Die Revision des Beklagten gegen das Urteil
des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 16.02.2022 - 4 K
113/20 = SIS 22 09 90 wird als
unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der
Beklagte zu tragen.
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I. Die Kläger und Revisionsbeklagten
(Kläger) sind zur Einkommensteuer zusammen veranlagte
Eheleute. Während des Streitjahres (2017) übte der
Kläger keine Erwerbstätigkeit aus. Nachdem er bereits im
Jahr 2008 ein Studium an der Fernuniversität in Hagen
erfolgreich abgeschlossen hatte, belegte der Kläger dort ab
dem Wintersemester 2016/2017 einen weiteren Studiengang.
Ausweislich der Studienbescheinigungen war er während des
Streitjahres als „Teilzeitstudent“
eingeschrieben. In einem Beschäftigungsverhältnis stand
der Kläger daneben nicht.
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Die Fernuniversität differenziert auf
ihrer Website wie folgt zwischen Vollzeit- und
Teilzeitstudierenden:
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„Vollzeitstudierende haben eine
entsprechende Hochschulzugangsberechtigung und studieren den
geplanten Studiengang in einem zeitlichen Umfang von etwa 40
Stunden wöchentlich. Dieser Status entspricht dem Status eines
Studierenden an einer Präsenzhochschule und ist Voraussetzung
für die Förderung durch BAföG.
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...
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Teilzeitstudierende sind ebenfalls
Studierende eines Studiengangs ..., studieren aber überwiegend
berufsbegleitend in einem zeitlichen Umfang von etwa 20 Stunden
wöchentlich ...“
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In ihrer Steuererklärung für das
Streitjahr machten die Kläger bei den Einkünften des
Klägers aus nichtselbständiger Arbeit Aufwendungen
für 29 Hin- und Rückfahrten zwischen ihrer Wohnung und
der Fernuniversität in Hagen in Höhe von 4.819,80 EUR als
Werbungskosten geltend. Die Berechnung der Fahrtkosten hatten sie
nach Reisekostengrundsätzen, mithin mit 0,30 EUR je gefahrenem
Kilometer, durchgeführt.
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Der Beklagte und Revisionskläger
(Finanzamt - FA - ) berücksichtigte die Fahrtkosten im
Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr nur unter Anwendung
der Entfernungspauschale gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3
Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von 2.410
EUR, da ein Studium, das - wie im Streitfall - außerhalb
eines Arbeitsverhältnisses erfolge, ein Vollzeitstudium sei
und die Universität deshalb als erste
Tätigkeitsstätte im Sinne des § 9 Abs. 4 Satz 8 EStG
gelte.
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Der nach erfolglosem Einspruch erhobenen
Klage gab das Finanzgericht (FG) statt.
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Mit seiner Revision rügt das FA die
Verletzung materiellen Rechts.
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Es beantragt,
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das angefochtene Urteil des
Niedersächsischen FG vom 16.02.2022 - 4 K 113/20 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
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Die Kläger beantragen,
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die Revision zurückzuweisen.
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II. Die Revision des FA ist unbegründet
und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FG hat zu Recht entschieden,
dass der Kläger die Aufwendungen für seine Fahrten
zwischen der Wohnung und der Fernuniversität in Hagen nicht
nur in Höhe der Entfernungspauschale, sondern nach
Reisekostengrundsätzen als Werbungskosten geltend machen
kann.
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1. Werbungskosten, nämlich Aufwendungen
zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen im Sinne des
§ 9 Abs. 1 Satz 1 EStG liegen vor, wenn sie durch den Beruf
oder durch die Erzielung steuerpflichtiger Einnahmen veranlasst
sind. Sie sind nach ständiger Rechtsprechung beruflich
veranlasst, wenn ein objektiver Zusammenhang mit dem Beruf besteht
und die Aufwendungen subjektiv zur Förderung des Berufs
getätigt werden (z.B. Senatsurteil vom 22.10.2015 - VI R
22/14, BFHE 251, 344, BStBl II 2016, 179 = SIS 15 28 93, Rz 10).
Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Steuerpflichtige
gegenwärtig noch keine Einnahmen erzielt. Dann sind die
Aufwendungen als vorab entstandene Werbungskosten abziehbar, wenn
sie in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren
Veranlassungszusammenhang mit späteren Einnahmen stehen (z.B.
Senatsurteile vom 17.05.2017 - VI R 1/16, BFHE 258, 365, BStBl II
2017, 1073 = SIS 17 15 97, Rz 26 und vom 14.05.2020 - VI R 3/18,
BFHE 269, 486, BStBl II 2021, 302 = SIS 20 19 10, Rz 19).
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a) Aufwendungen des Steuerpflichtigen für
eine zweite Ausbildung (Berufsausbildung oder Studium) sind
regelmäßig beruflich veranlasst (ständige
Rechtsprechung, z.B. Senatsurteile vom 27.10.2011 - VI R 52/10,
BFHE 235, 444, BStBl II 2012, 825 = SIS 11 39 73 und vom 19.09.2012
- VI R 78/10, BFHE 239, 80, BStBl II 2013, 284 = SIS 12 30 62).
Dementsprechend hat der erkennende Senat in ständiger
Rechtsprechung in Bezug auf vorab entstandene Werbungskosten bei
Berufsausbildungskosten entschieden, dass der notwendige
Veranlassungszusammenhang (nur) fehlt, wenn „gleichsam ins
Blaue hinein“ studiert wird (Senatsurteile vom
19.04.1996 - VI R 24/95, BFHE 180, 360, BStBl II 1996, 452 = SIS 96 18 03 und vom 20.07.2006 - VI R 26/05, BFHE 214, 370, BStBl II
2006, 764 = SIS 06 35 00) oder ansonsten private Gründe nicht
ausgeschlossen werden können (Senatsurteil vom 26.01.2005 - VI
R 71/03, BFHE 208, 572, BStBl II 2005, 349 = SIS 05 16 32). Dass
die Aufwendungen zumindest für die eigene Zweitausbildung
regelmäßig nicht auf unbeachtlichen privaten Motiven
gründen, nimmt auch § 9 Abs. 6 EStG zum Ausgangspunkt
(Senatsurteil vom 14.05.2020 - VI R 3/18, BFHE 269, 486, BStBl II
2021, 302 = SIS 20 19 10, Rz 20).
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Demgemäß sind sämtliche
beruflich veranlassten Aufwendungen, die im Rahmen einer
Zweitausbildung (Berufsausbildung oder Studium) anfallen, als
(vorab entstandene) Werbungskosten abziehbar. Hierzu gehören
nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a EStG auch die Fahrtkosten zur
Ausbildungsstätte. Diese sind jedoch nach § 9 Abs. 4 Satz
8 Halbsatz 2 EStG bei vollzeitigen
Bildungsmaßnahmen/Vollzeitstudien auf den Ansatz der
Entfernungspauschale begrenzt.
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b) Nach diesen Grundsätzen sind die vom
Kläger im Rahmen seines Zweitstudiums geltend gemachten
Aufwendungen für 29 Hin- und Rückfahrten zwischen seiner
Wohnung und der Fernuniversität dem Grunde nach beruflich
veranlasste, vorab entstandene Werbungskosten. Dies ist zwischen
den Beteiligten auch nicht streitig.
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2. a) Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3
Nr. 4a Satz 1 und 2 EStG können die Aufwendungen eines
Arbeitnehmers für beruflich veranlasste Fahrten, die nicht
Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte im
Sinne des § 9 Abs. 4 EStG sowie keine Familienheimfahrten
sind, nach Wahl des Steuerpflichtigen in tatsächlicher
Höhe oder mit den pauschalen Kilometersätzen angesetzt
werden, die für das jeweils benutzte Beförderungsmittel
(Fahrzeug) als höchste Wegstreckenentschädigung nach dem
Bundesreisekostengesetz (BRKG) festgesetzt sind. Für die
Benutzung eines Personenkraftwagens liegt diese bei 0,30 EUR
für jeden gefahrenen Kilometer (§ 5 Abs. 2 Satz 1
BRKG).
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b) Aufwendungen für Fahrten zu einer
Bildungseinrichtung, die der Steuerpflichtige außerhalb eines
Dienstverhältnisses zum Zwecke eines Vollzeitstudiums oder
einer vollzeitigen Bildungsmaßnahme aufsucht, können
dagegen nur mit der Entfernungspauschale berücksichtigt
werden, weil die Bildungseinrichtung in diesem Fall
gemäß § 9 Abs. 4 Satz 8 Halbsatz 1 EStG als erste
Tätigkeitsstätte gilt und unter anderem die Regelungen
für Arbeitnehmer nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG
entsprechend anzuwenden sind (§ 9 Abs. 4 Satz 8 Halbsatz 2
EStG).
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aa) Ein Vollzeitstudium liegt - im Gegensatz
zu einem nur in Teilzeit durchgeführten Studium - vor, wenn
das Studium nach der Studienordnung darauf ausgelegt ist, dass sich
die Studierenden diesem - vergleichbar einem vollbeschäftigten
Arbeitnehmer - zeitlich vollumfänglich widmen müssen
(vgl. Senatsurteil vom 14.05.2020 - VI R 24/18, BFHE 269, 89, BStBl
II 2020, 770 = SIS 20 15 11, Rz 13). Davon ist auszugehen, wenn das
Studium nach den Ausbildungsbestimmungen (hier Studienordnungen)
oder der allgemeinen Erfahrung insgesamt etwa 40 Wochenstunden
(Unterricht, Praktika sowie Vor- und Nachbereitung
zusammengenommen) erfordert beziehungsweise im Durchschnitt pro
Semester 30 ECTS-Leistungspunkte (Creditpoints) vergeben werden.
Ist dies der Fall, kann grundsätzlich von einem
Vollzeitstudium ausgegangen werden (vgl. Oberverwaltungsgericht
Lüneburg, Urteil vom 30.03.2023 - 14 LB 81/22, Rz 52 f.,
m.w.N., zu einer Ausbildung im Sinne des § 2 Abs. 5 Satz 1 Nr.
2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, die die
Arbeitskraft des Auszubildenden voll in Anspruch nimmt).
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Ist das Studium nach der jeweiligen
Studienordnung hingegen darauf ausgerichtet, dass die Studierenden
für die Erbringung der vorgeschriebenen Studienleistungen nur
einen Teil ihrer Arbeitszeit aufwenden müssen, liegt ein
Teilzeitstudium vor.
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bb) Ob die Studierenden daneben in einem
Beschäftigungsverhältnis stehen oder anderweitig
erwerbstätig sind, ist für die steuerrechtliche
Einordnung eines Studiums als Teilzeitstudium unerheblich. Die
gegenteilige Auffassung des FA, nach der ein Vollzeitstudium im
Sinne des § 9 Abs. 4 Satz 8 Halbsatz 1 EStG insbesondere
vorliege, wenn der Steuerpflichtige neben dem Teilzeitstudium
keiner Erwerbstätigkeit nachgehe, teilt der Senat nicht. Weder
der Gesetzeswortlaut noch Sinn und Zweck der Regelung oder ihre
Entstehungsgeschichte rechtfertigen es, Voll- und Teilzeitstudium
nicht (allein) nach dem dafür in den Studienordnungen
vorgesehenen Zeitaufwand zu unterscheiden, sondern zusätzlich
darauf abzustellen, ob der Steuerpflichtige neben dem Studium
weitere (Erwerbs-)Tätigkeiten ausübt.
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Die
„zeitunabhängige“ Einordnung eines
Studiums durch das FA steht nicht im Einklang mit dem allgemeinen
Sprachgebrauch. Denn auch nach diesem werden Vollzeit- und
Teilzeitstudium allein nach dem zeitlichen Umfang des Studiums
voneinander unterschieden.
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Die Wortlautauslegung wird auch durch die
Entstehungsgeschichte des Gesetzes sowie dessen Zweck
gestützt. Zwar kann auch ein Teilzeitbeschäftigter eine
erste Tätigkeitsstätte haben und könnte daher mit
einem Teilzeitstudierenden nach Sinn und Zweck des Gesetzes gleich
zu behandeln sein. Ein Teilzeitbeschäftigter unterliegt aber -
anders als ein Teilzeitstudierender - dem Direktionsrecht seines
Arbeitgebers. Im Übrigen gilt für ihn insbesondere §
9 Abs. 4 Satz 4 Nr. 2 EStG. Mit dem dort geregelten Abstellen des
Gesetzgebers auf die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit
bei fehlender Festlegung einer ersten Tätigkeitsstätte
durch den Arbeitgeber wird deutlich, dass dieser auch
Teilzeitbeschäftigungen im Blick hatte. Wenn der Gesetzgeber
dann bei § 9 Abs. 4 Satz 8 EStG ausdrücklich auf ein
Vollzeitstudium/eine vollzeitige Bildungsmaßnahme abstellt,
kann dies nicht zufällig erfolgt sein. Vielmehr ist
anzunehmen, dass der Gesetzgeber den Werbungskostenabzug für
die Fahrtkosten nur im Fall eines Vollzeitstudiums/einer
vollzeitigen Bildungsmaßnahme auf die Entfernungspauschale
begrenzen wollte. Dafür spricht auch, dass der Gesetzgeber
diese Begrenzung im Wege einer Fiktion („gilt
auch“) angeordnet hat und mithin auf den Fall
des Vollzeitstudiums/der vollzeitigen Bildungsmaßnahme
beschränken wollte.
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Der Senat kann dahinstehen lassen, ob, wie das
FA meint, Rz 34 des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen
vom 25.11.2020 (BStBl I 2020, 1228 = SIS 20 19 29) dahin auszulegen
ist, dass ein Vollzeitstudium oder eine vollzeitige
Bildungsmaßnahme nicht vorliegt, wenn der Steuerpflichtige
neben dem Studium oder der Bildungsmaßnahme für einen
Beruf keiner Erwerbstätigkeit nachgeht. Denn hierbei handelt
es sich um eine norminterpretierende Verwaltungsanweisung, an die
weder das FG noch der Bundesfinanzhof (BFH) gebunden sind (vgl.
BFH-Urteil vom 17.07.2024 - XI R 8/21 = SIS 24 15 11, Rz 29, m.w.N.).
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c) Nach diesen Maßstäben hat das FG
zu Recht entschieden, dass die Fernuniversität in Hagen im
Streitjahr nicht als erste Tätigkeitsstätte des
Klägers im Sinne des § 9 Abs. 4 Satz 8 EStG gilt und
seine Fahrtkosten deshalb auch nicht auf die Entfernungspauschale
begrenzt sind.
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Der Kläger hat die Fahrten zur
Fernuniversität in Hagen nicht zum Zwecke eines
Vollzeitstudiums unternommen. Nach den bindenden Feststellungen des
FG (§ 118 Abs. 2 FGO) musste sich der Kläger dem Studium
nicht zeitlich vollumfänglich widmen. Er war lediglich als
Teilzeitstudierender eingeschrieben und studierte nach seinem
Hörerstatus in einem zeitlichen Umfang von etwa 20 Stunden
wöchentlich. Die Tatsache, dass er im Streitjahr keiner
Erwerbstätigkeit nachging, ist - wie oben ausgeführt - im
Hinblick auf den Begriff des Vollzeitstudiums unerheblich.
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Die Anzahl der vom Kläger
durchgeführten Fahrten ist zwischen den Beteiligten nicht
streitig.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135
Abs. 2 FGO.
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