
Buchst. a Satz 1 UStG und Art. 132 Nr. 1 Buchst. b und c der
Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das
gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) setze voraus, dass auf
die Ursachen einer Krankheit eingewirkt werde. Ausreichend sei es,
wenn die Krankheitsfolgen durch Linderung von Schmerzen und
Beschwerden abgeschwächt oder körperliche Mängel
umgangen oder kompensiert würden. Dies sei im Streitfall zu
bejahen. Die natürliche Funktion der Kopfhaut werde bei der
androgenetischen Alopezie wiederhergestellt, bei der
hereditären erstmals herbeigeführt.
|
|
|
13
|
Das FG sei außerdem von der
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH)
abgewichen. So habe es angenommen, dass das Hauptziel und der
Hauptzweck der Maßnahme im Schutz der Gesundheit liegen
müsse. Dem Urteil des EuGH PFC Clinic vom 21.03.2013 -
C-91/12, EU:C:2013:198 = SIS 13 11 68 sei aber zu entnehmen, dass eine Steuerbefreiung nur dann
ausscheide, wenn der Eingriff zu rein kosmetischen Zwecken erfolge.
Soweit dies, wie im Streitfall, zu verneinen sei, müsse von
einer Heilbehandlung ausgegangen werden. Wollte man - wie das FG -
zusätzlich auf ein bestimmtes Ausmaß der therapeutischen
Zielsetzung oder auf einen vorrangigen Zweck der Maßnahme
abstellen, so wäre eine Vorlage der Rechtsfrage an den EuGH
geboten.
|
|
|
14
|
Der Kläger beantragt, die
Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung an das FG Düsseldorf
zurückzuverweisen.
|
|
|
15
|
Das FA beantragt, die Revision als
unbegründet zurückzuweisen.
|
|
|
16
|
II. Die Revision ist begründet; sie
führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur
Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
|
|
|
17
|
Das FG hat zwar zu Recht entschieden, dass die
Diagnosetätigkeit des Klägers steuerfrei ist. Es hat
jedoch zu Unrecht den Transplantationen pauschal den
therapeutischen Zweck abgesprochen und nicht hinreichend
geprüft, inwieweit es sich bei den verschiedenen vom
Kläger behandelten Formen des Haarausfalls um einen
behandlungsbedürftigen Zustand handelt.
|
|
|
18
|
1. Nach § 4 Nr. 14 Buchst. a Satz 1 UStG
umsatzsteuerfrei sind Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin,
die im Rahmen der Ausübung der Tätigkeit als Arzt,
Zahnarzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut, Hebamme oder einer
ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit durchgeführt
werden. Unionsrechtlich beruht dies auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. c
MwStSystRL. Danach sind Heilbehandlungen im Bereich der
Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem
betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und
arztähnlichen Berufe durchgeführt werden, steuerfrei.
§ 4 Nr. 14 Buchst. a Satz 1 UStG ist im Lichte des Art. 132
Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL unionsrechtskonform auszulegen (vgl.
z.B. Senatsbeschluss vom 11.10.2017 - XI R 23/15, BFHE 259, 567,
BStBl II 2018, 109 = SIS 17 22 19, Rz 24 f., m.w.N.), wozu auch
weiterhin die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 13 Teil A Abs. 1
Buchst. c der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom
17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern herangezogen werden
kann (vgl. EuGH-Urteile Future Health Technologies vom 10.06.2010 -
C-86/09, EU:C:2010:334 = SIS 10 26 07, Rz 27; Peters vom 18.09.2019 - C-700/17, EU:C:2019:753 =
SIS 19 15 33, Rz 18).
|
|
|
19
|
a) Der autonome unionsrechtliche Begriff
„Heilbehandlung(en) im Bereich der
Humanmedizin“ (vgl. EuGH-Urteile
Unterpertinger vom 20.11.2003 - C-212/01, EU:C:2003:625 =
SIS 04 01 34, Rz 35;
D’Ambrumenil und Dispute Resolution Services vom
20.11.2003 - C-307/01, EU:C:2003:627 = SIS 04 01 35, Rz 53) erfasst Leistungen, die
der Diagnose, der Behandlung und, soweit möglich, der Heilung
von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen dienen (vgl. z.B.
EuGH-Urteile Peters vom 18.09.2019 - C-700/17, EU:C:2019:753 =
SIS 19 15 33, Rz 20; X-GmbH vom
05.03.2020 - C-48/19, EU:C:2020:169 = SIS 20 02 75, Rz 28). Eine Heilbehandlung in diesem Sinne
erfordert einen therapeutischen Zweck (vgl. EuGH-Urteil
Frenetikexito vom 04.03.2021 - C-581/19, EU:C:2021:167 =
SIS 21 03 52, Rz 25, m.w.N.).
Daraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, dass die
therapeutische Zielsetzung einer Leistung in einem besonders engen
Sinne zu verstehen ist; so fallen medizinische Leistungen, die zum
Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung oder
Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit erbracht werden,
unter die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL vorgesehene
Steuerbefreiung (vgl. z.B. EuGH-Urteile Future Health Technologies
vom 10.06.2010 - C-86/09, EU:C:2010:334 = SIS 10 26 07, Rz 41 f.; PFC Clinic vom
21.03.2013 - C-91/12, EU:C:2013:198 = SIS 13 11 68, Rz 27; X-GmbH vom 05.03.2020 - C-48/19,
EU:C:2020:169 = SIS 20 02 75, Rz
29). Der Begriff des therapeutischen Zwecks ist unter
Berücksichtigung des Zwecks der Steuerbefreiung auszulegen,
der darin besteht, die Kosten ärztlicher Heilbehandlungen zu
senken (EuGH-Urteile Kommission/Frankreich vom 11.01.2001 -
C-76/99, EU:C:2001:12 = SIS 01 05 41, Rz 23; Unterpertinger vom 20.11.2003 - C-212/01,
EU:C:2003:625 = SIS 04 01 34, Rz
40; D’Ambrumenil und Dispute Resolution Services
vom 20.11.2003 - C-307/01, EU:C:2003:627 = SIS 04 01 35, Rz 58; L.u.P. vom 08.06.2006 -
C-106/05, EU:C:2006:380 = SIS 06 29 72, Rz 29; CopyGene vom 10.06.2010 - C-262/08, EU:C:2010:328
= SIS 10 26 08, Rz 29; Verigen
Transplantation Service International vom 18.11.2010 - C-156/09,
EU:C:2010:695 = SIS 10 39 09, Rz
24, 27; PFC Clinic vom 21.03.2013 - C-91/12, EU:C:2013:198 =
SIS 13 11 68, Rz 26; BFH-Urteile
vom 18.08.2011 - V R 27/10, BFHE 235, 58 = SIS 11 34 08, Rz 21; vom
19.03.2015 - V R 60/14, BFHE 249, 562, BStBl II 2015, 946 = SIS 15 10 21, Rz 13; BFH-Beschlüsse vom 11.10.2017 - XI R 23/15, BFHE
259, 567, BStBl II 2018, 109 = SIS 17 22 19, Rz 27; vom 27.02.2018
- XI B 97/17, BFH/NV 2018, 738 = SIS 18 08 48, Rz 11).
|
|
|
20
|
b) Dagegen sind Leistungen, die zu einem
anderen Zweck als dem der Diagnose, der Behandlung und, soweit
möglich, der Heilung von Krankheiten oder
Gesundheitsstörungen durchgeführt werden und keinem
solchen therapeutischen Ziel dienen, keine Heilbehandlungen (vgl.
EuGH-Urteil D. vom 14.09.2000 - C-384/98, EU:C:2000:444 =
SIS 00 13 96, Rz 18 f.;
BFH-Urteile vom 15.07.2004 - V R 27/03, BFHE 206, 471, BStBl II
2004, 862 = SIS 04 35 29, unter II.c; vom 30.06.2005 - V R 1/02,
BFHE 210, 188, BStBl II 2005, 675 = SIS 05 36 35, unter II.a). Das
gilt insbesondere für Leistungen, die lediglich den
allgemeinen Gesundheitszustand verbessern oder das allgemeine
Wohlbefinden steigern sollen (vgl. BFH-Urteile vom 26.09.2007 - V R
54/05, BFHE 219, 241, BStBl II 2008, 262 = SIS 08 01 99, unter
II.2.; vom 30.01.2008 - XI R 53/06, BFHE 221, 399, BStBl II 2008,
647 = SIS 08 20 22, unter II.2.a bb).
|
|
|
21
|
2. Hiervon ausgehend hat das FG zu Unrecht
entschieden, eine Haartransplantation habe keinen therapeutischen
Zweck.
|
|
|
22
|
a) Das FG hat angenommen, dass es an einem
therapeutischen Zweck der Transplantationen fehle, weil sie weder der Heilung noch
der Behandlung der Ursachen der Alopezie dienten. Die
androgenetische Ausprägung werde durch eine Störung des
Androgenstoffwechsels verursacht, die zu einer lokalen
Anhäufung von Dihydrotestosteron führe, gegen die
wiederum die terminalen Haarfollikel empfindlich seien. Daneben
spielten andere, androgenunabhängige und weitgehend unbekannte
Faktoren eine Rolle. Die Transplantation greife in diesen
immunpathologischen Vorgang nicht ein; sie halte auch den weiteren
Fortschritt des Haarausfalls nicht auf. Für die
hereditäre Alopezie gelte Entsprechendes, auch hier werde mit
einer Transplantation auf die Ursachen des Haarausfalls nicht
eingewirkt.
|
|
|
23
|
b) Damit hat das FG ein zu enges
Verständnis des therapeutischen Zwecks zugrunde gelegt.
Aufgrund der Ausführungen unter II.1.a kann ein
therapeutischer Zweck im umsatzsteuerrechtlichen Sinne auch dann
vorliegen, wenn nicht auf die Ursachen einer Krankheit eingewirkt
wird. So kann zum Beispiel nach der Rechtsprechung des BFH eine
Fruchtbarkeitsbehandlung einem therapeutischen Zweck dienen, obwohl
sie die Unfruchtbarkeit nicht heilt (BFH-Urteile vom 07.07.2022 - V
R 10/20, BFHE 276, 445 = SIS 22 17 08, Rz 11 f.; vom 29.07.2015 -
XI R 23/13, BFHE 251, 86, BStBl II 2017, 733 = SIS 15 20 47, Rz 24
ff.). Gleiches gilt für andere Maßnahmen, die eine
Krankheit zwar nicht heilen, aber die damit verbundenen Mängel
ausgleichen (vgl. BFH-Urteil vom 16.12.2010 - VI R 43/10, BFHE 232,
179, BStBl II 2011, 414 = SIS 11 05 55, Rz 13). Daher hat zum
Beispiel die Ersetzung oder Wiederherstellung eines von Geburt an
fehlenden oder im Laufe des Lebens verlorengegangenen Teils des
menschlichen Körpers nach Auffassung des Senats einen
therapeutischen Zweck, wenn und soweit der sich aus dem Fehlen
ergebende Zustand behandlungsbedürftig (das heißt eine
Krankheit oder sonstige Gesundheitsstörung) ist. Hingegen
können fehlende oder verlorengegangene Teile des Körpers
nicht umsatzsteuerfrei ersetzt werden, wenn ihr Fehlen oder Verlust
keinen Krankheitswert aufweist und auch nicht zu (gegebenenfalls
auch psychischen) Folgeerkrankungen führt, weil dann die
Maßnahme kosmetischen Zwecken dient.
|
|
|
24
|
3. Da das FG somit von falschen
Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist, ist sein Urteil aufzuheben.
Die Sache ist indes nicht spruchreif; der Senat vermag den
Streitfall auf Grundlage der bisherigen tatsächlichen
Feststellungen im angefochtenen Urteil nicht abschließend zu
entscheiden. Das FG hat nicht festgestellt, in welchem Umfang der
Kläger in den Streitjahren Patienten behandelt hat, bei denen
der Alopezie Krankheitswert zukommt.
|
|
|
25
|
a) Ästhetische Behandlungen wie
Haartransplantationen kommen als steuerfreie Heilbehandlungen in
Betracht, wenn die Leistungen dazu dienen, Personen zu behandeln
oder zu heilen, bei denen aufgrund einer Krankheit, Verletzung oder
eines angeborenen körperlichen Mangels ein Eingriff
ästhetischer Natur erforderlich ist (EuGH-Urteil PFC Clinic
vom 21.03.2013 - C-91/12, EU:C:2013:198 = SIS 13 11 68, Rz 29; vgl. auch BFH-Urteil vom
04.12.2014 - V R 33/12, BFHE 248, 424 = SIS 15 03 40, Rz 14). Die
gesundheitlichen Probleme, die zu einer steuerfreien Heilbehandlung
führen, können auch psychologischer Art sein (EuGH-Urteil
PFC Clinic vom 21.03.2013 - C-91/12, EU:C:2013:198 = SIS 13 11 68, Rz 33). Erfolgt der Eingriff
jedoch zu rein kosmetischen Zwecken, reicht dies nicht aus
(EuGH-Urteil PFC Clinic vom 21.03.2013 - C-91/12, EU:C:2013:198 =
SIS 13 11 68, Rz 29).
|
|
|
26
|
b) Bei ästhetischen Behandlungen, die -
wie die Haartransplantationen des Klägers - sowohl
Heilbehandlungszwecken als auch bloß kosmetischen Zwecken
oder der Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands dienen
können und insofern einem Grenzbereich zuzuordnen sind, liegt
- anders als der Kläger wohl meint - nicht in jedem Fall eine
Heilbehandlung vor, sondern es kommt auf eine Prüfung anhand
der Umstände des Einzelfalls an (vgl. BFH-Urteile vom
01.10.2014 - XI R 13/14, BFHE 248, 367 = SIS 15 00 64, Rz 29 f.; vom 04.12.2014 - V R
33/12, BFHE 248, 424 = SIS 15 03 40, Rz 15; BFH-Beschlüsse vom
06.06.2008 - XI B 11/08, BFH/NV 2008, 1547 = SIS 08 32 31; vom
29.10.2013 - V B 58/13, BFH/NV 2014, 192 = SIS 14 00 46; vom
11.12.2014 - XI B 49/14, BFH/NV 2015, 363 = SIS 15 01 52, Rz 8; vom
27.02.2018 - XI B 97/17, BFH/NV 2018, 738 = SIS 18 08 48, Rz 13).
Da es um die Beurteilung einer medizinischen Frage geht, muss sie
auf medizinischen Feststellungen beruhen, die von dem
entsprechenden Fachpersonal getroffen worden sind (BFH-Beschluss
vom 19.06.2013 - V S 20/13, BFH/NV 2013, 1643 = SIS 13 25 66, Rz
17; BFH-Urteil vom 01.10.2014 - XI R 13/14, BFHE 248, 367 =
SIS 15 00 64, Rz 19). Die rein
subjektive Vorstellung, die der Patient von der Leistung hat, ist
als solche für die Beurteilung nicht maßgeblich
(EuGH-Urteil PFC Clinic vom 21.03.2013 - C-91/12, EU:C:2013:198 =
SIS 13 11 68, Rz 34 f.;
BFH-Beschluss vom 19.06.2013 - V S 20/13, BFH/NV 2013, 1643 = SIS 13 25 66, Rz 17; BFH-Urteile vom 01.10.2014 - XI R 13/14, BFHE 248,
367 = SIS 15 00 64, Rz 19; vom
04.12.2014 - V R 16/12, BFHE 248, 416 = SIS 15 03 39, Rz 12; vom
04.12.2014 - V R 33/12, BFHE 248, 424 = SIS 15 03 40, Rz 14).
|
|
|
27
|
c) Eine Krankheit liegt nach der
ertragsteuerrechtlichen Rechtsprechung des BFH, deren Anwendung auf
den Streitfall unionsrechtliche Erwägungen nicht
entgegenstehen, bei einem anormalen körperlichen, geistigen
oder seelischen Zustand vor, der den Betroffenen in der
Ausübung normaler psychischer oder körperlicher
Funktionen derart beeinträchtigt, dass er nach herrschender
Auffassung einer medizinischen Behandlung bedarf (vgl. BFH-Urteile
vom 18.06.1997 - III R 84/96, BFHE 183, 476, BStBl II 1997, 805 =
SIS 98 03 08, unter II.2.a; vom 10.05.2007 - III R 47/05, BFHE 218,
141, BStBl II 2007, 871 = SIS 07 31 16, unter II.2.; vom 05.07.2012
- III R 80/09, BFHE 238, 76, BStBl II 2012, 816 = SIS 12 25 65, Rz
15; vom 14.04.2015 - VI R 89/13, BFHE 249, 483, BStBl II 2015, 703
= SIS 15 15 84, Rz 10), wobei es im Bereich der Umsatzsteuer nicht
auf die Zwangsläufigkeit von Aufwendungen ankommt, sondern auf
die unter II.3.a und b genannte Abgrenzung.
|
|
|
28
|
d) Alopezie kann daher einen
behandlungsbedürftigen Zustand darstellen, wenn der Verlust
oder Mangel an Haaren bereits für sich betrachtet
Krankheitswert hat (e), objektiv entstellend wirkt (f) oder zu
Folgeerkrankungen führt (g). Derjenige, der sich so auf die
Steuerfreiheit der Umsätze beruft, muss dies in jedem
Einzelfall nachweisen (h).
|
|
|
29
|
e) Der Verlust oder Mangel an Haaren kann,
muss aber nicht für sich betrachtet Krankheitswert haben.
|
|
|
30
|
aa) Der Senat teilt nicht die Auffassung des
Klägers, der Mangel an Haupthaar führe ab einem
bestimmten Grad der Alopezie generell zu einer
Beeinträchtigung von Körperfunktionen, so dass in diesen
Fällen stets eine
behandlungsbedürftige Krankheit oder
Gesundheitsstörung vorliege. Soweit der Kläger dazu
anführt, dass die fehlenden Haare nicht mehr als
natürlicher Schutz vor Sonne, Kälte und Hitze zur
Verfügung stünden, reicht dies nicht aus; denn auch
andere Teile des Körpers sind nicht behaart und müssen
deshalb vor Sonne, Kälte und Hitze geschützt werden, ohne
dass deshalb ein behandlungsbedürftiger Zustand vorläge.
Der Umstand, dass es sich bei Alopezie nach der
„International Classification of Diseases
(ICD)“ der Weltgesundheitsorganisation um eine
Krankheit handeln mag, ändert daran nach der Rechtsprechung
des BFH nichts (ausführlich Beschlüsse vom 18.02.2008 - V
B 35/06, BFH/NV 2008, 1001 = SIS 08 21 45, unter II.4.a bb; vom
01.07.2010 - V B 62/09, BFH/NV 2010, 2136 = SIS 10 32 75, Rz 13;
vom 24.10.2011 - XI B 54/11, BFH/NV 2012, 279 = SIS 12 00 83, Rz
13). Um eine behandlungsbedürftige Krankheit oder
Gesundheitsstörung annehmen zu können, muss das Fehlen
der Haare vielmehr als anormaler Zustand anzusehen sein, der den
Betroffenen derart beeinträchtigt, dass er nach herrschender
Auffassung einer medizinischen Behandlung bedarf.
|
|
|
31
|
bb) Ausgehend davon stellt die hereditäre
Alopezie nach Auffassung des Senats typischerweise einen
behandlungsbedürftigen Zustand dar. Menschen, die darunter
leiden, mangelt es nach den tatsächlichen Feststellungen des
FG bereits ab ihrer Geburt an Haaren, was sich im Laufe des Lebens
teilweise verstärkt. Dies weicht ersichtlich vom Normalzustand
ab. Der Senat geht daher davon aus, dass in solchen Fällen
eine tatsächliche Vermutung dafür besteht, dass eine
Behandlungsbedürftigkeit zu bejahen ist. Mögliche
Ausnahmen hiervon wären gegebenenfalls in Bezug auf den
jeweiligen Patienten von der Finanzverwaltung konkret nachzuweisen,
wobei der Steuerpflichtige zur Sachverhaltsaufklärung
heranzuziehen (§ 76 Abs. 1 Satz 2 FGO) und dabei zu beachten
ist, dass es um Umstände geht, die in seiner Sphäre
liegen (vgl. dazu grundlegend BFH-Urteil vom 15.02.1989 - X R
16/86, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462 = SIS 89 15 53).
|
|
|
32
|
cc) Ebenfalls als behandlungsbedürftiger
Zustand ist aus Sicht des Senats die - zwischen den Beteiligten
nicht (mehr) im Streit stehende - vernarbende Alopezie einzuordnen.
Der Grund des Haarausfalls besteht hier in einer Entzündung,
welche die Haarfollikel vernarben und so die Haare ausfallen
lässt. Eine Krankheit ist deshalb ohne Weiteres anzunehmen.
Entsprechendes gilt für Situationen, in denen Unfälle,
Verletzungen oder entzündliche Prozesse im Körper zum
Verlust der Haare geführt haben.
|
|
|
33
|
dd) Im Bereich der androgenetischen Alopezie
hingegen, die kennzeichnet, dass die Haare im Laufe der Jahre bei
Männern im Wesentlichen an Stirn und oberem Hinterkopf und bei
Frauen - wenn auch deutlich seltener - am Scheitel ausfallen, folgt
der Senat der Sichtweise anderer oberster Gerichtshöfe des
Bundes (vgl. etwa Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom
22.04.2015 - B 3 KR 3/14 R, Neue Zeitschrift für Sozialrecht -
NZS - 2015, 662; Urteil des Bundesgerichtshofs vom 26.09.2002 - I
ZR 101/00, Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report
Zivilrecht 2003, 478). Anlagebedingter Haarausfall kann
typischerweise nicht als krankhaft angesehen werden, weil er -
abhängig vom Alter - die Mehrheit der Menschen betrifft und
daher kein anormaler, sondern ein normaler Zustand ist. Ein dem
Alter entsprechendes - wenn mitunter vom Betroffenen auch nicht als
ästhetisch wahrgenommenes - Aussehen ist nicht regelwidrig.
Die Diagnose einer androgenetischen Alopezie rechtfertigt daher
für sich genommen noch nicht die tatsächliche Vermutung,
dass eine therapiebedürftige Krankheit vorliegt. Vielmehr ist
- umgekehrt - tatsächlich zu vermuten, dass eine
Haarverpflanzung in diesen Fällen regelmäßig aus
kosmetischen Zwecken und nicht zur Behandlung einer Krankheit
erfolgt.
|
|
|
34
|
f) Dem Haarverlust kann aber (auch) im Bereich
der androgenetischen Alopezie Krankheitswert beigemessen werden,
soweit er entstellend wirkt (vgl. dazu auch BSG-Urteil vom
22.04.2015 - B 3 KR 3/14 R, NZS 2015, 662). Dies kann sowohl bei
Männern als auch bei Frauen, die von androgenetischer Alopezie
seltener betroffen sind als Männer, wenn auch nicht
gänzlich verschont bleiben, ausnahmsweise zu bejahen sein.
Maßgeblich hierfür sind - als vom FG festzustellende
Tatfrage - die Umstände des jeweiligen Einzelfalls.
|
|
|
35
|
g) Davon unabhängig kann ein
behandlungsbedürftiger Zustand anzunehmen sein, wenn der
Haarausfall bei dem Betroffenen im Einzelfall zu Folgeerkrankungen
- insbesondere zu solchen psychischer Natur - führt.
|
|
|
36
|
h) Das FG wird die zur Einordnung der
Umsätze in diese Kategorien erforderlichen Feststellungen im
zweiten Rechtsgang nachzuholen haben.
|
|
|
37
|
aa) Der Kläger, der sich auf die
Steuerbefreiung beruft, trägt insoweit die Feststellungslast
(vgl. BFH-Urteil vom 01.10.2014 - XI R 13/14, BFHE 248, 367 = SIS 15 00 64, Rz 29 f.; BFH-Beschlüsse vom 11.01.2019 - XI R
29/17, BFH/NV 2019, 440 = SIS 18 22 47, Rz 31; vom 11.12.2014 - XI
B 49/14, BFH/NV 2015, 363 = SIS 15 01 52, Rz 8; vom 27.02.2018 - XI
B 97/17, BFH/NV 2018, 738 = SIS 18 08 48, Rz 13). Er hat, soweit
keine entsprechende tatsächliche Vermutung (II.3.e aa bis cc)
besteht, das Vorliegen eines Ausnahmefalls für jeden einzelnen
Patienten durch von medizinischem Fachpersonal zu treffende
Feststellungen zu dokumentieren und nachzuweisen (vgl. schon
EuGH-Urteil PFC Clinic vom 21.03.2013 - C-91/12, EU:C:2013:198 =
SIS 13 11 68, Rz 35; BFH-Urteile
vom 01.10.2014 - XI R 13/14, BFHE 248, 367 = SIS 15 00 64, Rz 19;
vom 04.12.2014 - V R 33/12, BFHE 248, 424 = SIS 15 03 40, Rz
14).
|
|
|
38
|
bb) Der Senat weist in diesem Zusammenhang das
FG und die Beteiligten darauf hin, dass der Kläger zwar als
Arzt zu dem medizinischen Fachpersonal gehört, das
medizinische Feststellungen treffen kann, aber nicht näher
substantiierte, pauschale Erklärungen des behandelnden Arztes,
wie sie bisher vorliegen, jedenfalls im Grenzbereich von
rekonstruktiven Heilbehandlungen und ästhetischen Behandlungen
zu kosmetischen Zwecken nicht genügen; sonst hätte es der
leistende Unternehmer selbst in der Hand, allein mit der
Behauptung, es liege eine Heilbehandlung vor, die sachlichen
Voraussetzungen der Steuerbefreiung nachzuweisen, ohne dass das FA
und das FG dies nachprüfen könnten. Zu verlangen ist
daher eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung, die Angaben
insbesondere dazu enthalten soll, auf welcher tatsächlichen
Grundlage die fachliche Beurteilung erfolgt ist, welche Methode der
Tatsachenerhebung angewandt wurde, wie die fachlich-medizinische
Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose) lautet, welchen
Schweregrad die Erkrankung aufweist und welche (entstellenden oder
psychischen) Folgen sich aus ihr ergeben. Zu beachten ist vom FG
und den Beteiligten dabei auch, dass die Feststellung einer
entstellenden Wirkung oder einer psychischen Erkrankung
typischerweise nicht durch einen Chirurgen (wie den Kläger),
sondern durch einen dafür zuständigen Facharzt
erfolgt.
|
|
|
39
|
4. Da die Revision des Klägers bereits
mit der Sachrüge Erfolg hat, muss der erkennende Senat
über die ebenfalls erhobenen Verfahrensrügen nicht mehr
befinden (vgl. BFH-Urteile vom 23.01.2019 - XI R 15/16, BFHE 263,
543 = SIS 19 03 97, Rz 89; vom 13.12.2023 - VI R 3/22, BFH/NV 2024,
867 = SIS 24 07 35, Rz 65).
|
|
|
40
|
5. Die Übertragung der Kostenentscheidung
auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
|